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Lily Lynch über das Ende einer Ära in Montenegro

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Lily Lynch ,

Der damlas noch amtierende Präsident von Montenegro, Milo Đukanović beim NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022.
Der damlas noch amtierende Präsident von Montenegro, Milo Đukanović beim NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022. Foto: IMAGO / Agencia EFE

In Montenegro nennen sie es «die Götzendämmerung»: Milo Đukanović, der Mann, der beinahe 33 Jahre regierte, hat am 2. April die Präsidentschaftswahl im zweiten Wahlgang verloren. Der am längsten amtierende europäische Staatsmann – Radio Free Europe bezeichnete ihn als den «schlausten Mann auf dem Balkan» – wird nun wahrscheinlich von der politischen Bühne verschwinden. Welche Folgen das für das Land hat, ist Gegenstand intensiver Debatten. Die einen – wie Montenegros liberale Atlantiker*innen und viele Minderheiten – sehen in der Niederlage einen Sieg für Putin, der die Unabhängigkeit des Staates gefährdet. Für die anderen wiederum – darunter der große serbische Bevölkerungsanteil und eine vielfältige Gruppe von Montenegriner*innen – bedeuten diese Wahlen das Ende der Diktatur.

Lily Lynch ist Chefredakteurin des Magazins «Balkanist».

Seinen Kritiker*innen zufolge ist Đukanović ein autoritärer Machthaber, der Montenegro in einen autoritären Mafiastaat verwandelte, in dem Kriminalität und Korruption grassierten, Nepotismus herrschte, kritische Journalist*innen nicht nur angegriffen, sondern auch ermordet und ethnische wie religiöse Spannungen geschürt wurden. All dies tolerierte der Westen, weil Đukanović angeblich Stabilität garantierte und bereit war, die außenpolitischen Ziele der USA in der Region zu verwirklichen (wie den NATO-Beitritt vor einigen Jahren).

Vom Verbündeten zum Gegner Miloševićs

Der ehemalige Basketballspieler Đukanović stieg in den späten 1980er Jahren als Anhänger von Slobodan Miloševićs «antibürokratischer Revolution» in den politischen Rängen auf: Dieser Umsturz innerhalb der Herrschaftselite verdrängte alte politische Kader und konzentrierte die Macht bei jenen, die der Führung der Sozialistischen Republik Serbien treu waren. Mit Miloševićs Segen wurde der junge Politiker 1991 zum montenegrinischen Ministerpräsidenten ernannt. Später in diesem Jahr zog Montenegro internationale Kritik auf sich, weil es die kroatische UNESCO-Welterbe-Stadt Dubrovnik bombardierte, eine Militäroperation, die auf die Unabhängigkeitserklärung Kroatiens folgte und die serbische Minderheit schützen sollte. Die Belagerung von Dubrovnik wurde in Montenegro damit gerechtfertigt, dass Jugoslawien vor dem kroatischen Faschismus zu schützen sei. «Ich spiele nie wieder Schach», sagte Đukanović damals, und bezog sich damit auf das Karomuster der kroatischen Flagge.

Sechs Jahre später vollzog Đukanović eine Kehrtwende und erklärte sich zum Milošević-Gegner. Dieser Gesinnungswandel erfolgte, nachdem das Oppositionsbündnis Zajedno 1996 in Serbien Massen gegen Milošević mobilisieren konnte und Đukanović zu dem Schluss kam, die Tage des serbischen Regierungschefs seien gezählt. Doch auch andere Faktoren spielten dabei eine Rolle: seine langjährige Animosität gegenüber Miloševićs mächtiger Frau, Mira Marković, sowie die Umwerbungsversuche aus Washington. Die US-Regierung wollte ihn als Gegengewicht zu Milošević aufbauen. 1997 gewann Đukanović die Präsidentschaftswahl mit knapper Mehrheit. Es kursierten Behauptungen, dass es bei den Wahlen zu Unregelmäßigkeiten und Einschüchterungsversuchen gekommen sei. Die USA erkannten seinen Sieg sofort an.

