News | Deutsche / Europäische Geschichte Großer-Kaya/ Kubrova (Hrsg.): «…Die DDR schien mir eine Verheißung.» – Migrantinnen und Migranten in der DDR und in Ostdeutschland“; Berlin 2022

Perspektiven der ersten Generation

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Angelika Nguyen,

Schon der Titel des Buches, scheinbar naiv, umfasst das Thema. Er spiegelt die geopolitische Dimension des Nord-Süd-Gefälles ebenso wie die Wirkung von Solidarität der sozialistischen DDR auf ihre ärmeren «Bruderländer», sprich diejenigen, die, gezeichnet von kolonialer Ausbeutung, Bürgerkrieg und Armut, für die DDR als potentielle Bündnispartner im Kalten Krieg willkommen waren.

«Wir wussten, dass die DDR ein Industriestaat war, ein gutes Gesundheitssystem besaß und dass es an Nahrungsmitteln nicht mangelte.» So fasst Piedoso Manave, der 1986 als Vertragsarbeiter aus Mosambik in die DDR kam, die starke unwiderstehliche Motivation derer zusammen, die aus dem globalen Süden einreisten. Manave ergänzt: «Wir sahen das Schöne, bei uns herrschten Hunger und Bürgerkrieg.» Auch der Satz mit der Verheißung stammt von ihm. Vu Thi Hoang Ha, zum Studium aus Vietnam kommend, beschreibt es ähnlich: «Für mich {…} war die Zeit in Leipzig wie ein Paradies.» Und ihr Landsmann, Doan Ngoc Oánh, Vertragsarbeiter, fühlte sich bei der Ankunft nach dem Verzehr eines halben Hühnchens, das er mit niemandem teilen musste, «glücklich und wie im Himmel».

Postkarten und Berichte von Heimgekehrten in den Herkunftsländern bekräftigten das Bild vom Wohlstand im reichen, aufgeräumten Bruderland. Es lohnte sich also, temporär in die DDR zu gehen, an Bleiben dachten im Vorfeld wohl die wenigsten.

Die 16 in dieser Publikation dokumentierten Interviews, voran gestellt jeweils ein ganzseitiges Fotoporträt, sind offensichtlich mit denselben Fragen ausgestattet worden, die etwa lauten könnten: Woher kommst du, warum bist du weggegangen, wie war die Ankunft, was änderte sich in deinem Leben nach dem Mauerfall. Am Ende die Frage nach Heimatgefühlen und auch Ratschlägen für Ankommende.

Der große Wert der Gespräche besteht im Einfangen von Berichten aus erster Hand. Jede Geschichte liefert ihre eigenen speziellen Details und beschreibt außer soziotechnischen Abläufen vor allem tiefe Emotionen. Zeitgeschichte mittels Biographien zu erfahren ist immer spannend, so auch hier.

Die internationale Vielfalt ist groß, am häufigsten ist Vietnam mit gleich vier Porträts vertreten, was dem hohen Anteil vietnamesischer Eingewanderter in der DDR entspricht. Andere kamen aus Aserbaidschan, Chile, Russland, Senegal, Afghanistan, Mosambik, Mali, Tschetschenien, ein Palästinenser aus einem Flüchtlingslager in Libanon, ein anderer aus dem Westjordanland.

Die Geburtsjahrgänge der Migrant*innen liegen zwischen 1940 und 1974, und allen gemeinsam ist die Bereitschaft, ihr an Strapazen, Widerstand und Erfolgen reiches Leben im Interview zu reflektieren. Die Chronologie folgt klar der zeitlichen Reihenfolge der Einwanderung, die erste Interviewte wanderte 1966 ein, die letzte 1994, also schon nicht mehr in die DDR, sondern nach Ostdeutschland. Offensichtlich wollten die Herausgeber*innen auch die Geschichte der so genannten jüdischen Kontingentflüchtlinge nach 1990 mit im Band vertreten haben.

Diverse Einwanderungsgründe

Die Einwanderungsgründe sind divers und zum Teil überraschend. Die meisten kamen aus Armut (Vietnam, Mali u.a.), politischer Verfolgung (Chile), Not (Libanon, Westjordanland) und Bürgerkrieg (Mosambik). Auch ein Diplomatenkind ist dabei, und zwei der Interviewten wanderten nur aus Liebe in die DDR ein, ein anderer blieb deswegen.

