News | Südasien Khan gegen die Generäle

Tariq Ali über die Unruhen in Pakistan

Information

Author

Tariq Ali,

Anhänger*innen des ehemaligen Premierministers Imran Khan stoßen mit der Bereitschaftspolizei in der Nähe von Khans Haus in Lahore zusammen, um zu verhindern, dass die Beamt*innen ihn festnehmen, 16.03.2023. Foto: IMAGO / Pacific Press Agency

Bewaffnete Polizei belagerte Mitte Mai in Lahore das Haus des ehemaligen pakistanischen Ministerpräsidenten Imran Khan. Die Ranger – eine repressive Truppe aus Polizei und Armee, die unter ziviler Kontrolle steht – standen in Bereitschaft. Der Oberste Richter des Obersten Gerichtshofs entschied zwar, dass Khan nicht verhaftet werden sollte, dieser bezweifelt jedoch, dass er noch lange in Freiheit leben wird. Die gesamte Führung von Khans Partei Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit (Pakistan Tehreek-e-Insaf, PTI) sitzt derzeit hinter Gittern. Der Staat greift hart durch.

Tariq Ali ist Redaktionsmitglied der «New Left Review».

Damit eskaliert der politische Krieg zwischen der PTI auf der einen Seite und der Armee, ihren bevorzugten Politiker*innen und der nach Khans Entfernung aus dem Amt im April 2022 eingesetzten Regierung auf der anderen. Die neue Regierung ist im Wesentlichen ein Bündnis von Pakistans traditionell herrschenden Parteien, angeführt von Bhutto Zardari und der Familie Sharif. Seit ihrer Machtübernahme machte Khan wiederholt die USA für den parlamentarischen Putsch gegen ihn verantwortlich, der dadurch motiviert sei, dass er sich weigerte, die Interventionen in Afghanistan und der Ukraine zu unterstützen. Seitdem sind zahlreiche antiamerikanische Demonstrant*innen auf die Straße gegangen und haben seine Rückkehr gefordert.

Wer in Pakistan an der Macht ist, kann für gewöhnlich nur dann gewaltsam des Amtes enthoben werden, wenn der Rückhalt in der Bevölkerung wegbricht. Andernfalls bleiben nur zwei Optionen: Exil oder Justizmord. Zulfikar Ali Bhutto wurde nach einer knappen Abstimmung im Obersten Gerichtshof von vier gegen drei Stimmen hingerichtet, Nawaz Sharif ins saudi-arabische Exil getrieben, Benazir Bhutto unter mysteriösen Umständen zu Beginn eines Wahlkampfes ermordet. Und wie steht es um Khan? Meinungsumfragen zufolge kann er bei der nächsten Parlamentswahl einen deutlichen Sieg erwarten. Am 8. Mai entschieden eine nervöse – und keineswegs geeinte – Armeeführung und die ihr politisches Aus befürchtende Sharif-Regierung, Khan durch die Ranger verhaften zu lassen, während er wegen eines alten Korruptionsverfahrens vor dem Hohen Gericht erschien. Er wurde von dort aus direkt in ein Gefängnis verschleppt, in dem elende Zustände herrschen.

Der Kampf um die Macht

Kurz darauf veranlasste der Oberste Richter seine Freilassung und rügte die Verhaftung. Die Ereignisse am 9. Mai nahmen allerdings dramatische Ausmaße an. Tausende PTI-Anhänger*innen starteten einen Frontalangriff auf die Armee, drangen in die Kasernen in Lahore und Rawalpindi ein und zerstörten in Mianwali eine Flugzeugattrappe. Auf den Wohnsitz des Kommandanten des Lahore-Korps wurde ein Brandanschlag verübt. Laut Polizeiangaben wurde der Angriff von der 34-jährigen Khadija Shah angeführt. Sie ist eine der beliebtesten Modedesignerinnen in Lahore, Tochter eines ehemaligen Finanzministers und Enkelin von Asif Nawaz, einem früheren Generalstabschef der Armee. Für die Massen an Frauen, die sich an den jüngsten Demonstrationen beteiligten, wurde sie zur Ikone.