Erzürnt über Đukanovićs Verrat, kürzte Milošević den Behörden des montenegrinischen Teilstaats die Haushaltsmittel. Doch der Westen sprang in die Bresche. Zwischen 1999 und 2001 erhielt Montenegro von den USA und der Europäischen Union 765 Millionen D-Mark. Da Đukanović und sein innerer Kreis die Entwicklungshilfe koordinierten, konnten sie Netzwerke von Vetternwirtschaft und Klientelismus dauerhaft etablieren. Đukanović riss außerdem die Kontrolle über lukrative Schmuggelrouten an sich, mit denen die Sanktionen gegen Jugoslawien umgangen wurden, und knüpfte weitreichende Verbindungen zur organisierten Kriminalität. Er verwaltete ein riesiges Schmuggelnetzwerk, mit dem unter anderem Zigaretten mit Schnellbooten in die italienische Hafenstadt Bari geschleust wurden. Die EU verstand schnell, dass diese Machenschaften sie jährlich Milliarden an Steuereinnahmen kosteten – und die italienische Staatsanwaltschaft brannte darauf, Đukanović anzuklagen, «einer mafiaartigen Vereinigung anzugehören und sie angeregt, geleitet und organisiert zu haben». Đukanovićs diplomatische Immunität schützte ihn jedoch, und hinter verschlossenen Türen setzten sich die USA bei der italienischen Regierung für ihn ein.

Der Weg in die Unabhängigkeit

Nachdem Milošević 2000 gestürzt wurde, erkannte Đukanović, dass er seinen strategischen Wert für den Westen weitgehend eingebüßt hatte. Er machte sich daran, sich und seine Demokratische Partei der Sozialisten Montenegros (DPS) neu zu erfinden. Er verpasste der Partei ein liberales Gewand (frei von linken Erblasten) und inszenierte sich – zu einer Zeit, als Montenegro und Serbien noch in der Bundesrepublik Jugoslawien vereint waren – als Kämpfer für eine unabhängige montenegrinische Nation. So entstand ein schwerwiegender Identitätskonflikt: Als «montenegrinisch» galten nun die Unterstützer*innen der Unabhängigkeitsbewegung, während eine «serbische» Identität der Unterstützung für einen geeinten Staat gleichkam. Vor dem Unabhängigkeitsreferendum 2006 umwarb die DPS die albanischen, bosnischen und kroatischen Minderheiten und bediente sich einer Rhetorik des Multikulturalismus, weniger aus echter Überzeugung denn aus politischem Kalkül. Es brauchte meist nicht viel Überredungskunst, um diese Bevölkerungsgruppen für eine Trennung von Serbien zu begeistern, und am Tag des Referendums stimmten 55,5 Prozent für die Unabhängigkeit, während 44,5 Prozent den Staatenbund erhalten wollten. Das winzige Montenegro – mit einer Bevölkerung von 615 000 – war nun wieder ein unabhängiges Land.

Von da an konsolidierte Đukanović seine Macht, indem er Gegner*innen als Bedrohung für Montenegros Unabhängigkeit darstellte. Insbesondere hatte er es auf die serbische Bevölkerung abgesehen. In den Balkanstaaten wird serbischer Nationalismus oft mit Sympathien für den Kreml in Verbindung gebracht – eine Annahme, die Đukanović dazu nutzte, die Serb*innen als Bedrohung für Montenegros modernisierenden, euro-atlantischen Kurs darzustellen. Die Minderheit wurde als fünfte Kolonne, also als Staatsfeindin dargestellt, als neofaschistischer Block – und war daher in nationalen und lokalen Regierungsgremien deutlich unterrepräsentiert. Immer wieder beschwerten sich Serb*innen über die Benachteiligung bei Wahlen und andere Formen politischer Ausgrenzung. Auch der Bezug von Sozialleistungen hing häufig von der Unterstützung für die DPS ab.

Während Đukanovićs Übergriffigkeit von den Gegner*innen im eigenen Land kritisiert wurde, wurde sein Programm im Ausland gelobt. Robert Gelbard, der frühere US-Sondergesandte für den Balkan, bezeichnete ihn als einen «echten Helden», weil er «Montenegro als einen unabhängigen, demokratischen Staat errichtet hat – als ein Land, das auf starken demokratischen Werten und marktwirtschaftlichen Prinzipien beruht und eine Zukunftsvision hat, die mit der Weltsicht der USA übereinstimmt». John McCain beschrieb Đukanovićs Kampf für die montenegrinische Unabhängigkeit als «das größte europäische Demokratieprojekt seit dem Ende des Kalten Krieges». Der aufgeklärte Westen feierte Đukanovićs Austeritätspolitik und die Privatisierung des Staatsvermögens.

