News | Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus Der große Krieg im Osten

Anmerkungen zum 22. Juni 1941. Von Holger Politt.

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Holger Politt,

I

Das letzte Diorama im neu gestalteten Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Moskau zeigt vor dem Hintergrund des brennenden Reichstags in Berlin zwei leblose Körper noch junger Soldaten – einen Rotarmisten und einen Wehrmachtsangehörigen. Die letzte Schlacht des Großen Vaterländischen Kriegs ist geschlagen, Deutschland hat kapituliert und die Kämpfe in Berlin sind eingestellt. Vor den beiden toten Soldaten steht eine Blumenvase, die zwei Rosen in zarten Farben enthält. Der Museumsführer erklärt einer Gruppe aus Moskauer Schülern und unterschiedlichen Alters, der deutsche Soldat täte ihm leid. Die Kinder wiederholen chorartig, ihnen auch. Ein tatsächlich ergreifender Moment einer Zeitreise durch jenen Krieg, der am 22. Juni 1941 begann und am 9. Mai 1945 endete, durch einen Krieg, den kein Russe gewollt hatte.

II

Das Bild der zwei im Tode einträchtig beieinander liegenden Kriegsgegner spannt den Bogen zum Heute. Denn Deutschland, so betont der Museumsführer, sei nun einer der wichtigsten und verlässlichsten Bündnispartner Russlands, habe sich gewandelt, so wie die Welt überhaupt. Damals aber, als der zweite, der Große Vaterländische Krieg tobte, sei die deutsche Wehrmacht der gefährlichste Gegner gewesen, der je das Land überfallen habe. Diese Armee sei vor dem Überfall auf die Sowjetunion von Sieg zu Sieg geeilt, allen in Technik und Ausrüstung überlegen gewesen und konnte auf ihrem Vormarsch erst durch die Rote Armee vor Moskau zunächst gestoppt und schließlich in aufopferungsvollen Kämpfen endgültig besiegt werden. Mehrmals hob er hervor, bei der siegreichen Roten Armee habe es sich nicht um die Armee Russlands, sondern um die der Sowjetunion gehandelt. Dabei würdigte er den Einsatz aller Sowjetvölker, die jedes für sich einen gewaltigen Anteil am Sieg gehabt hätten.

III

Das erste der Dioramen, mit denen die Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs nachgestaltet wird, stellt die Schlacht vor Moskau dar, wo zur Jahreswende 1941/42 die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg überhaupt ihre erste wirkliche militärische Niederlage einstecken musste. Von nun an begann für die Rote Armee ein Befreiungskrieg, der knappe dreieinhalb Jahre später am Spreeufer enden wird. Die Schlacht bei Stalingrad, die Schlacht im Kursker Bogen, die Dnestr-Überquerung markieren blutigste Meilensteine, bei denen die deutsche Kriegsmaschinerie jeweils entscheidend zurückgeworfen werden konnte. Wie stark und entschlossen der Gegner trotz dieser Niederlagen bis fast zum Schluss geblieben ist, machen Zahlen deutlich, die ein Schlaglicht auf die Schlussoffensive der Roten Armee vom Weichselufer bis nach Berlin werfen. Beide Seiten zusammen verloren bei den Kämpfen in der kurzen Zeit von Mitte Januar bis Anfang Mai noch einmal über anderthalb Millionen Soldatenleben, eine der vielen gewaltigen Zahlen dieses Krieges. Und sie verdeutlicht die unvorstellbare Kraftanstrengung, mit der Hitlerdeutschland besiegt werden musste. Zu dieser Zeit tobten bereits seit Monaten die Kämpfe an der Front im Westen Europas, mit der Deutschland von der anderen Seite in die Zange genommen wurde. Insgesamt verlor die Rote Armee in den 46 Monaten des vaterländischen Kriegs knapp 9 Millionen Soldaten. Ohne diesen Blutzoll hätte es eine Befreiung Europas vom deutschen Nationalsozialismus nicht gegeben.