In Mardan, einer alten Stadt in der Provinz Pakhtunkhwa, kam es zu einem weiteren, überaus erstaunlichen Ereignis. Bei einer großen öffentlichen Versammlung zur sofortigen Freilassung des PTI-Chefs trat ein Mullah aufs Podium und bezeichnete Khan als «Paighamber» – als «Prophet». Das war in höchstem Maße Gotteslästerung. Alle Gläubigen akzeptieren, unabhängig von ihrer Konfession, den Propheten Mohammed als letzten Gesandten Gottes. War der arme Mullah von seinen Gefühlen überwältigt oder wollte er ganz bewusst provozieren? Wir werden es nie erfahren. Das Mikrofon wurde ausgeschaltet; die aufgebrachte Menge skandierte: «Tod, Tod, Tod.» Die Menschen, die mit ihm auf dem Podium standen, ergriffen den Mullah; er wurde zu Tode geprügelt. Problem gelöst?

Khans Kritik an der Armee und ihrer ständigen Einmischung in die pakistanische Politik (von der er selbst vor nicht allzu langer Zeit profitiert hatte) löste eine ernst zu nehmende Krise aus. Die Uniformierten sahen sich gedemütigt. Das letzte Tabu war gebrochen. Selbst in zuvor äußerst loyalen Gebieten wie der Provinz Panjab marschierten Aktivist*innen auf die Kasernen. Die Armee reagierte mit Massenverhaftungen und verkündete, dass politische Gefangene vor Militärgerichte gestellt würden. Diese drakonischen Maßnahmen werden von einem Großteil der Regierung gestützt, die – dumm und kurzsichtig wie eh und je – PTI-Abgeordnete ausschließen wollte, ein Beschluss, der vom Obersten Gerichtshof kassiert wurde. Die Strafen für Andersdenkende dürften hart ausfallen: Wer keine Beziehungen zur Elite hat, wird möglicherweise gehängt, um künftige Täter*innen abzuschrecken.

Was auch immer man von ihm halten mag, Khan ist der erste Staatschef, der die Armee öffentlich kritisiert und ihre Generäle beleidigt hat. Dabei ging er so weit, den Namen des Offiziers des Geheimdienstes ISI zu nennen, der ihn angeblich ermorden lassen wollte.

Wie wird das Militär auf diese beispiellose Herausforderung reagieren? General Zia bot Bhutto damals an, ins Exil zu gehen, was dieser verächtlich ablehnte. Der Oberste Gerichtshof ordnete daraufhin seine Hinrichtung an. Auch Khan könnte das Exil oder ein Militärprozess bevorstehen. Die Versuchung, ins Exil zu gehen, wird groß sein (seine beiden Söhne leben bereits mit ihrer Mutter in London), aber viel wird vom Rat seiner jetzigen Frau Bushra Bibi abhängen, die sich als spirituelle Anführerin sufistischen Glaubens ausgibt, aber genauso gern wie andere Politiker*innen «Geschenke» von Milliardär*innen annimmt. Der berüchtigtste Milliardär ähnelt einer Romanfigur von Mohsin Hamid: Der Selfmade-Mann Riaz Malik hat sämtliche großen Politiker*innen und Generäle im Land bestochen. Das ist ein offenes Geheimnis, und Khans eigene Geschäfte mit ihm sind Gegenstand eines Verfahrens vor dem Hohen Gericht, das derzeit ausgesetzt ist. Dabei geht es um den Qadir Trust, dessen wichtigste Treuhänder*innen Imran und Bushra Khan sind und der angeblich mit Maliks gewaschenem Geld errichtet wurde: Mehrere Millionen Pfund wurden von der britischen National Crime Agency aufgespürt und Pakistan zurückerstattet. Es heißt, das Geld sei Malik zurückgegeben worden, der eine viel größere Summe zur Verfügung gestellt habe, von der ein Großteil für eine «spirituelle» Sufi-Universität in London vorgesehen gewesen sei, und nur Allah weiß, wofür sonst noch. Hat das gesamte PTI-Kabinett dieses Projekt gebilligt, ohne den «versiegelten Umschlag» mit den Details zu öffnen? Ich kann es wirklich nicht sagen. (Wann kommt die Netflix-Serie?)