Vom Werben um Russland zum NATO-Beitritt

Die Ironie besteht darin, dass der heute als eifriger NATO-Verfechter bekannte Đukanović seine frühe politische Karriere damit verbrachte, um Russland zu werben. In den Jahren nach Miloševićs Sturz zögerte der Westen zunächst, ein unabhängiges Montenegro zu unterstützen, aus Angst, die fragile neue demokratische Koalition in Belgrad zu gefährden. Also suchte Đukanović woanders Unterstützung. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2006 war Russland eines der ersten Länder, das Montenegro als souveränen Staat anerkannte. Putin schätzte den Wert russischer Investitionen damals auf zwei Milliarden US-Dollar – was zu der Zeit in etwa der gesamten Wirtschaftsleistung Montenegros entspracht. Russ*innen erwarben zudem einen mehrheitlichen Anteil an Montenegros Industriesektor sowie riesige Abschnitte der adriatischen Küstengebiete. Bald schon war jede dritte Yacht in Montenegro in russischer Hand.

Mit der Annexion der Krim kühlte das Verhältnis spürbar ab. Montenegro schloss sich den EU-Sanktionen gegen Moskau an. Während Đukanović schon lange öffentlich die Möglichkeit eines NATO-Betritts in Aussicht stellte, verlieh der Krieg in der Ukraine diesem Anliegen plötzlich eine größere Dringlichkeit. Die Umstände des Beitritts waren dramatisch: Die montenegrinischen Behörden behaupteten, bei den richtungsweisenden Parlamentswahlen im Oktober 2016 sei es zu einem von Russland orchestrierten Putschversuch gekommen, dessen Ziel die Ermordung Đukanovićs und die Verhinderung des Beitritts zur transatlantischen Militärallianz gewesen sei. Die Opposition äußerte Zweifel an diesem Narrativ und bezeichnete es als die «billige Inszenierung eines Staatstreichs», die darauf abzielte, Đukanovićs Macht in einem Moment zu stärken, in dem er vor einer möglichen Wahlniederlage stand. Es half nichts. Einmal mehr ging Đukanović siegreich hervor, und im Juni 2017 trat Montenegro der NATO bei.

In der jüngeren Vergangenheit drehten sich die Spannungen zwischen der serbischen Bevölkerung und Đukanović um die mächtige serbisch-orthodoxe Kirche, zu der sich rund 70 Prozent der Bevölkerung bekennen. Im Dezember 2019 verabschiedete das Parlament Đukanovićs kontroverses «Gesetz über die Religionsfreiheit», das es dem Staat erlaubt, Immobilien, die nach 1918 in den Besitz der Kirche gelangt sind, zu verstaatlichen. In ganz Montenegro fanden Proteste in Form von öffentlichen Gottesdiensten und Prozessionen statt. Von dieser Missstimmung waren auch die Parlamentswahlen 2020 geprägt. Die Kirche hatte eine Kampagne lanciert, deren Ziel es war, «irgendwen, nur nicht die DPS» zu wählen und damit die Regierungspartei zu entmachten. Das Ergebnis war ein beispielloser Sieg der Opposition, die sowohl russland- als auch EU-freundliche Blöcke hinter sich vereinen konnte und 50,7 Prozent der Wählerstimmen davontrug. Obwohl Đukanović im Amt blieb, schusterten seine Herausforder*innen eine neue, fragile Regierung zusammen, die sofort in die Krise geriet. Sie wurde nach nur wenigen Monaten von einem Misstrauensvotum gestürzt. Die nachfolgende Regierung ereilte dasselbe Schicksal.

