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Brasilien nach der Wahl.

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Zeremonie zur Amtseinführung von Präsident Lula am 1. Januar 2023
Zeremonie zur Amtseinführung von Präsident Lula am 1. Januar 2023 Foto: Tomaz Silva/Agência Brasil

Als Vandalen am 8. Januar 2023 in den Sitz der Drei Gewalten der Republik (Brasiliens Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasília, Anm. d. Übersetzers) eindrangen, bestätigte sich, was viele befürchtet hatten: Die neue Regierung wird es nicht leicht haben. Die extreme Rechte wurde an der Urne besiegt, aber sie ist weiterhin stark und wird den Wiederaufbau der brasilianischen Demokratie stören.

Geschützt durch das Wegschauen und die direkte Komplizenschaft vieler Sicherheitskräfte wähnten sich die Anhänger*innen des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro in dem Glauben, einen Staatsstreich durchzuführen. Ihre Mentor*innen, von denen sich viele außer Landes befanden, glaubten ebenfalls, dass die Angriffe ihre Rückkehr an die Macht ebnen könnten. In den folgenden Wochen wurden mehrere Putschprojekte bekannt, die in den letzten Monaten des Jahres 2022 innerhalb der Bolsonaro-Regierung diskutiert worden waren und die darauf abzielten, die Präsidentschaftswahlen vom Oktober zu annullieren und Lula daran zu hindern, sein Amt anzutreten. Und es waren nicht nur Pläne. Angestachelt von einem durch die Anführer*innen dieser Bewegung propagierten Klima eines patriotischen Kreuzzuges, verübten Bolsonarist*innen terroristische Angriffe, etwa auf Strommasten. Für sie gilt die Regierung Lula als das absolut Böse: kommunistisch», «gegen die Familie» und «korrupt». Auf diese Art rechtfertigen sie alles, was gegen die Regierung unternommen wird.

Luis Felipe Miguel ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Brasília (UnB), wo er die Forschungsgruppe für Demokratie und Ungleichheiten (Demodê) koordiniert. Er ist außerdem Autor des Buches «O colapso da democracia no Brasil» (Der Zusammenbruch der Demokratie in Brasilien), das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Verlag Expressão Popular veröffentlicht wurde.

Weitere Bücher des Autors: «Democracia e representação: territórios em disputa» (Demokratie und Repräsentation: Territorien im Konflikt, erschienen 2014 bei Editora Unesp), «Consenso e conflito na democracia contemporânea» (Konsens und Konflikt der gegenwärtigen Demokratie, erschienen 2017 bei Editora Unesp) und «Dominação e resistência: desafios para uma política emancipatória» (Dominanz und Widerstand: Herausforderungen für eine emanzipatorische Politik, erschienen 2018 im Boitempo-Verlag)

Es ist wichtig zu verstehen, wie Brasilien an diesen Punkt gelangen konnte. Für einige Zeit galt das größte Land Lateinamerikas als einigermaßen erfolgreiches Beispiel für einen demokratischen Übergang. Nach mehr als 20 Jahren rechter Militärdiktatur kehrten 1985 Zivilist*innen an die Macht zurück. Kurz darauf wurde eine Verfassung verabschiedet, die eine liberal-demokratische Ordnung festlegte und darüber hinaus soziale Rechte festschrieb. Als 2002 die wichtigste Partei der brasilianischen Linken, die Arbeiterpartei PT, an die Macht kam, zeigte Brasilien, dass es in der Lage war, einen Machtübergang umzusetzen. Und die Sozialpolitik der PT stellte einen – vielleicht unzureichenden, aber nicht irrelevanten – Versuch dar, die von der Diktatur geerbte soziale Schuld zu tilgen.

