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Zum fehlenden Recht auf politische Partizipation für Einwanderer*innen | Teil 1 der Analyse «Gesellschaft der Ungleichen: Taxation without Representation»

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Horst Kahrs,

Ein Mann protestiert seit Jahren mit seinem Fahrrad in Berlin für ein Wahlrecht.
Dieser Mann protestiert seit Jahren mit seinem Fahrrad in Berlin für ein Wahlrecht. Berlin, 2013, IMAGO / Steinach

In der Bundesrepublik Deutschland lebten Ende 2021, also noch bevor die Fluchtbewegung vor der russischen Aggression gegen die Ukraine einsetzte, über elf Millionen Menschen ohne deutschen Pass, etwa jede*r siebente Einwohner*in. Von den elf Millionen lebten zwei Drittel bereits sechs Jahre und länger im Land; 44 Prozent aller Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit waren Bürger*innen der Europäischen Union, die keinen Aufenthaltstitel benötigen. Ein Fünftel der nichtdeutschen Einwohner*innen verfügte über einen unbefriste­ten und ein weiteres Fünftel über einen befristeten Aufenthaltstitel. Das verbleibende Sechstel wurde geduldet oder befand sich im Asylverfahren. Von den 11,8 Millionen Ausländer*innen waren 1,57 Millionen oder 13,3 Prozent in Deutschland geboren worden. Würde die deutsche Staatsangehörgkeit nach Geburtsort vergeben, wie in Frankreich oder den USA, würden die in Deutschland Geborenen nicht als Ausländer*innen, sondern als «Eingeborene» zählen.

In den Altersgruppen der 20- bis 40Jährigen stellen Ausländer*innen ein Fünftel der Wohnbevölkerung. Über 60 Prozent der 18- bis 65-jährigen Ausländer*innen stehen in einem sozialversicherungspflichtigen Be­schäftigungsverhältnis. Sie zahlen Steuern und Sozialbeiträge und tragen mit ihrer Arbeit somit zum Wohlstand der Gesellschaft bei, sondern füllen auch die öffentlichen Kassen. Von den Entscheidungen über die Verwendung ihrer Steuergelder sind sie jedoch aus­geschlossen – taxation without representation.

Für die politische Repräsentation von Arbeiter*innen hat das fatale Fol­gen: Ausländer*innen arbeiten zu einem großen Teil in Arbeiter*innen- bzw.  manuellen Berufen. Sie stellen einen erheblichen Teil der modernen Arbeiter*innenschicht in der deutschen Ge­sellschaft. Zu dem großen Teil der deutschen Staatsangehörigen aus Arbeiter*innenberufen, die sich regel­mäßig an Wahlen nicht (mehr) beteili­gen, kommt ein großer Teil der Arbeiter*innenschicht, der sich an den allgemeinen Wahlen in dem Land, in dem sie leben und arbeiten, gar nicht beteiligen darf.

Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler, arbeitet zu den Themen Klassen und Sozialstruktur, Demokratie und Wahlen und war am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigt.

Die Frage des Wahlrechts ist für linke Politik, die auf Gleichheit und Solidarität ausgerichtet ist, daher eine sehr bedeutsame Frage – nicht nur für die Entwicklung von Klas­senpolitik, sondern auch für die des demo­kratischen Gemeinwesens. Vor dem Hintergrund des prognostizierten Arbeitskräftebedarfs der Volkswirtschaft, der durch Zuwanderung gedeckt wer­den soll, und der angekündigten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts bekommen die Fragen des Wahl­rechts zusätzliche Bedeutung.

In diesem ersten Teil werden die Eckdaten zur ausländischen Bevölkerung in Bezug auf die Ausweitung des Wahlrechts und Einbürgerungen zusammengetragen.  Im zweiten Teil liegt der Fokus auf ihrer Stel­lung in der Arbeitsteilung und der Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Ausweitung des Wahlrechts. Es geht dabei darum, den Stellenwert zu ver­deutlichen, nicht um eine tiefer gehende Analyse etwa zur Unterschichtung des Arbeitsmarktes.

Die ungekürzte Version von «Gesellschaft der Ungleichen: Taxation without Representation» mit allen Daten findet sich hier.

