News | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Globalisierung - Cono Sur - Brasilien / Paraguay EU-Mercosur: Keine Win-Win-Situation für Wirtschaft und Umwelt

Wird das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur nach über 20 Verhandlungsjahren nun unterzeichnet?

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Andreas Behn,

Detox Handelspolitik: EU-Mercosur-Abkommen stoppen! Protestaktion vor dem Kanzleramt, 10.11.2022
Detox Handelspolitik: EU-Mercosur-Abkommen stoppen! Protestaktion vorm Kanzleramt, 10.11.2022, CC BY-NC-SA 2.0, Uwe Hiksch, via Flickr

Der Regierungswechsel in Brasilien hat der Schaffung einer der größten Freihandelszonen weltweit neuen Schwung gebracht: Nachdem der rechtsextreme Ex-Präsident Jair Bolsonaro die Regionalmacht vier Jahre lang politisch, ökologisch wie ökonomisch in die Isolation trieb, gilt sein Nachfolger Lula da Silva als verlässlicher Partner in der internationalen Zusammenarbeit. «Wenn alles klappt, ist der Vertrag bis Mitte dieses Jahres unter Dach und Fach», erklärte der Mitte-Links-Politiker anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz in Brasilien. Soziale Bewegungen und Gewerkschaften hingegen warnen vor einem weiteren Abbau von Arbeitsrechten und kritisieren, dass das Abkommen Brasiliens Rolle eines Rohstofflieferanten festschreibt und die dringend notwendige Industrialisierung erschwert.

Andreas Behn leitet das Regionalbüro Brasilien/Paraguay der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.

Die Befürworter*innen des Freihandelsvertrags sind optimistisch. Unterhändler*innen aus Europa und den Mercosurstaaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay haben bereits einen unterschriftsreifen Text vorgelegt und preisen Wachstumschancen von mehreren Prozentpunkten für beide Regionen an. Unternehmenskreise beiderseits des Atlantiks drängen seit langem auf eine Unterzeichnung. Seitens der EU steht der direkte Zugang zum südamerikanischen Markt insbesondere für Industrieprodukte im Mittelpunkt, auch um eine Alternative für die Exporte nach China und Russland aufzubauen. Und die südamerikanischen Flächenstaaten wollen die Absatzchancen ihres Agrarbusiness verbessern, insbesondere durch höhere Exportquoten bei Fleisch, Soja oder Mais. Gern wird dies als eine Win-Win-Situation bezeichnet, zuletzt auch von Wirtschaftsminister Robert Habeck während seiner Brasilienbesuchs im März dieses Jahres. Einzelne Vorbehalte wie beispielsweise seitens der französischen Bäuer*innen gegen die übermächtige Agrarkonkurrenz aus dem Süden oder seitens der brasilianischen und argentinischen Autoindustrie gegen eine Importflut aus dem Norden werden das Ankommen wohl kaum verhindern.

Dennoch hält das Tauziehen um einzelne Klauseln an, und hinter den Kulissen wird weiter hart verhandelt. So will die EU noch einige Zusätze zu strengeren Umweltauflagen in das Abkommen integrieren, was von südamerikanischer Seite als unfaires Handelshemmnis kritisiert wird. Mit dem durchaus richtigen Verweis auf unzureichende Anstrengungen der EU in Sachen Klimaschutz will Brasiliens Regierung keine neuen Auflagen für die eigene Agrar- oder Bergbauindustrie, obwohl diese beiden Sektoren einen großen Teil der Verantwortung für die zunehmende Abholzung des Amazonasurwalds tragen. Und auch Lula fordert Nachverhandlungen. Beispielsweise bei der Liberalisierung im Bereich öffentlicher Aufträge, in dem Brasilien befürchtet, einer Konkurrenz europäischer Anbieter*innen nicht gewachsen zu sein.

Allerdings hat Lula derzeit keine gute Ausgangsposition für weitere Verhandlungen. Angesichts eines nur knappen Wahlsieges im vergangenen Oktober ist er auf das Wohlwollen rechter Parteien und des Unternehmertums insbesondere im Agrarbusiness angewiesen. Und auch international ist er politisch wie wirtschaftlich auf Rückendeckung angewiesen, um den nach wie vor starken rechtsextremen Kräften im Land die Stirn bieten zu können. Dies bedeutet, dass Forderungen seitens der Zivilgesellschaft nach besseren arbeitsrechtlichen und ökologischen Standards sowie nach mehr sozialer Gerechtigkeit im Vertragstext bei Lula und seiner Arbeiterpartei PT zwar Gehör finden, aber angesichts des Zugzwangs nicht wirklich in Neuverhandlungen aufgenommen werden.

Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen kritisieren, dass der Freihandelsvertrag, der einen generellen Zollabbau von über 90 Prozent festschreibt, die schon bestehenden ökologischen und ökonomischen Probleme in der Mercosur-Region weiter verschärfen würden. Der industrielle Sektor, der seit Jahren schrumpft, werde weiter unter Druck geraten, tausende Arbeitsplätze seien in Gefahr und Löhne sowie Arbeitsbedingungen dürften damit noch prekärer werden. «Die zusätzliche Nachfrage nach Agrarprodukten wird auch in diesem Sektor die Arbeitsbedingungen verschlechtern», sagt der Gewerkschaftsführer Quintino Severo vom Dachverband CUT voraus. Zudem sei eine Erhöhung der Nahrungsmittelpreise im Inland zu befürchten, so Severo.

Andererseits würde der Rückenwind für das Agrarbusiness die Ausweitung von Monokulturen und Pestizideinsatz befeuern. Die erwartete Expansion werde weitere Abholzungen zur Folge haben und die Vertreibung von Indigenen und anderen traditionellen Gemeinschaften vorantreiben – samt Menschenrechtsverletzungen und Bedrohungen von Umwelt- und Klimaaktivist*innen, kritisieren die Agrarbewegungen von Vía Campesina. Ein Szenario, das alles andere als eine Win-Win-Situation darstellt und auch das deutsche Streben nach einer Partnerschaft für eine grüne Energiewende in Frage stellt.