Montenegro nach Đukanović

Obwohl die Opposition bisher krisengeplagt war, ist die DPS in einem anhaltenden und rasanten Abstieg begriffen. In den Kommunalwahlen letztes Jahr verlor sie in elf von vierzehn Gemeinden, und für die bevorstehenden Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres wird ein ähnlich schwaches Ergebnis erwartet. In der jüngsten Präsidentschaftswahl wurde Đukanović von Jakov Milatović geschlagen, einem 36-jährigen Ökonomen, der in Oxford studiert hatte und als Kandidat für Europa Jetzt!, seine neue pro-europäische Partei der Mitte, antrat. Milatović, dessen Kampagne sich auf die Korruptionsbekämpfung konzentrierte, war seit dem Sieg der Opposition 2020 Wirtschaftsminister gewesen. In seiner Amtszeit hatte sich der Mindestlohn mehr als verdoppelt – die größte Erhöhung in der Geschichte Montenegros. Aber diese – von den COVID-19-gebeutelten Bürger*innen begrüßte – Reform hatte ihren Preis: Das Bruttogehalt beinhaltet keine obligatorischen Krankenkassenbeiträge mehr. Anders gesagt: Der Teil, der vorher für eine Gesundheitsversorgung an den Staat fiel, geht jetzt direkt in die eigene Tasche. Milatovićs Wirtschaftsprogramm will die Gesundheitsversorgung für alle beibehalten und sie anders finanzieren – bloß wie genau, das gilt es noch zu klären. Derweil tragen die steigenden Staatsausgaben zur steigenden Staatsverschuldung bei.

Đukanović bezeichnete die politischen Reformen seines Kontrahenten als gefährlichen Wirtschaftspopulismus, der die Stabilität der Staatsfinanzen in Gefahr bringe und ein «Griechenland-Szenario» auszulösen drohe (der Vorwurf des Populismus ist allerdings fragwürdig, denn Milatović ist ein farbloser Technokrat, der Jahre bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung gearbeitet hat). Weiter behauptete er, dass Milatović ein Verfechter des serbischen Nationalismus sei, der den Westen hinters Licht geführt habe und glauben lasse, er sei ein harmloser Liberaler. Ein Paradebeispiel für Schuld durch Assoziation: Weil viele Serb*innen Milatović als willkommene Alternative zu Đukanović unterstützten, muss Milatović wohl ein ultranationalistischer Extremist sein. In diesem Sinne beruhte Đukanovićs Wahlkampf darauf, die Unterscheidung zwischen kremlfreundlichen und europäisch ausgerichteten Parteien zu Fall zu bringen, indem er alle zusammen als verkappte serbische Nationalist*innen darstellte, die es darauf abgesehen hätten, Montenegro in ein «Großserbien» zu integrieren.

Milatovićs Sieg war am Ende weniger eine Entscheidung für sein politisches Programm denn die entschiedene Zurückweisung von Đukanovićs Narrativ. Mitglieder der pro-russischen Demokratischen Front genauso wie kleinerer europafreundliche Parteien standen vereint hinter der Opposition, wie die unterschiedliche Verteilung der Wählerstimmen in den beiden Wahlgängen deutlich macht. In der ersten Runde vom 19. März erhielt Đukanović 35 Prozent und Milatović 29 Prozent. Bei der Stichwahl hingegen erhielt Đukanović 41 Prozent, während Milatović beinahe 60 Prozent erreichte. Đukanović war mit seiner polarisierenden Strategie klipp und klar gescheitert. 16 Jahre nach der Unabhängigkeit hatte er mit seinem Versuch, montenegrinische Patriot*innen und Serb*innen gegeneinander aufzuhetzen, keinen Erfolg mehr. Stattdessen fanden sich Wähler*innen aus verschiedenen ethnischen und ideologischen Zusammenhängen zu einer Mehrheit zusammen, um ihm aus dem Amt zu jagen. Ob sein Nachfolger seine Versprechen halten wird – mit Montenegros kleptokratischem System aufzuräumen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln –, ist eine andere Frage.
 

Es handelt sich um die deutsche Erstveröffentlichung des Texts «Đukanović’s Defeat», der zuerst bei «Sidecar», dem Blog der «New Left Review», erschien. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt.

Übersetzung von Tabea Magyar und André Hansen für Gegensatz Translation Collective.