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Zu den Ergebnissen der Parlamentswahl am 21. Mai 2023

Information

Wahlen in Greichenland 2023

Die rechte Nea Demokratia (ND), die seit 2019 regierte, hat einen überwältigenden Sieg errungen. Griechenlands Landkarte hat sich blau gefärbt (die Parteifarbe der ND), da sie in 51 der insgesamt 52 Präfekturen vorne liegt. Die ND kam auf 40,8% der Stimmen (d.h. sie hat ihre Stimmanteile entweder beibehalten oder leicht erhöht). Die zweitstärkste Partei, die Synaspismos Rizospastikis Aristeras (SYRIZA), ist auf 20% abgestürzt (11% Verlust). Es handelt sich um einen Triumph der ND, vor allem wenn man berücksichtigt, dass dieses Ergebnis nach vierjähriger Regierungszeit kommt, die durch vieles belastet worden ist (Korruption, Abhörskandal, Teuerung usw.). Das Wahlergebnis enthält mehrere Einzelelemente, wie z.B. eine deutliche Verbesserung für die sozialdemokratische PASOK, aber auch für die (orthodoxe) KKE, das Versagen der linksradikalen MERA ins Parlament einzuziehen, die Zunahme der rechtsextremen, «verschwörerischen» Elliniki Lysi und die nicht unbeträchtliche Präsenz einer Vielzahl von rechtsextremen Gruppierungen. In Betracht des Triumphs der ND und der schweren Niederlage der SYRIZA erscheint das alles aber als fast unwichtig: Diese zwei Elemente bringen eine radikale Umstrukturierung der politischen Landschaft mit sich, indem sie das günstige Umfeld für die Dominanz der Rechten schaffen.

Vier Jahre Rechte mit Kyriakos Mitsotakis, 2019-2023

In der Parlamentswahl vom Juli 2019 hat die rechte Nea Demokratia mit 40% gegen 31,5% der SYRIZA einen großen Sieg errungen. Ihr Vorschlag («Privatinvestitionen, weniger Steuern, Sicherheit») orientierte sich an eine mächtige «Anti-SYRIZA»-Bewegung. Die SYRIZA, eine Partei der radikalen Linken, hat nach der Regierungsbildung im Januar 2015 (in Koalition mit der populistischen Rechten der ANEL) einen Kurs Richtung Mitte eingeschlagen, der durch den «Kompromiss» vom Juli 2015 – die Unterzeichnung des Memorandums mit den europäischen Gläubigern, die einen großen linksgerichteten Teil der Partei zum Austritt trieb – bestätigt wurde. Trotzdem hat die Tatsache, dass eine linke Partei zur Macht kam, heftige Reaktionen im Status-Quo ausgelöst, was zur Bildung einer mächtigen Anti-SYRIZA-Front führte, die Neoliberalismus, Konservativismus, proeuropäische Ausrichtung, Nationalismus und traditionellen Antikommunismus vereinte. Dieser heterogenen parteiübergreifenden Bewegung hat die ND, mit Kyriakos Mitsotakis an der Spitze, durch ihren Sieg Ausdruck verliehen.

Die rechtsorientierte Regierungsweise hat neoliberale Elemente (Abschaffung des Achtstundentags, Abschwächung des Nationalen Gesundheitssystems und der Vorbeugung von Waldbränden, Deregulierung der Energie, Beihilfen gegen die Teuerung statt Erhöhung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen, Reduzierung der Unternehmenssteuern), die alte Rechte (Korruption, Vergabe öffentlicher Aufträge an regierungsnahe Unternehmer, Verschleierung von Skandalen),  sowie die extreme Rechte (Pushbacks gegen Flüchtlinge in der Ägäis,  anti-migrantische Rhetorik und Praxis, Verherrlichung der Polizeirepression und der Militärausgaben) vereint.

