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Die Rolle der Streikenden in der gegenwärtigen Revolution im Iran

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Großer Basar von Teheran, 3. Dezember 2022: Alle Läden sind geschlossen, weil die Händler*innen streiken.
«Während des dreitägigen Generalstreiks im November 2022 konnten die Protestierenden in Iran das Räderwerk der Revolution in einer historisch nahezu einmaligen Geschwindigkeit antreiben. Seit dem 16. November scheint die Flamme dieses Aufstands unauslöschbar.» Großer Basar in Teheran, 3. Dezember 2022: Händler*innen lassen ihre Geschäfte aus Protest geschlossen., picture alliance / NurPhoto | Morteza Nikoubazl

Auch wenn das Mullah-Regime die Schrauben der Repression gegen die eigene Bevölkerung immer weiter anzieht und bereits Todesurteile gegen Demonstrant*innen gefällt und vollstreckt hat, lassen sich die Menschen offenbar nicht länger von der rohen Gewalt der Islamisten einschüchtern. Dabei ist der Widerstand der Iraner*innen ausgesprochen vielschichtig. In den Nachrichten über die anschwellende Revolution kommt eine Dimension des Widerstands jedoch regelmäßig zu kurz: die Streiks. Seit September hat es immer wieder groß angelegte Arbeitsniederlegungen gegeben, zuletzt im Dezember 2022 einen dreitägigen landesweiten Generalstreik, der, so scheint es, von der großen Mehrheit befolgt wurde.

Welche Bedeutung haben diese Streiks für die Proteste, welche Rolle spielen die Arbeiter*innen im Rahmen des Widerstands? Das Woman*-Life-Freedom-Kollektiv geht für uns dieser Frage vor dem Hintergrund der historischen Streikerfahrungen der iranischen Bevölkerung auf den Grund.
 

Wofür streiken Arbeiter*innen in kapitalistisch organisierten Gesellschaften? Karl Marx schreibt in seinen Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie, dass Arbeiter*innenstreiks das Ziel verfolgen, dass die Löhne nicht unter die Reproduktionskosten der Arbeitskraft und der von ihnen abhängigen Menschen fallen. Anders ausgedrückt geht es darum, dass die Arbeiter*innen, ihre Kinder und andere von ihrem Lohn abhängigen Menschen, morgen so weiter leben können wie heute. Der Weg, auf dem in einem Wettbewerbsmarkt die tatsächlichen Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu jedem Moment festgestellt werden können, ist ein ununterbrochener Kampf dafür. Findet dieser Kampf zu einer gewissen Zeit aus irgendeinem Grund nicht statt, fallen die Arbeitslöhne sofort unter die Reproduktionskosten. Arbeiter*innenstreiks, ließe sich dann weiter formulieren, finden also innerhalb der kapitalistischen Logik statt, wodurch sie letztlich nicht zur Überwindung kapitalistischer Herrschaft beitragen können. Marx selbst weist  jedoch darauf hin:

«Da nun die Tendenz der Dinge in diesem System solcher Natur ist, besagt das etwa, daß die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen?»

Marx, Karl: Lohn, Preis und Profit [1865], in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW), Bd. 16, Berlin 1956 ff., S. 151

Marx schreibt weiter, dass der Kampf der Arbeiter*innen nicht nur dieses eine Ziel verfolgen kann und muss. Und die Geschichte zeigt uns: Es ist durchaus möglich, dass der Kampf über dieses Ziel hinausgeht und das System selbst ins Wanken bringt. Ausgehend von diesen Gedanken, beabsichtigen wir mit diesem Artikel, einen Blick auf die aktuellen Streiks im Iran zu legen: 
Wofür streiken die Arbeiter*innen im Iran derzeit?

 

Hadaf kolle nezame – Ziel ist das gesamte System

Neben dem mittlerweile international bekannten kurdischen Slogan, «Jin Jîyan Azadî», ist auf den Straßen Irans ein weiterer Ruf zu hören: «In akharin payame, hadaf kolle nezame». Übersetzt bedeutet es so viel wie: «Dies ist die letzte Warnung, dieses Mal geht es um das gesamte System». Seit September 2022 protestieren im gesamten Land Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen, Alter, sozialer Schichten. Proteste im Iran sind weder selten noch ungewöhnlich und dennoch unterscheiden sich die aktuellen Proteste von den früheren: Die Menschen heute kämpfen weder für bürgerliche Reformen, wie es die «Grüne Bewegung» im Jahr 2009 noch tat, noch kämpfen sie für Systemverbesserungen in nur bestimmten gesellschaftliche Bereichen. Sie kämpfen für einen grundlegenden Umsturz des gesamten gesellschaftlich-politischen Systems. Ein Teil dieser Kämpfe wird maßgeblich von den Arbeiter*innen getragen. Welche Rolle spielen ihre Kämpfe in diesen Protesten, die die Menschen im Iran mittlerweile Revolution nennen?

Die Islamische Republik Iran hat einen Klassencharakter. Nach offiziellen Statistiken leben zwischen 35 und 50 Prozent der iranischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend. Prekäre Arbeitsbedingungen, monatelang nicht ausgezahlte Löhne, Löhne, die weit unter den Reproduktionskosten der arbeitenden Klasse liegen und Renten, die weit unter der offiziellen Armutsgrenze liegen, massive Privatisierungen in allen Wirtschaftssektoren, um sie der gesellschaftlichen Kontrolle zu entziehen und so fort: All das fällt zusammen mit einem absoluten Streikverbot und der Kriminalisierung sowie teilweisen Illegalisierung von unabhängigen Gewerkschaften. Und all das sind Mittel zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter*innen durch die herrschende Klasse im Iran – Mittel, die mit der ganzen Gewalt und ideologischen Härte des repressiven Staatsapparats gegen die Mehrheit der Bevölkerung eingesetzt werden.

Der Widerspruch, der zwischen den gewaltsam isolierten Arbeiter*innen und dem Kapital, das in den Händen der politischen Elite liegt, herrscht, ist im Iran ein direkter, ohne jegliche zwischen ihnen vermittelnde Institution. Die Verquickung zwischen Kapital und Regime macht den Kapitalismus des Staates so besonders brutal. Trotz der massiven Unterdrückung organisieren sich die Arbeiter*innen im Iran. Sie gehen auf die Straßen, streiken wochenlang und werden dafür mit jahrelangen Gefängnisstrafen sanktioniert. Doch, um noch einmal Marx zu zitieren, verhindern ihre Kämpfe, dass sie zu «einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel» degradiert werden, «denen keine Erlösung mehr hilft».[1] Zugleich konstatiert Marx jedoch, dass es auch darum gehen muss, eine «umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen».[2] Inwieweit ist es den aktuellen Arbeiter*innenkämpfen möglich, jene umfassende Bewegung in Gang zu setzen? Um dies zu beantworten, werfen wir zunächst einen Blick zurück in die Vergangenheit: Welche Rolle spielten Arbeiter*innenstreiks in der neueren Geschichte des Iran?[3]