IV

In die mörderische Falle ist das Land nicht ohne eigenes Zutun geraten, hatte sich seine politische Führung im August 1939 doch gezwungen gesehen, ein Bündnis mit Hitlerdeutschland einzugehen. Zwar lag zu diesem Zeitpunkt das System der Versailler Verträge, wie es nach dem Ersten Weltkrieg durch die siegreichen westlichen Mächte aus der Taufe gehobene wurde, längst in Scherben, doch feierlich besiegelt wurde das Ende von Versailles erst an der Demarkationslinie, mit der Hitler und Stalin den Bastard von Versailles, wie sie Polen verächtlich bezeichneten, gemeinsam für immer von der Landkarte zu tilgen dachten. Stalin gebrauchte für sein gefährliches Manöver das harmlos klingende Mäntelchen, die Rote Armee habe lediglich die in Polen unterdrückten nationalen Minderheiten der Ukrainer und Belorussen befreien wollen. Es sei dabei um Gebiete gegangen, die Polen nach 1918 widerrechtlich sich angeeignet habe, so dass lediglich einer historischen Gerechtigkeit zum Siege verholfen werde. Und das alles im Bunde mit den Deutschen, die Stalin wegen ihrer überragenden Stärke auf dem europäischen Kontinent mittlerweile als einzigen zählbaren Partner akzeptieren wollte. Den teuflischen Charakter, den das Bündnis mit Hitler von Anfang an gehabt hatte, ignorierte er selbstherrlich. Kaum zwei Jahre später waren die Verhältnisse indes völlig auf den Kopf gestellt.

V

Ab Herbst 1941 war auch dem letzten nüchtern denkenden politischen Beobachter klar, dass nur noch ein Sieg der Roten Armee und damit Stalins über den Angreifer die Chance eröffnen würde, Hitlerdeutschland und dessen Verbündete weltweit zu schlagen. Der Große Vaterländische Krieg, den Stalin ausgerufen hatte, schrieb nun mit blutiger Feder die meisten der entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Als Hitler im Dezember 1941 nur noch wenige Kilometer vor den Toren Moskaus stand, entschied sich Weltgeschichte. Und zwar gegen die nationalsozialistische Neuordnung Europas, gegen eine auf Rassenwahn, nackter militärischer Gewalt und brutaler Ausplünderung gegründeten Ordnung. Die weltweite Anti-Hitler-Koalition nahm Gestalt an und hatte mit der Roten Armee von Anfang an ihre wohl unbestritten wichtigste militärische Kraft. Der militärische Erfolg der so genannten zweiten Front, die im Juni 1944 in der Normandie durch die westlichen Alliierten eröffnet wurde, wäre ohne den Befreiungskampf der Roten Armee im Osten des Kontinents nicht denkbar gewesen.

VI

Ab Sommer 1944 stand neben der Notwendigkeit, Deutschland und seine verbliebenen Verbündeten militärisch niederzuringen, immer mehr die Frage der künftigen Neuordnung des Kontinents im Mittelpunkt des Interesses der drei Großmächte in der Anti-Hitler-Koalition. Dank des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg erhielt Stalins Sowjetunion im Zentrum Europas einen Einfluss, den Russland niemals zuvor besessen hatte. Dass er nun versuchte, ein sich Sozialismus nennendes Gesellschaftssystem in weiten Teilen des zentralen und östlichen Europas zu installieren, hing vielfach weniger mit den jeweiligen gesellschaftlichen Voraussetzungen in den betreffenden Ländern zusammen, sondern sehr viel stärker mit der Tatsache, dass die Anti-Hitler-Koalition nach der bedingungslosen Niederlage ihres Feindes Schritt für Schritt in einen Ost-West-Konflikt sich wandelte und daran zugrunde ging. Was aus der Zeit der weltumspannenden Anti-Hitler-Koalition übrig blieb, waren die Vereinten Nationen.