Diese Politik basierte auf eine stark zentralisierte Machtstruktur um den Ministerpräsident, die Markttechnokraten, ehemalige Funktionäre der Zentrumslinken und einen Kern ehemaliger rechtextremer Minister, die ferner Trump-Anhänger waren und guten Draht zur Parteibasis hatten, einsetzte. In diesem Rahmen hat sich Mitsotakis als «Viktor Orbán und Emmanuel Macron in einer Person» erwiesen (laut Bezeichnung von Prof. Dimitris Christopoulos, s. Νeues Deutschland, 19.05.2023). Da die Opposition der SYRIZA einerseits schwach ausfiel, weitgehend wahlorientiert war und vom Programm der letzten Jahre abwich, das die Rechte der Bürger*innen förderte und antinationalistisch war, und da andererseits die Medien skandalös manipuliert wurden, ist die ND mächtig geblieben – trotz der offensichtlichen Korruption und den Misserfolgen im Krisenmanagement, wie z.B. die Waldbrände von 2020 und die hohe Sterberate in der Pandemie. Seit 2022 enthüllt sich ein Abhörskandal ohnegleichen. Journalisten, hochrangige Offiziere, Minister, selbst der Europaabgeordnete Nikos Androulakis, Vorsitzender der drittgrößten Partei, der sozialdemokratischen PASOK-KINAL, wurden durch den griechischen Geheimdienst unter Nutzung einer illegalen Software abgehört. Die Verantwortung der Regierung, des Ministerpräsidenten und seiner engen Mitarbeiter sowie die Verschleierung des Skandals durch regierungsnahe Medien und die Justiz wurden durch Recherchen und den Ergebnisbericht des PEGA-Untersuchungsausschuss belegt.  

Bis Ende Februar hat alles für einen langweiligen Wahlkampf gesprochen. Der Zusammenstoß von zwei Zügen am 1. März, bei dem so viele Menschen ums Leben gekommen sind, hat die griechische Gesellschaft zutiefst erschüttert und Massendemonstrationen hervorgerufen, die die Verantwortung der Regierung und die Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur in den Mittelpunkt stellten. Über mehrere Tage haben die Streiks und Massenproteste, vor allem junger Leute, gezeigt, dass sie vielleicht das erreichen könnten, was die Studentendemonstrationen und Arbeitskämpfe der drei vergangenen Jahre nicht geschafft hatten. Die Botschaft dieser Demonstrationen mit ihren «anti-systemischen» Merkmalen wurde aber schnell von den staatlich kontrollierten Medien verschwiegen, in dem Versuch, die Agenda zu ändern.

Erste Bewertung des Wahlergebnisses

ND

Die ND hat mit einer doppelten Botschaft den Wahlkampf geführt. Gerichtet an die Vermögensbesitzer hat sie die Rückkehr zum Niveau vor der Krise versprochen – sowohl was die finanziellen Größen als auch das politische Klima («Stabilität») betrifft. Gerichtet an die Volksbasis der Partei und die konservativen Gesellschaftsschichten hat sie Sicherheitsfragen (hauptsächlich die Migranten- und Flüchtlingsfrage) vorangestellt, in Verbindung mit einer anti-linken Rhetorik. Dass sie, laut Exit Polls, in der Altersgruppe 17-24 vorne liegt – einer Gruppe, in der bisher SYRIZA dominant war – ist eines der aussagekräftigsten qualitativen Elemente der Wahlen und signalisiert eine allgemeine Wende nach rechts. Das Ergebnis ist ein Triumph für die ND und den Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis und eine schwere Niederlage für die Arbeitswelt, die Jugendlichen und die Arbeitslosen, da es die Voraussetzungen für die Festigung der Rechten und das Vordringen der konservativ-neoliberalen Kräfte schafft.

SYRIZA

Die SYRIZA ist der große Verlierer. Der Absturz ihrer Stimmanteile und der große Abstand zur ND signalisieren eine klare Missbilligung ihrer Taktik in den letzten Jahren – dass sie sich, nämlich, auf gesellschaftlicher Ebene an die «Mittelschicht» und auf politischer Ebene an die PASOK und die Andersdenkenden in der ND als privilegierte Partner einer Koalitionsregierung gewendet hat. Gleichzeitig hat SYRIZA-Vorsitzender, Alexis Tsipras, eine Regierungsbildung durch die Parteien der Linken ausgeschlossen, falls die SYRIZA nicht Wahlsieger geworden wäre. Zugleich hat er die Differenzen zur MERA25 von Gianis Varoufakis hervorgehoben, weil er moderaten Wählern die Botschaft der «Verantwortlichkeit» vermitteln wollte. Die Wahlkampagne der Partei hat sich auf das «Auseinandernehmen» des ND-Vorsitzenden fokussiert und eine negative Botschaft gesendet. Das schwere Debakel vom 21. Mai ist das vierte in Folge für Alexis Tsipras (nach der Kommunalwahl, der Europawahl und der Parlamentswahl von 2019) und natürlich trägt er auch die Verantwortung dafür.

