«Wir liefern keine Waffen mehr in die Ukraine. Jetzt werden wir uns selbst bewaffnen», sagte Mateusz Morawiecki in einem Interview des polnischen Fernsehsenders Polsat. Diese Äußerung des polnischen Ministerpräsidenten markiert nicht nur eine Kehrtwende der polnischen Ukraine-Politik, sondern ist zugleich einigermaßen verwunderlich. Denn die polnische Regierung verfolgt schon länger das Ziel, die polnische Armee zur stärksten Europas zu machen und gibt schon jetzt vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausgaben aus - also das Doppelte des von der NATO für ihre Mitgliedsstaaten verordneten Prozentsatzes.
Die Kehrtwende in den polnisch-ukrainischen Beziehungen wird jedoch auch daran kenntlich, dass ein geplantes Gespräch zwischen den Präsidenten Polens und der Ukraine am Rande der UN-Generalversammlung nicht stattfand. Am Samstag landete der Präsident der Ukraine auf dem Rückweg aus Nordamerika überraschend in der polnischen Stadt Lublin. Er traf sich dort nicht mit Vertreter*innen der polnischen Regierung, sondern mit Freiwilligen, die die Geflüchteten aus der Ukraine mit großem Einsatz unterstützt hatten. Er dankte der polnischen Gesellschaft für ihre Hilfe, dankte jedoch nicht der polnischen Regierung.
Achim Kessler leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.
Polen zuerst – eine nationalistische Wende?
Die Ankündigung Morawieckis war eine Reaktion auf die Rede des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, vor der UN-Generalversammlung in New York, in der er Polen für die Verhängung eines Embargos gegen den Import von ukrainischem Getreide kritisierte. Der polnische Präsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der Vorsitzende der nationalkonservativen Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), Jarosław Kaczyński, betonen nun unisono, dass die Interessen Polens die wichtigsten sind und dass sie sich nur von ihnen leiten lassen.
Polnischen Medien zufolge ist die Verschlechterung der Beziehungen zur Ukraine ein bewusster Versuch der PiS, ihre Umfragewerte und damit ihre Chancen bei den Parlamentswahlen am 15. Oktober zu verbessern. PiS-Regierung und Opposition liefern sich derzeit in den Wahlumfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Neben der demokratischen Opposition liberaler, linker und gemäßigt konservativer Parteien steht PiS auch seitens des extrem neoliberalen, nationalistischen und rassistischen Parteienbündnisses Konfederacja unter Druck, das in den Umfragen rund zehn Prozent erreicht. Konfederacja tut sich im Wahlkampf mit ihrer Forderung nach radikalen Steuersenkungen hervor und greift die zunehmenden Vorbehalte gegenüber der Militärhilfe für die Ukraine und der Unterstützung der Geflüchteten aus der Ukraine hervor.
Angesichts der durch hohe Inflation und steigende Lebenshaltungskosten immer schwieriger werdenden sozialen Situation wachsen die Vorbehalte in Teilen der polnischen Gesellschaft gegenüber der Unterstützung der Ukraine und ukrainischer Geflüchteter. Durch das Verbot des Imports billigen ukrainischen Getreides versucht PiS die polnischen Bauern vor dem Preisverfall von Getreide zu schützen, denn sie hat ihre wichtigste Basis in den ländlichen Regionen. Laut einer Umfrage von Rzeczpospolita befürworten 58,4 Prozent der Pol*innen dieses Importverbot, weniger als 20 Prozent sind dagegen.
Und auch die Vorbehalte gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine nehmen mit der Dauer des völkerrechtswidrigen Krieges Russlands gegen die Ukraine zu, nachdem die Bevölkerung die Geflüchteten mit großer persönlicher Hilfsbereitschaft unterstützt hat. Geflüchtete aus der Ukraine haben unmittelbar Anspruch auf Unterstützung durch das polnische Sozialsystem. Zuständig dafür sind die Kommunen, die PiS-Regierung hat diesen jedoch die dafür erforderlichen Mittel nicht bereitgestellt. Diesen Stimmungswandel in Teilen der polnischen Gesellschaft nutzt Konfederacja mit Slogans wie «Stoppt die Ukrainisierung Polens!».
PiS fürchtet um ihre Alleinherrschaft: Zwei Fliegen mit einer Klappe
Angesichts der Umfrageergebnisse muss PiS fürchten, ihre Alleinherrschaft zu verlieren. Eine Koalition von PiS und Konfederacja nach den Wahlen würde einen empfindlichen Rechtsruck in Polen bedeuten. Dabei erscheint es noch nicht einmal sicher, dass Konfederacja sich tatsächlich an einer möglichen Koalition beteiligen würde. Manche Kommentator*innen halten es für möglich, dass Konfederacja sich einem Eintritt in die Regierung verweigern könnte, um Chaos zu produzieren und aus solchermaßen erzwungenen baldigen Neuwahlen noch stärker hervorzugehen.
Mit der Kehrwende in der Ukraine-Politik schlägt PiS zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits hofft sie weiterhin, bei den Parlamentswahlen ein Ergebnis zu erzielen, mit dem sie weiter allein regieren kann. Deshalb verstärkt sie ihre nationalistische Rhetorik, um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren und potentielle Wähler*innen der Konfederacja für sich zu gewinnen. Gleichzeitig passt sie sich damit jedoch ihrer extrem rechten Konkurrenz an und erhöht so den Druck auf Konfederacja sich einem möglichen Regierungseintritt nicht entziehen zu können.