VII

Mit dem Großen Vaterländischen Krieg wurden zwei Männer zu jungen Offizieren, deren Vater 1936 in Stalins Land als Volksfeind geächtet wurde und den Tod fand. Dieser Vater, Władysław Leder-Feinstein, war einst einer der treuen polnischen Weg- und Kampfgefährten Rosa Luxemburgs, die ihn sehr mochte und schätzte. Als nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion Stalin auch in seiner Polen-Politik vollkommen umschwenkte und plötzlich die Schaffung polnischer Streitkräfte erlaubte, waren die Leder-Söhne Witold und Stefan von Anfang an dabei. Als Soldaten der Polnischen Volksarmee erreichten sie an der Seite der Roten Armee im Frühjahr 1945 siegreich das brennende Berlin. Im gesamten Zweiten Weltkrieg verlor Polen, gemessen am Vorkriegsstand, über ein Fünftel seiner Bevölkerung. Nur die heutige Belarus kommt statistisch auf einen ähnlich hohen Wert. Zahlen, die untrennbar mit der millionenfachen barbarischen Vernichtung von Menschen zusammenhängen, die im Schatten des Zweiten Weltkriegs als Juden stigmatisiert, verfolgt und in den Tod geschickt wurden. Von den großen Vernichtungslagern konnte die Rote Armee nur noch Auschwitz-Birkenau befreien, alle anderen hatten bereits lange Zeit vor dem Heranrücken der Front ihren Betrieb eingestellt und die Spuren der Massenvernichtung zu verwischen versucht.

VIII

In Riga wurde vor vielen Jahrzehnten ein monumentales Siegesdenkmal für den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion errichtet. Niemand wäre heute in der Lage, es zu verschieben, abzureißen oder unauffindbar zu machen. Kurz vor dem 9. Mai 2009 erließ der damalige Oberbürgermeister der lettischen Hauptstadt ein Verbot, mit dem am Tag des Sieges die Flagge des Siegers öffentlich nicht gezeigt werden durfte – also die Flagge der Sowjetunion. Wie immer in solchen Fällen, hatte Polizei für die Einhaltung des Verbots zu sorgen. Zu größeren Zwischenfällen kam es nicht. Ab den Mittagsstunden, als mittlerweile weit über einhunderttausend Menschen aus ganz Lettland zu dem Mahnmal zogen, versank die imposante Gedenkstätte allmählich in einem Meer aus Blumen und russischen Fahnen.

IX

Was die Russen und Ukrainer, die Belorussen und viele der ehemaligen Sowjetvölker den Großen Vaterländischen Krieg nennen, ist für andere der Zweite Weltkrieg geblieben. Fast überall östlich von Elbe und Oder sind die Wunden, die der gewaltige Krieg gerissen hat, nur langsam verheilt. Bei den Versuchen, diese Schreckensjahre im öffentlichen Bewusstsein jeweils angemessen zu würdigen, prallen höchst widersprüchliche Konzeptionen aufeinander. Zwischen denen der einzelnen Länder, aber auch innerhalb derselben. Zwischen Tallinn und Warschau, Bratislava und Budapest, Minsk und Prag, Moskau und Riga, Vilnius und Kiew liegen vielfach Welten unterschiedlicher Erinnerung an das Geschehen der Kriegsjahre. Und manchmal versteckt sich das in kleinen, kaum auffallenden Formulierungen. Im September 2009 gab es vor dem Sejm in Warschau eine offizielle Ausstellung zur Vorgeschichte und zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Unter dem 15. März 1939 stand geschrieben, der wortbrüchige Hitler habe das Münchner Abkommen verletzt und falle in die noch nicht besetzten Gebiete in Böhmen und Mähren ein. Ein Besucher aus Prag, der das sah, merkte nachdenklich an, dass das Münchner Abkommen doch als ein Vertrag gelte, der von Anfang an ungültig gewesen sei.