PASOK

Wegen der Abhörung ihres Vorsitzenden, Nikos Androulakis (Abhörskandal), hat die PASOK im Wahlkampf die Töne gegen die ND verschärft, gleichzeitig aber die «Freundschaftsoffensiven» der SYRIZA systematisch zurückgewiesen. Sie verzeichnete signifikante Gewinne, mit einem Stimmenanteil von 11,5% (im Vergleich zu 8,1% in 2019). Indem sie über diesen Erfolg feiert, scheint sie die entscheidende Tatsache, dass die ND gesiegt hat, aus den Augen zu verlieren. Sie betrachtet die SYRIZA als den großen Gegner im zentrumslinken Spektrum, was in der nächsten Zeit zu einer Verschärfung der Spannung zwischen den zwei Parteien führen könnte.

KKE

Mit 7,2% hat die KKE ihre Kräfte im Vergleich zu 2019 (5,3 %) verstärkt. Sie hat eine führende Rolle im Spektrum links der SYRIZA gewonnen, indem sie als «konsequente» Macht erschienen ist, vor allem was Einkommensfragen angeht. Ferner hat sie eine starke Präsenz in der Arbeitsnehmerwelt gesichert, indem sie einen Kampf an zwei Fronten geführt hat: gegen die ND und gegen die SYRIZA.

ELLINIKI LYSI (GRIECHISCHE LÖSUNG)

Ein Zeichen für die allgemeine Wende nach rechts war die Stärkung der rechtsextremen «Elliniki Lysi»/«Griechische Lösung» (4,5% im Vergleich zu 3,7% in 2019), die auch die Stimmen der Impfgegner beansprucht hat. Ein bemerkenswerter Erfolg, wenn man den Druck seitens der ND und die Konkurrenz seitens der neuen und älteren rechtsextremistischen Parteien in Betracht zieht.

Parteien, die nicht ins Parlament eingezogen sind

Die «Plefsi Eleftherias»/«Freiheitskurs» der ehemaligen Parlamentspräsidentin und des ehemaligen SYRIZA-Mitglieds Zoi Konstantopoulou, die für Nationalismus plädierte und eine giftige Anti-SYRIZA-Kritik übte, hat mit 2,9% die Drei-Prozent-Hürde knapp verfehlt. Die MERA25 des ehemaligen SYRIZA-Finanzministers Gianis Varoufakis, die sich mit einer radikal antisystemischen Rhetorik an die NEIN-Anhänger*innen des Referendums von 2015 und die Jugendlichen richtete, ist auf 2,6% gekommen. Die Partei konnte dem Druck, unter dem sie wegen bestimmten Punkten ihres Programms, wie z.B. das alternative Transaktionssystem «Dimitra» geriet, nicht standhalten. Auch die rechtsextremistische Partei Niki (2,9%) hat die Drei-Prozent-Hürde nur knapp verfehlt, eine Partei, die von nationalen und parareligiösen Kreisen insbesondere in Nord-Griechenland unterstützt wird.

Die rechtsextremistischen Gruppierungen, die nicht ins Parlament einziehen, kommen insgesamt auf mehr als 6,5%. Die Parteien, denen der Einzug ins Parlament nicht gelungen ist, kamen insgesamt auf rund 15%, woran zu erkennen ist, dass die «Repräsentations-Krise», die sich während der Memoranden-Zeit intensivierte, noch nicht bewältigt ist.

Der nächste Tag

Alles deutet darauf hin, dass in ungefähr einem Monat eine neue Wahl stattfinden wird. Die ND hat nicht die Mehrheit der Sitze im Parlament sichergestellt und strebt eine Neuwahl an, damit sie- auch dank des neuen Wahlsystems, das jetzt in Kraft treten wird- eine mächtige, klare Mehrheit erreicht. Die Zwischenzeit zeichnet sich ereignisreich ab, in dieser neuen, von der Dominanz der Rechten geprägten Landschaft.