Zur aktuellen Situation im Wahlrecht

Das Wahlrecht zählt in demokratisch verfassten Gesellschaften zu den grundlegenden Rechten. Wer wählen darf, kann Einfluss auf die politischen Geschicke der Gesellschaft, in der er lebt, nehmen. Wer nicht wählen darf, ist davon ausgeschlossen und dadurch Objekt der Entschei­dungen anderer. Die Geschichte des demokratischen Wahlrechts ist auch in Deutschland lang und in großen Teilen eine Geschichte der mühsam erkämpften und verwirklichten rechtlichen Gleichheit. Durften zunächst nur «Steuer-Bürger» wäh­len, so folgte das Wahlrecht der Männer, oftmals noch im Rahmen eines gewichtenden Klassenwahlrechts, dann jedoch als allgemeines und gleiches Wahlrecht. Später wurden Frau­en als Gleiche anerkannt. Immer blieb jedoch das Wahlrecht an die Staatsangehörigkeit gekop­pelt. Ohne Staatsangehörigkeit kein Wahlrecht am Hauptwohnort, jedoch in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit vorgewiesen werden konnte.

Als das Land Schleswig-Holstein 1989 das Wahlrecht für ausländische Staatsange­hörige – z.B. Dän*innen, Schwed*innen, Norweger*innen und andere – bei Gemeinde- und Kreiswahlen einführen wollte, erklärte dies 1990 das Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Volks-Begriff im Grundgesetz. Das Volk, von dem alle Gewalt ausgehe, würde von den Staatsangehörigen gestellt werden. Bei den Kommunalwahlen 1989 in der DDR hingegen hatten dort lebende Ausländer*innen erstmals aktives und passives Wahlrecht.

Aktives und passives Wahlrecht: Das aktive Wahlrecht meint, dass Personen wählen dürfen. Das passive Wahlrecht hingegen bedeutet, dass die Person zwar nicht selbst wählen darf, aber kandidieren und gewählt werden kann, also wählbar ist. 

Die EU-Verträge von Maastricht ebneten den Weg für die Beteiligung von EU-Bürger*innen an den Wahlen auf kommunaler Ebene. Spätestens mit der Übernahme in das Grundge­setz 1993 leben in Deutschland also Staats- und Unionsbürger*innen, die auf dem Gebiet der EU nicht als Ausländer*innen betrachtet werden dürfen, und Ausländer*innen bzw. soweit nicht staatenlos, Bür­ger*innen von Drittstaaten. 2017 scheiterte ein Versuch, in der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen ein Wahlrecht für Ausländer*innen mit ständigem Wohnsitz in Deutschland ein­zuführen.

Bürger*innen der Europäischen Union dürfen bei Wahlen zum Europäischen Parlament in dem Staat wählen, in dem sie hauptsächlich wohnen. Sie können wählen, ob sie ihr Wahlrecht im Heimat- oder Wohnsitzstaat ausüben wollen.

Auch wer 10, 20, 30 oder mehr Jahre in Deutschland lebt, bleibt von der politischen Einfluss­nahme durch Wahlen ausgeschlossen, außer sie bewirbt sich erfolgreich um die deutsche Staatsbürgerschaft. Einbürgerungen werden, abgesehen von den 1990er Jahren ge­genüber Einwanderer*innen aus der ehemaligen Sowjetunion («Spätaussiedler*innen», «Russlanddeut­sche» und andere), eher restriktiv gehandhabt. Die Einbürgerungsquote liegt seit Jahren kaum höher als 2 Prozent.  

Eine andere Rechtslage gilt für Arbeitnehmer*innen im Betriebsverfassungs­gesetz. Nicht zuletzt in Reaktion auf die Arbeitskämpfe der «Gastarbeiter*innen» in den Jahren 1969 bis 1973, den «wilden Streiks», wurde, nachdem das aktive Wahlrecht teilweise schon länger bestand, auch das passive Wahlrecht für ausländische Beschäftigte bei Betriebsratswahlen eingeführt. Dadurch verbesserte sich in der Folge auch ih­re Gleichstellung in den Betrieben, Betriebsräten und Gewerkschaften. Vorgeschrieben ist, dass die Informationen und Unterlagen bei Betriebsratswahlen auch in anderen Sprachen als deutsch ausgelegt werden müssen. Das Wahlrecht als Arbeitnehmer*in gilt, sofern es sich um Mitglieder der Sozialversicherung handelt, auch bei den Sozialwahlen.

