„Der alltägliche Skandal der Heimerziehung“, so lautete der Titel einer Großveranstaltung auf dem Jugendhilfetag 1978, an der circa 8.000 Menschen teilnahmen. Der Titel und die Resonanz dieser Veranstaltung deuten darauf hin, dass die Zustände in den Jugendheimen neun Jahre nach der sogenannten Heimkampagne von 1969 immer noch kritikwürdig und verbesserungswürdig waren.
Die AutorInnen umreißen im ersten Drittel ihres Buches die in den 1950er und 1960er Jahren gängigen Konzepte der Heimerziehung. In dem Feld, das dann viel später „Kinder- und Jugendhilfe“ genannt werden sollte, herrschte zu jener Zeit ein Modell vor, das die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen nach dem Prinzip der Verwahrung vorsah. Die überwiegende Mehrzahl der Angestellten in den geschlossenen Heimen verfügte über keinerlei pädagogische Ausbildung. Die gesetzlichen Grundlagen und auch die Wohlfahrtsbürokratie waren von einem (post-)nazistischen Geist geprägt. Heime waren dabei nicht etwa ein randständiges Phänomen. Die AutorInnen schätzen, dass in den 1950er und 1960er Jahren 700.000 bis 800.000 Betroffene einen längeren Zeitraum in Heimen verbrachten (S. 133).
Im zweiten Drittel des vorliegenden Bandes wird die Heimkampagne als solche vorgestellt. Ab 1969 thematisierten, beginnend in Frankfurt am Main, Angehörige der studentischen Sozialrevolte die Zustände in Kinder- und Jugendheimen. Sie protestierten vor Ort und nahmen entflohene Zöglinge auf. Die AutorInnen nennen die auch schon andernorts beschriebene und von Frankfurt ausgehende Staffelbergkampagne. Sie gehen auch auf die Sozialistische Selbsthilfe Köln (SSK) sowie auf die Situation in Berlin, wo unter anderem der Film „bambule“ von Ulrike Meinhof entstand, ein (S. 89).
In einem kurzen Text wird die 1971 begonnene Reform des Landesjugendheimes im rheinländischen Viersen als Modellprojekt vorgestellt, ein Beispiel, das deutlich macht, was möglich war, und auf welche Widerstände solche Vorhaben stießen (S. 101 f.). Im Folgenden springen die AutorInnen etwas unvermittelt in die Gegenwart und stellen die aktuelle Situation in der Kinder- und Jugendhilfe dar, die vor allem vom 1991 verabschiedeten Kinder- und Jugendhilfegesetz strukturiert wird. Hier wird eine Förderpraxis festgeschrieben, die den Verwahrvollzug ablöst.
Ebenfalls auf die Gegenwart bezogen, stellen die AutorInnen dann die heutigen Reaktionen der Kirchen und anderer Träger von Jugendeinrichtungen auf die in den letzten Jahren erhobenen Forderungen ehemaliger Heimkinder, etwa nach Entschädigungen, dar.
Diese Forderungen wurden zuerst vor allem von den Betroffenen selbst erhoben, die sich in einem „von unten“ selbstorganisierten Prozess zusammenschlossen und unter anderem in einigen Romanen und Autobiographien ihre schmerzvolle und traumatisierende Geschichte erzählten (vgl. die umfangreiche Liste mit solchen Titeln auf Seite 131, Fußnote 231).
Abschließend urteilen die AutorInnen: Die Initiatoren der Heimkampagne hatten Recht und die Kampagne war Auslöser längst fälliger Reformen, die viel zu den am Ende des Buches skizzierten Diskursen beigetragen haben. Der normativ-politische Horizont der AutorInnen ist dabei das Grundgesetz, das sie immer wieder als Rahmen und Maßstab anführen. Aus meiner Sicht kann man über die zentrale These der AutorInnen, dass individuelle Moral in Institutionen aufgehoben sein muss, um Wirkung zu zeigen beziehungsweise zeigen zu können, durchaus geteilter Meinung sein.
Hier wäre aus einer kritischen Perspektive zu fragen: Waren die unzweifelhaft durchgeführten Reformen Bestandteil einer Liberalisierung und Demokratisierung oder zeigt die bis weit in die 1970er Jahre hinein existierende autoritäre Situation in den Einrichtungen nicht auch die Schwächen der Liberalisierungs- und Demokratisierungsthese?
Insofern wäre zu konstatieren, dass das im Titel des Buches genannte Auge des Staates eben nicht blind war und die kritikwürdigen Zustände zumindest tolerierte, wenn nicht ignorierte oder gar konservieren wollte. So bleibt abschließend etwas unklar, was die Autoren mit ihrem Buch beabsichtigen. Das Buch ist nicht rein historiographisch und es gibt, wie angeführt, Brüche zwischen den einzelnen Kapiteln. Dennoch liefern die einzelnen Kapitel für sich durchaus sehr brauchbare Informationen über ein verdrängtes Kapitel der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte. Das Buch ist in einem renommierten pädagogischen Fachverlag erschienen, was ihm eine gewisse Resonanz sichern dürfte.
Marita Schölzel-Klamp / Thomas Köhler-Saretzki: Das blinde Auge des Staates. Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder; Klinkhardt Verlag: Bad Heilbrunn 2010. 159 Seiten. 15,90 EUR
Diese Rezension erschien zuerst in Sozial.Geschichte Online Nr. 5 / 2011. Das komplette Heft ist unter http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-26925/Sozial_Geschichte_Online_5_2011.pdf kostenfrei zugänglich.