Problematische Strategie: Weg der minimalen Konfrontation mit den herrschenden Gruppen


Doch auch wenn die PT mit Vorsicht agierte und versuchte, jede Konfrontation zu vermeiden, hat die Partei Veränderungen in Gang gesetzt, die die Interessen von Sektoren der herrschenden Klassen berührten. Die brasilianische Wirtschaft ist nicht besonders dynamisch, sie hängt weitgehend von Rohstoffen ab. Die Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten basiert auf der niedrigen Entlohnung der brasilianischen Arbeiter*innen. Die PT setzte auf eine Politik der Einkommenstransfers – und diese hat es Arbeiter*innen in prekären Situationen erleichtert, über ihre Bedingungen zu verhandeln. Des Weiteren wurde eine reale Aufwertung des Mindestlohns umgesetzt.

Bald schon fühlten sich Teile der Mittelschicht bedroht. Denn sie verloren materielle Vorteile durch die Verteuerung der Arbeitskräfte, zum Beispiel von Hausangestellten, die vor den Arbeitsmarktreformen oftmals für einen Hungerlohn geschuftet hatten. Sie verloren Wettbewerbsvorteile, da ihre Kinder an den Hochschulen nun auch mit den Kindern der Ärmsten konkurrieren mussten. Und sie verloren symbolische Vorteile, insbesondere das Gefühl der Distinktion, das die soziale Distanz zu den Ärmsten vermittelte und das so prägend für die brasilianische Gesellschaft ist.

Der von der PT gewählte Weg der minimalen Konfrontation mit den herrschenden Gruppen implizierte, dass sich die Partei dem traditionellen politischen Spiel anpasste: Die Regierung sicherte sich im Kongress Unterstützung im Gegenzug für Posten und öffentliche Gelder. Die Moral dieser Abmachung ist, gelinde gesagt, zweifelhaft. Und diese Praxis erlaubte es der rechten Opposition, das Thema Korruption für ihre Zwecke zu missbrauchen. Plötzlich wurde Korruption als Wesenselement der Linken dargestellt, obwohl Rechte genauso stark in Skandale verstrickt waren.
Der Kampf gegen die Korruption war eines der Aushängeschilder des «Antipetismo» – der unerbittlichen Opposition gegen die PT-Regierungen, die die brasilianische Rechte einte. Damit verbunden ist eine weitere Achse der moralischen Panikmache: die Warnung vor der «Auflösung der Familie». Auftrieb erhielt dieser Diskurs durch die größere Sichtbarkeit feministischer Anliegen und die Umsetzung von LGBT-Rechten. Und schließlich gab es noch den leistungsorientierten Diskurs: Sozialpolitik fördere Faulheit und sei ein Feind des Fortschritts.

Bolsonaro als Nutznießer der systemfeindlichen Stimmung

Als die PT Ende 2014 zum vierten Mal in Folge die Präsidentschaftswahlen gewann, wurden viele rechten Sektoren durch den Wahlprozess entmutigt und begannen zu überlegen, den Spieß umzudrehen. Die Folge: Der Putsch von 2016, bei dem Präsidentin Dilma Rousseff durch ein Amtsenthebungsverfahren ohne Rechtsgrundlage abgesetzt wurde. Die extreme Rechte war zuerst bloß Unterstützerin dieser Entwicklungen. Doch schnell eroberte sie mit ihrem viel radikaleren Diskurs die Straßen und verprellte letztlich ihre traditionellen Partner*innen. Der Ex-Militär Jair Bolsonaro, der viele Legislaturperioden im Parlament gegessen hatte und bekannt war für seine aggressiven Äußerungen zugunsten der Diktatur und gegen Menschenrechte, verstand es, aus der weit verbreiteten systemfeindlichen Stimmung politisches Kapital zu schlagen. Nach und nach scharte er verschiedene Sektoren der Rechten um sich: Nostalgiker*innen des Militärregimes, reaktionäre Christ*innen, Marktfundamentalist*innen, Monarchist*innen und Neonazis. Die größte Tragödie der brasilianischen Demokratie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Vor die Wahl gestellt zwischen dem Neofaschisten Bolsonaro und einem Vertreter der gemäßigten Linken, entschieden sich die Bourgeoisie, die großen Medien und weite Teile der Mitte für Bolsonaro.