Sozialwahlen sind die Wahlen der Verwaltungsorgane der gesetzlichen Sozialversicherungsträger in Deutschland. Die Wahlen finden alle sechs Jahre bei der gesetzlichen Renten-, Unfall- und Krankenversicherung statt. Auch dieses Jahr, 2023, ist es wieder soweit und die Sozialwahlen stehen an. Informationen dazu erhält man bei seiner jeweiligen Versicherung.  

Auf der betrieblichen und teilweise der kommunalen Ebene ist das Prinzip der Gleichheit nicht mehr zwingend an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Hier ist das Prinzip «Demokratie als Lebensweise» zumindest für größere Teile der ausländischen Bürger*innen formal umgesetzt. Es meint jedoch nicht nur den respektvollen Umgang, sondern auch das erkennbare Bestreben, dass alle, die von Entscheidungen der Mehr­heit betroffen sind, an der Entscheidungsfindung beteiligt werden bzw. sich beteiligen (können). Bei den Betriebsratswahlen sind daher zum Beispiel Wahlunterlagen in weiteren Sprachen vorgesehen. Auf der Ebene von Landtags- und Bundestagswahlen bleibt das fehlende Wahlrecht für Ausländer*innen für Demokrat*innen ein ständiger Stein des Anstoßes.

Einwohner*innen ohne deutschen Pass

Ende 2021 lebten in Deutschland zwischen 10,887 und 11,817 Millionen Men­schen ohne deutschen Pass.

Die höhere Zahl stammt aus der «Ausländerstatistik» des Ausländerzentralregisters, in dem alle gemeldeten Ausländer*innen nach Herkunftsstaat, Aufenthaltsstatus, Aufenthaltsdauer und mehr erfasst werden. Es wird davon ausgegangen, dass eine Übererfassung die Regel ist, weil z.B. zwischenzeitliche Ausreisen gemeldeter Personen verspätet registriert werden. Die niedrigere Zahl liefert die amtliche «Bevölkerungsfortschreibung» des Mikrozen­sus’ 2011. Allerdings wird hier nur nach Alter, Geschlecht und Familienstand unterschieden und nicht nach Herkunft, Aufenthaltsstatus usw. Entsprechend wird hier verfahren: Alle Daten zum Verhältnis von Einwohner*innen mit und ohne deutschen Pass entstammen dem fortgeschriebenen Mikrozen­sus, alle Daten, die eine Differenzierung innerhalb der nichtdeutschen Bevölkerung mitteilen, entstammen dem Ausländerzentralregister.

Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Deutschlands betrug En­de 2021: 13,1%. Ende 2011, lebten 6,342 Millionen Ausländer*innen in Deutschland (7,9%). Der Anstieg um rund 4,5 Millionen Personen fand vor allem in den Jahren 2014-2016 statt (vgl. Tabelle 1).

Regionale Differenzierung

Den höchsten Ausländeranteil weist die Statistik für die drei Stadtstaaten aus: Berlin 20,2%, Bremen 19,2%, Hamburg 17,2%; dann folgt Hessen mit 17,1% vor Ba­den-Württemberg 16,4%, Nordrhein-Westfalen 14,2% und Bayern 14,1%. Die ostdeutschen Länder liegen mit einem Anteil ausländischer Bevölkerung zwischen fünf und sechs Prozent weit unter dem Durchschnitt, hatten aber seit 2011/2014 bis 2021 die höchsten Zuwachsraten (vgl. Tabelle 2).

Unter den deutschen Großstädten hat Frankfurt/M. den höchsten Anteil nichtdeutscher Bürge­r*innen (30% Ende 2021), in München waren es zum gleichen Zeitpunkt 28,8%, in Stuttgart 26%, in Köln 19,3%, in Dortmund 19,7%, in Leipzig 11,1% oder in Dresden 9%.

Insbesondere in den größeren Städten Westdeutschlands wiegt, mit Blick auf den Anteil der nichtdeutschen Einwohner*innen, der Ausschluss an Wahlen demokratietheoretisch und -praktisch schwer.