Was auffällt, sind gewisse Unterschiede in den DDR-Lebensbedingungen für Eingewanderte, die man getrost als Klassenunterscheide bezeichnen kann. So genossen Migrant*innen, die zum Studium kamen, viele Privilegien gegenüber den sogenannten Vertragsarbeiter*innen. Für die Studierenden gab es unterhaltssichernde Stipendien, komfortablere und integrative Unterkünfte sowie soliden Deutschunterricht im Vorfeld. Sie konnten zusammen mit einheimischen Studierenden die hauseigenen Clubs besuchen (Stichwort: Moritzbastei in Leipzig!), halfen gemeinsam bei Ernteeinsätzen (Stichwort: Studentensommer!) und hatten natürlich im Studium selbst viele Möglichkeiten des Austauschs und Kennenlernens von Land und Leuten. Ein «Paradies» eben.

Zu beobachten ist, dass diese hohe Qualität der Aufnahme mit der Zeit abnahm. War Vu Thi Hoang Ha 1978 zum Studium noch mit sehr komfortablen Vorbereitungszeiten und aufmerksamer Betreuung eingereist, erging es Abdoul Coulibaly aus Mali, der 1987 ankam, schon anders. Die Zeit des Deutschunterrichts war halbiert worden, und statt eines anschließenden Studienbeginns musste er zunächst über Monate hinweg Hilfsarbeiten auf einer Baustelle verrichten. Dieses «Praktikum» war ein klarer Verstoß gegen Vereinbarungen. Auf Coulibalys Protest hin wurde ihm erklärt, dass er ansonsten das Studium nicht antreten könne.

Was eine vorzeitige Rückkehr jedoch bedeutete, erwähnen viele Interviewte: eine große Schande, bei der die zurückgelassene Familie quasi gleich mit entehrt und mittellos werden würde. Die Migrant*innen waren eben nicht nur individuell unterwegs, sondern auch meistens die Person, an der die Hoffnung von Eltern, Geschwistern, Großeltern und anderen auf Überleben hing. Eine solch gewaltige familiäre Verantwortung lässt einen wohl vieles aushalten.

Rassismus und Ausgrenzung

Dies betraf alle aus dem globalen Süden gleichermaßen, ob nun Studierende oder Auszubildende oder Arbeiter*innen. Und da waren sie wieder gleich und die Klassenunterschiede verschwunden.

Allen gemeinsam sind auch die Erfahrungen in Ausgrenzung, Rassismus oder «Ausländerfeindlichkeit», wie manche es nennen, in der DDR. Nur eine einzige Interviewte, eine studierte und promovierte Vietnamesin, erwähnt Rassismus mit keinem Wort.

Als gravierender Umbruch wird von allen der Mauerfall beschrieben. «Wir sind hier die Deutschen, und du bist der Ausländer» bekam Cristian Hernán Gárate Garay aus Chile plötzlich von Kollegen zu hören, mit denen er jahrelang einträchtig zusammengearbeitet hatte. Vu Thi Hoang Ha berichtet, dass ihr Wohnheim in Magdeburg 1990 von «Rechtsextremen umzingelt und angegriffen» wurde. «…bis 1996 […] lebte ich in Angst.»

Und, obwohl es auch in der DDR Rassismus gegeben habe, sei das kein Vergleich mit der offenen und organisierten rechten Gewalt nach dem Mauerfall. «Ein Lichtenhagen hätte es in der DDR nie gegeben.» sagt Garay.

Zu der nackten Angst vor Gewalt kam die neue Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt, die nochmal eine andere Qualität hatte als die neue Ausgrenzung geborener Ostdeutscher. Hier gab es wieder Unterschiede. Diejenigen, die schon in der DDR hochqualifiziert waren, konnten sich immerhin - wie viele Ostdeutsche - jahrelang mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABMs) über Wasser halten. In einigen Fällen mündete das in feste Stellen beziehungsweise sicherte einfach die weitere Teilhabe an der Gesellschaft.

Anders die meisten ehemaligen Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam: ihre ungültig gewordenen Arbeitsverträge, die massenweisen Kündigungen, der faktische Rauswurf aus den Wohnheimen, das Angebot der Ausreiseprämie, all das sollte sie so schnell wie möglich aus dem Land schaffen. Ein Bruchteil wollte trotzdem bleiben. Was das bedeutete, beschreibt Le Thi Thanh Binh, die erst eine Berufsausbildung in der DDR abgeschlossen hatte und später als Betreuerin von Arbeiter*innen wiederkam: «Ich wusste, wenn ich hierbleiben wollte, musste ich mich unbedingt selbstständig machen, weil ich vom Staat keine Unterstützung erhalten würde.» Sie lief eine Zeitlang im Kreis zwischen den Behörden, deren Bedingungen unerfüllbar war, wandte sich schließlich an eine übergeordnete Behörde und konnte wie durch ein Wunder 1991 das erste vietnamesische Restaurant in Freital eröffnen. Binh’s Bericht bringt auch das Thema Kinderkriegen und gleichzeitige maximale Selbstausbeutung auf. Ihre Aussagen sind berührend und fordern Respekt. Sie bricht ein Tabu: das der Schutzgelderpressung durch eigene Landsleute – und von ihrem persönlichen Widerstand dagegen. Sie erzählt von ihrem Schmerz, den sie bei einem bestimmten rassistischen Hasswort aus dem Osten empfand, erzählt von körperlichen Zusammenbrüchen, von ihrem Herz, das nicht mehr schlagen wollte.

Viele der Interviewten hat die Erfahrung der Transformation in den Kapitalismus politisiert. Gern und weil erfahrungsgemäß von Polizei und Staat kaum Hilfe zu erwarten war, wurde das Instrument der Vereinsbildung zur Vernetzung und Selbsthilfe, auch zur Erlangung von Fördergeldern und festen Stellen genutzt. Das gab der migrantischen Selbstorganisation einen enormen Schub und ist ein Grund dafür, dass die Gesellschaft heute anders aussieht als in den frühen Neunzigern.

Dabei halfen wiederum die besseren Deutschkenntnisse von Hochschulabsolvent*innen aus der Migration in die DDR. Frühere Privilegien und Unterschiede wirkten sich nun zum Wohl aller in den Communitys aus. Einige erwähnen LAMSA e.V.(Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt) als wichtiges Betätigungsfeld bis heute sowie die Beteiligung am Kampf um das Bleiberecht für ehemalige Vertragsarbeiter*innen, das 1997 erstritten wurde.

Alle eint ein starkes Bekenntnis zu Ostdeutschland und die Betonung des für sie sozial und mental qualitativen Unterschieds zu Westdeutschland. Es ist, wenn man so will, auch ein Bekenntnis zu dem, was sie als Sozialismus erlebt haben. Alle sind bis heute bewusst im Osten geblieben.

Die Jüngste unter ihnen, Rudaba Badakhshi aus Afghanistan, die elfjährig 1985 in die DDR kam, formuliert zu Beginn ihres Interviews ein geradezu leidenschaftliches Manifest: «Ihr differenziert zu wenig. Ihr habt keine Ahnung, was im Osten passiert ist. Die ostdeutsche Migrationsgeschichte ist eine andere als die westdeutsche {…} Mehr als 30 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung ist es längst fällig, diese Zäsuren aus ‚ossi‘-migrantischer Sicht zu erzählen.»

Heimat

Heimat ist das Wort, auf das die Interviews am Ende zurückkommen. Die Interviewten leben ja schon länger hier als sie je dort, woher sie kamen, gelebt haben. Trotzdem blieben sie fast alle dem Herkunftsland emotional am stärksten verbunden. Le Duc Kiến, der kurz vor dem Mauerfall 1989 als Vertragsarbeiter einreiste, formuliert es so: «Meine einzige Heimat ist dort, wo mir meine Eltern das Leben geschenkt haben und wo meine Nabelschnur – wie es bei uns Brauch ist – begraben ist. {…} Manche sehen nur die Armut und reden abfällig darüber. Ich bin stolz darauf, dass ich in Vietnam geboren bin.» Auf jeden Fall will Le Duc Kiến später in Vietnam begraben werden.

Die Ost-Migrant*innen, das zeigt diese Publikation eindrücklich, die allen Bestimmungen und Widerständen zum Trotz hiergeblieben sind, haben ihren ganz eigenen Blick auf die DDR, den Mauerfall und die rasanten Veränderungen danach. Sie sind Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte, wurden von ihr geprägt und prägten selbst das Land, wie es heute ist, mit. Diesen besonderen Blick zu erkunden, ihnen eine Stimme im biographischen Interview zu geben, ihre Ausgangslage und ihre Geschichten zu erzählen, das leistet dieses großartige Buch für Bildungsarbeit und Forschung - und für nachfolgende Generationen.

Carina Großer-Kaya/ Monika Kubrova (Hrsg.): «…Die DDR schien mir eine Verheißung.» – Migrantinnen und Migranten in der DDR und in Ostdeutschland“; Ammian Verlag, Berlin 2022, 126 Seiten, 18 Euro

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