Die vier Jahre unter Bolsonaro waren eine soziale und politische Tragödie, die durch die Corona-Pandemie noch verschlimmert wurde. Die Liste der Rückschritte ist lang: Ungezügelte Privatisierungen, Zunahme der Armut, Unterfinanzierung öffentlicher Dienstleistungen, Anstieg der politischen Gewalt, Zerstörung von Umweltschutzorganisationen, Nähe zu kriminellen Vereinigungen. Bolsonaro hat das Land verwüstet. Die Aufgabe des Wiederaufbaus ist gigantisch.
Es bleibt die Frage, wieso nach der relativ erfolgreichen Redemokratisierung und vielen Jahren populärer Regierungen die Rückschritte so schnell und tiefgreifend vonstattengehen konnten. Dafür gibt es drei Erklärungen, die einander ergänzen. Die Herausforderung besteht darin, diese Erklärungen zu verstehen und die notwendigen Lehren daraus zu ziehen, um eine solidere und standhaftere Phase der Demokratie in Brasilien einzuleiten.

1) Ein übermäßiges Vertrauen in die liberale Ordnung. Die PT passte sich an das institutionelle politische Spiel an und schien zu glauben, dass es immer nach diesen Regeln funktionieren würde. Und sie glaubte, dass es genüge, eine Mehrheit der Stimmen zu gewinnen, um an der Macht zu bleiben – eine Sozialpolitik im Sinne der verarmten Massen würde ihr die benötigte Unterstützung sichern. Als die Rechte ihre Methoden verschärfte, indem sie mithilfe der Komplizenschaft oder Unterlassung derjenigen Institutionen, die eigentlich für die Einhaltung der Gesetze zuständig sind, eine demokratisch gewählte Präsidentin absetzte und die Justiz für die Verfolgung politischer Kontrahent*innen instrumentalisierte, war die Linke kaum in der Lage darauf zu reagieren. Kurz gesagt: Ohne die Fähigkeit außerparlamentarischen Druck zu mobilisieren und auszuüben, um das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft zu beeinflussen, ist jeglicher Fortschritt ungewiss.

2) Mangel an politischer Bildung. Infolge ihrer Beschwichtigungspolitik gegenüber den herrschenden Gruppen wählte die PT einen Diskurs, der Klassenkonflikte leugnete oder vernachlässigte. Diejenigen, die von ihrer Politik profitierten, wurden ermutigt, sich nicht als Arbeiter*innen zu sehen, die an Würde gewinnen, sondern als eine «neue Mittelklasse». Viele Wähler*innen, die sich vormals für die PT entschieden hatten, änderten ihre Positionierung, weil sie nicht in der Lage waren zu verstehen, was auf dem Spiel stand, und sich von Falschinformationen leiten ließen. Fazit: Ohne politische Bildung wird die Bevölkerung zur bloßen Nutznießerin von Regierungsprogrammen, statt zur Teilnehmerin eines Projektes des Wandels.

3) Unzureichende Umsetzung von Rechten und Freiheiten. Trotz aller Fortschritte ist Brasilien noch weit davon entfernt, allen Menschen den Zugang zu den in der Verfassung festgeschriebenen Rechten zu gewährleisten. Für die Bewohner*innen der Peripherien, für die Ärmsten, für Schwarze und für Indigene ist der Staat fast ausschließlich in Form von Repressionen gegen sie präsent – und nur selten in Form von Unterstützung und Hilfe. Für diese Menschen ist Demokratie ein leerer Begriff. Deshalb lohnt es sich auch nicht, dafür zu kämpfen. Präsident Lula ist sich dessen bewusst. In seiner Amtseinführungsrede sagte er: «Das Volk wird die Demokratie verteidigen, wenn sie allen die in der Verfassung verankerten Rechte garantiert.» Das ist die große Herausforderung, vor der die neue Regierung steht: Die Wut der extremen Rechten einzudämmen, den Staat zurückzuerobern, die Verfassung wiederherzustellen und ihre Gültigkeit auf alle gesellschaftlichen Gruppen auszudehnen – davon hängt die demokratische Zukunft Brasiliens ab.

Übersetzung: Niklas Franzen