Die Aufgabe eines Militärgerichts wäre es, Khan für immer von der Politik auszuschließen. Die Richter würden wahrscheinlich davon absehen, ihn hinrichten zu lassen; nicht wegen moralischer Bedenken, sondern weil sie damit bürgerkriegsähnliche Zustände auslösen könnten. Khan ist nach wie vor bei zahlreichen Offizier*innen niederer wie höherer Dienstgrade beliebt, was in Kombination mit seinem Rückhalt in der Bevölkerung bedeutet, dass seine Gegner*innen vorsichtig vorgehen müssen. In dieser Phase kann die militärische Führung die Ordnung nicht wiederherstellen, indem sie auf traditionelle Sakralisierungen der Armee zurückgreift. Ihre Legitimitätskrise ist zu groß.

Korruption und Klientelismus

Seit der Unabhängigkeit des Landes glich die pakistanische Politik einem dauerhaft erkrankten Organismus. Kommerz und Kapitalismus, ausländische Hilfsgelder, staatlich gestützte Industriemonopole, illegale Import-Export-Abkommen und Geldwäsche: All das sorgte für eine andauernde Krise. Die Machthungrigen bekämpfen sich wie Raubtiere und weigern sich, bürokratische Auflagen, Steuern etwa, zu akzeptieren. Alle Mainstream-Politiker*innen arbeiten hart daran, die Kunst des Klientelismus zu kultivieren, indem sie eine loyale Anhängerschaft um sich sammeln. Letztere kann Personen auf den unteren Rängen Angebote machen, oft durch Staatsgelder, die aus den mammuthaften Militärhaushalten abgeschöpft werden. Prozentuale Provisionen sind in der herrschenden Elite weiterhin sehr beliebt.

Altmodische Korruption herrscht immer noch vor, aber das Internet macht vieles einfacher: Geschäfte erfordern kein Papier mehr, und die Reichen können ihre Beute besser verstecken. Nicht, dass heutzutage viel verborgen bliebe. Alle sehen, was passiert, und haben die Hoffnung auf Politiker*innen und ihre Kumpanei verloren. Khan ist in dreierlei Hinsicht eine Ausnahme: Er ist nicht mehr im Amt; er ist außenpolitischer Außenseiter und verweigert den USA die von ihr erwartete völlige Unterordnung; und er hat von der düsteren Wirtschaftslage des Landes profitiert. Pakistan hängt gnadenlos vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ab, die Inflation ist ungebrochen hoch, und das marode, nutzlose Bildungssystem setzt die Religion als Waffe ein, um Kinder davon abzuhalten, etwas Nützliches zu lernen (ganz im Gegensatz zum mittelalterlichen Islam, der unzählige Gelehrte, Astronomen, Mathematiker und Wissenschaftler hervorbrachte).

Die PTI ist für all das mitverantwortlich, aber zu ihrem Glück nicht mehr an der Macht. Aktuell bereiten sich zwei innerparteiliche Gruppen auf Khans politisches Ende vor. Die eine wird von Shah Mehmood Qureshi angeführt, der in den letzten Jahrzehnten in praktisch jeder Regierung gedient hat und für die Armee die sicherste Wahl wäre; der anderen steht Jehangir Tareen vor, der früher etwas radikaler war und eine starke Machtbasis in der Mittelschicht hat. Ob die PTI ohne Khan fortbesteht, bleibt offen. Die Armee hofft, dass alles wieder wie früher läuft, wenn sie mit ihm fertig ist, und die Regierungsparteien werden zweifellos ihre Türen für Überläufer öffnen. Es muss betont werden, dass keine politische Gruppe in Pakistan, ganz zu schweigen vom Militär, auch nur die geringste Veränderung der sozialen Verhältnisse anstrebt. Niemand setzt sich für eine gesellschaftliche Neuordnung ein. Wenn Menschen dennoch dafür auf die Straße gehen, dann ist und bleibt die Antwort Repression.
 

Es handelt sich um die deutsche Erstveröffentlichung des Textes «Khan Against the Generals», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von André Hansen und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective.