News | Krieg / Frieden - Osteuropa - Ukraine-Krieg Ukraine: Der lange Weg zur Selbstbestimmung

Fünfmal erklärten die Ukrainer*innen ihre Unabhängigkeit, und jedes Mal haben sie ihre Nation neu erfunden. Von Cristina Florea

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Cristina Florea,

Menschen mit ukrainischen Flaggen und Protestplakaten für die Unabhängigkeit  versammeln sich am Kiever Flughafen.
Als der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow am 07. Juli 1991 die ukrainische Hauptstadt Kyjiw besuchte, war bereits klar, dass die Ukrainer sich von der Sowjetunion lösen und einen eigenen Staat gründen wollten.  Foto: Sven-Erik Sjöberg DN TT / IMAGO

Der Untergang der Sowjetunion im Jahr 1991 überraschte alle, auch den Mann, der unmittelbar dafür verantwortlich war. 1985 hatte Michail Gorbatschow die Perestroika («Umbau») ausgerufen, ein Reformprogramm, das die sowjetische Gesellschaft radikal umgestalten sollte. Wesentlich dabei war die Glasnost, das Versprechen, dass der Einparteienstaat nunmehr «transparent» sein sollte. Kommunistische Funktionär*innen konnten nun also offen kritisiert werden. Eine der vielen unerwarteten Folgen dieser Reformen bestand darin, dass sich neue zivilgesellschaftliche und politische Organisationen gründeten, die das Monopol der Kommunistischen Partei im öffentlichen Raum brachen.

In den osteuropäischen Satellitenstaaten ermutigte die Perestroika die jeweiligen Oppositionsbewegungen zu einer Reihe von «sanften» Revolutionen, wie jene der Solidarność in Polen und die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei. Beide Länder stürzten 1989 ihre kommunistischen Regime. Doch wie der Historiker Mark Kramer zeigt, stärkten die Reformen auch den Widerstand in der Sowjetunion selbst, einschließlich der Volksfronten in den baltischen Staaten und der nationalistischen Bewegung in Georgien, die ihre Unabhängigkeit einforderten.

In der Ukraine, der zweitgrößten Republik der UdSSR, gab es keine einheitliche Opposition. Am 1. Dezember 1991 stimmten dennoch über 90 Prozent der Ukrainer*innen für die Unabhängigkeit. Der im Juni zum russischen Präsidenten gewählte Boris Jelzin ging noch davon aus, dass die Ukraine auch nach einer Auflösung der Sowjetunion mit Russland verbunden bleiben würde. Als ein ukrainischer Journalist Jelzins Weigerung kritisierte, die Republik in die Unabhängigkeit zu entlassen, sagte der Pressesprecher des Kremls nur: «Ihr wollt nicht mit Russland in einer Union leben? Das ist für euch eine kommunistische Altlast? Dann geht doch, aber gebt uns die Krim und den Donbas zurück!»

Wladimir Putin rechtfertigt seinen mittlerweile zwölf Monate andauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der gleichen Rhetorik wie früher Jelzin und seine Verbündeten: Die Ukraine sei eine Erfindung der Sowjetunion, die außerhalb Russlands unvorstellbar sei. Wie in jeder wirkungsvollen Propaganda steckt auch in dieser Behauptung ein Körnchen Wahrheit: Die postsowjetische Ukraine war in vielerlei Hinsicht ein Produkt der jahrzehntelangen Sowjetherrschaft. Die Ukraine übernahm von den Sowjets einen Staatsapparat und institutionelle Strukturen. Ihr Staatsgebiet gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg und der Eingliederung in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (UkrSSR) teilweise zu unterschiedlichsten Herrschaftsbereichen, so etwa zu Polen-Litauen, Österreich oder dem zaristischen Russland. Die Sowjets bauten ein zugleich sowjetisches und ukrainisches Staatswesen auf und konstituierten auch eine ukrainische Identität, die den neuen urbanen, multiethnischen und zweisprachigen Charakter der sowjetischen Ukraine widerspiegelte. Diese Identität definierte sich nicht mehr im Gegensatz zu Russland, wie es im Zeitalter des romantischen Nationalismus noch der Fall gewesen war. Russland wurde als freundlicher großer Bruder gesehen, der auf dem Weg zum Kommunismus schon weiter vorangeschritten war.

Zweihundert Jahre lang haben die Ukrainer*innen auf die sich verändernden Lebensumstände mit Erzählungen über ihre nationale Vergangenheit reagiert. Im 20. Jahrhundert erklärten sie fünfmal ihre Unabhängigkeit: 1918 in Lwiw und Kiew, 1939 in Transkarpatien, 1941 erneut in Lwiw und 1991 in Kiew. Jedes Mal mussten sie nicht nur einen ukrainischen Staat erschaffen, sondern auch eine ukrainische Nation. Wie diese Nation aussehen sollte, war keineswegs selbstverständlich. Der ukrainische Nationalismus des 19. Jahrhunderts vertrat etwa keine einhellige Position zur Identität der Ukrainer*innen. Die einen hielten Polen für die größere Bedrohung, die anderen Russland. Allein unter den galizischen Ruthen*innen gab es nicht weniger als fünf verschiedene Fraktionen: polonophil, ukrainophil, russophil, altruthenisch und kleinrussisch. Während des Zweiten Weltkriegs setzten einige Ukrainer*innen auf Nazi-Deutschland, während andere sich unter sowjetischer Herrschaft bessere Chancen ausrechneten, eine eigene Staatlichkeit zu erlangen. Nach 1991 kam es zu neuen Spaltungen zwischen den Ostukrainer*innen, die dem postsowjetischen Russland verbunden blieben, und den Westukrainer*innen, die sich eher am Westen orientierten. Der russisch-ukrainische Krieg ist die neueste blutige Etappe des unvollendeten Zusammenbruchs des Sowjetimperiums und der langen Geschichte des ukrainischen Nationalismus.

Die Entstehung der ukrainischen Nation

Die ruthenische Sprache, wie das Ukrainische damals genannt wurde, differenzierte sich vom Russischen und Belarussischen zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert, als die meisten Ukrainisch Sprechenden in den Gebieten des ehemaligen mittelalterlichen Staates der Kiewer Rus lebten. Die Gebiete der ehemaligen Kiewer Rus waren schon auf verschiedene Fürstentümer aufgeteilt, als sie den Mongolen zum Opfer fielen, um in der Folge von der Goldenen Horde, dem Großfürstentum Moskau, Ungarn, dem Osmanischen Reich und Polen-Litauen beherrscht zu werden. Bis zum 17. Jahrhundert hatte sich eine eigenständige ruthenische Identität herausgebildet, obwohl es noch keine nennenswerte ruthenische oder ukrainische Nation gab. In Gebieten, in denen Ruthenisch gesprochen wurde, schreibt Andrew Wilson in seiner Studie «The Ukrainians: Unexpected Nation», wechselten die Eliten häufig zwischen dieser Sprache und dem Polnischen, dem Lateinischen und dem Kirchenslawischen. Die hauptsächlich in polnischer Sprache vermittelte Bildung ließ die Adeligen ruthenischer Herkunft mehr in die Nähe der polnischen Nation – einer Nation der Adligen – rücken.

Vor dem späten 16. Jahrhundert gehörten die meisten Ruthen*innen in Polen-Litauen dem orthodoxen Christentum an. Auf der Union von Brest im Jahr 1596 wurde eine eigene griechisch-katholische oder unierte ukrainische Kirche gegründet, die direkt dem Papst unterstellt war. Orthodoxe Kosaken und Bauern widersetzten sich der Union; besonders bekannt ist der Aufstand von 1648, den der Kosakenführer («Hetman») Bohdan Chmelnyzkyj gegen die polnische Herrschaft anführte. Im Vertrag von Perejaslaw von 1654 schwor Chmelnyzkyi dem Zaren die Treue und brachte die ukrainischen Gebiete vorübergehend unter russische Kontrolle. In russophilen Narrativen galt der Vertrag als Zusammenschluss oder «Wiedervereinigung der Rus» und wurde herangezogen, um Russlands Ansprüche auf die Ukraine zu rechtfertigen. Nationalistische ukrainische Historiker*innen definierten den Vertrag jedoch als ein freiwilliges Bündnis, mit dem das Kosakenhetmanat den Schutz Russlands gesucht hätte, ohne seine Autonomie aufzugeben.

Nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert wurden die polnisch beherrschten ukrainischen Gebiete erneut aufgeteilt, diesmal zwischen Russland im Osten und Österreich im Westen. Unter österreichischer und russischer Herrschaft entwickelte sich der ukrainische Nationalismus parallel zum polnischen. Als die Bevölkerung Kongresspolens, das Russland von Napoleon erworben hatte, 1830/31 aufbegehrte, schlugen die zaristischen Ordnungskräfte den Aufstand nieder und versuchten, dem Einfluss der polnischen Nationalist*innen entgegenzuwirken, indem sie eine dreieinige russische Nationalität vertraten: Russ*innen, Belaruss*innen («Weißruss*innen») und Ukrainer*innen («Kleinruss*innen»).

Um diese gemeinsame «Rus»-Identität in den ukrainischen Eliten zu fördern, gründete das zaristische Russland neue Universitäten in Kiew und Charkiw. Doch statt der erhofften Zentren der russophilen Kultur entstanden mit den Universitäten Brutstätten des ukrainischen Nationalismus. In Kiew gründete sich eine Geheimgesellschaft, die Kyrill-und-Method-Bruderschaft, deren Mitglieder eine eigenständige ukrainische Nationalität behaupteten, in Abgrenzung zu Polen und Russland. Das berühmteste Mitglied der Bruderschaft war der Dichter und Künstler Taras Schewtschenko. Der frühere Leibeigene veröffentlichte 1840 in St. Petersburg eine Balladensammlung mit dem Titel «Kobsar», die den Grundstein für eine neue ukrainische Volksliteratur legte. Mykola Kostomarow, ein weiteres Mitglied der Bruderschaft, rief in seinem Manifest «Bücher der Genesis des ukrainischen Volkes» zu einer größeren, von der Ukraine geführten slawischen Konföderation auf, die auf egalitären Prinzipien und einer Volksvertretung beruhen sollte. Beide Männer, so Wilson, definierten die ukrainische Nation als von Natur aus demokratisch und damit wesensverschieden von Russland. Es hieß, die «Freiheitsliebe für die eigenen Leute stand dem Wunsch des Imperialisten entgegen, alle anderen in Ketten zu legen». 1847 verhaftete die zaristische Polizei Kostomarow und Schewtschenko und bezeichnete die Bruderschaft als ein Instrument polnischer Intrigen. Als die polnische Bevölkerung 1863 erneut aufbegehrte, untersagten die zaristischen Ordnungskräfte alle ukrainischen Veröffentlichungen und erklärten die ukrainische Sprache zu einer polnischen Erfindung.

In Österreich entstand nach 1848 eine ukrainische Nationalbewegung, als sich die Ukrainer*innen in Galizien und der benachbarten Provinz Bukowina erstmals politisch im Obersten Ruthenischen Rat organisierten. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte Österreich die Ruthen*innen gegen die revolutionären Bestrebungen Polens unterstützt und sie ermutigt, durch kulturelle Einrichtungen wie das theologische Seminar für griechisch-katholische Ruthen*innen in Lwiw (damals Lemberg) eine eigene Identität zu entwickeln. Nun aber schloss die Habsburger Monarchie einen stillschweigenden Kompromiss mit Polen und machte es – als Gegenleistung für Loyalität – zur herrschenden Kraft in Galizien. Enttäuscht suchte die ruthenische Intelligenz im österreichisch beherrschten Galizien den Schutz Russlands und machte sich dafür die «kleinrussische» Identität zu eigen, die das Zarenreich bei seinen antipolnischen Kampagnen propagierte. Diese russophile Stimmung herrschte unter den österreichischen Ukrainer*innen bis in die 1880er Jahre vor, als das österreichische Kaiserreich in einer Reihe von Gerichtsprozessen gegen russophile Ukrainer*innen vorging. Später übernahm eine von der österreichischen Regierung unterstützte ukrainophile und populistische Strömung die Führung.