Die Migrationsdebatte seit dem Attentat in Solingen lenkt von den eigentlichen Tätern und Gewaltverhältnissen in der Gesellschaft ab. Gegen Islamismus helfen keine geschlossenen Grenzen, sondern die Stärkung der Zivilgesellschaft und des demokratischen Zusammenhalts.
Die Erzählung sitzt und verfängt: Nach Einbruch der Dunkelheit wird es auf Deutschlands Straßen gefährlich, denn dort regieren die Messermigranten. No-Go-Areas für Deutsche, insbesondere für deutsche Frauen, durch die Bedrohung muslimischer Geflüchteter. Keine Talkshow, keine Fernsehsendung und keine portraitierte Meinung von der Straße, die nicht diese immer gleiche Geschichte in verschiedenen Varianten wiederholen würde.
Wen interessiert es da noch, ob das stimmt? Die wenigen Stimmen, die informiert gegenhalten, verfangen sich in komplizierten und defensiven Erklärungen, die wie kleine Lichter im Sturm der rassistischen Hetze weggeblasen werden. Die Gewalt der Debatte «nach Solingen» beruft sich auf die «Stimmung in der Bevölkerung», auf den «Druck im Kessel», der kurz vor der Explosion stünde. Indes wird diese Explosion von antidemokratischen Kräften eher herbeigewünscht und von vielen Medien herbeigeschrieben, als dass sie die gesellschaftliche Haltung widerspiegelt. In diesem Wunsch verwirklicht sich die ausgerufene «Zeitenwende», die als «Migrationswende» gekleidet letztlich eine «Demokratiewende» bedeutet, d.h. den Übergang von einer offenen zu einer illiberalen autoritären Demokratie. Das «wegen Solingen» in wenigen Wochen durch den Bundestag gebrachte «Sicherheitspaket» stellt eine menschenverachtende Eskalation dieses Zerstörungsprozesses dar.
Zu dieser Wende gehört auch das Überschreiben einer erkämpften Erinnerungspolitik und die Tilgung der mit ihr verbundenen symbolträchtigen Orte und Jahrestage: «Solingen» steht seit 30 Jahren als Symbol für rechten Terror gegen Migrant*innen. Im Mai 1993 zündeten drei junge Männer, deutsche Rassisten, ein von türkeistämmigen Familien bewohntes Haus an. Zwei Frauen und drei Mädchen starben, viele andere wurden schwerverletzt. Dieses Symbol soll nun mit der autoritären Wende verschwinden.
Das Problem überforderter Kommunen und krimineller Migranten ist ein hausgemachtes – es ist von den Scharfmacher*innen in diesem Land gewollt.
Die sogenannte Migrationsdebatte macht nicht nur die (historische) Wahrheit, sondern auch den politischen Willen von vielen Millionen Menschen unsichtbar, die für eine ganz andere Haltung zu Migration und unserer Migrationsgesellschaft in den letzten Monaten und Jahren auf die Straße gegangen sind. Doch weder medial noch politisch finden sie sich repräsentiert. Um den Preis des eigenen Untergangs stimmen stattdessen genau jene Parteien und auch liberalen Medien in die Narrative der rechten Kräfte ein, obwohl diese sie buchstäblich an den Galgen wünschen. Sie wissen es eigentlich besser. Ihre auf Abstand gehenden Jugendverbände und Mitstreiter*innen mit Migrationsbiografien mahnen uns aktuell in aller Dringlichkeit: Nach einer Machtübernahme durch die Rechten «wird der Stall ausgemistet», diese und schlimmere Drohungen werden auf unzähligen Kundgebungen von Pegida und auf AfD-Versammlungen ausgesprochen, und die Geschichte lehrt uns, wie schnell solche Drohungen Realität werden können. Stellen wir daher den Diskurs vom Kopf auf die Füße und betrachten, wer hier wen bedroht, wer vor wem geschützt werden muss, und was das alles mit Demokratie zu tun hat.
Männer
2023 waren 132.966 Frauen von Gewalt in der Partnerschaft betroffen. 12.931 Frauen wurden von ihren (Ex)Partnern schwer oder lebensgefährlich verletzt, 155 wurden von ihnen getötet. 5 Prozent aller Tötungsdelikte in Deutschland sind Femizide. In der Schweiz, wo aufgrund des allgemeinen Reservistenstatus der Bundesarmee viele Schweizer entsprechende Kriegswaffen im Privathaushalt lagern, findet sogar jedes zweite Tötungsdelikt im Bereich der häuslichen Gewalt statt, davon jedes zweite mit einer Schusswaffe. «Beziehungsprobleme» und «Familiendrama» lautet in diesen Fällen das bestürzte, aber unaufgeregte Urteil in den Medien, wenn wiedermal ein Vater seine gesamte Familie auslöscht – in Deutschland eher mit anderen Tatmitteln als einem Gewehr, zum Beispiel mit einem Messer. 94 Prozent der Straftäter in den Gefängnissen sind Männer.
Männerbund bleibt Männerbund, unabhängig von der Nationalität: Wo er auftritt, kommt es zu Gewalt und sexueller Bedrohung.
Die gravierenden Verletzungen elementarer gesellschaftlicher Normen durch patriarchal strukturierte Männern verlangen nach einer sozialen Antwort. Sie können nicht ins Außen projiziert und abgeschoben werden.
Die Statistik weist bei Gewalttaten überproportional viele junge Männer mit Migrationshintergrund aus. Das liegt zum einen daran, dass die Strafstatistik zunächst Verdachtsfälle auflistet. Denn Personen, die ohnehin unter Generalverdacht stehen und permanent kontrolliert werden, landen häufiger in dieser Statistik. Auch erscheinen alle sonstigen Verstöße gegen die vielen Auflagen für Geflüchtete, etwa ein Verstoß gegen die Residenzpflicht oder Probleme mit den Papieren, in der Statistik der allgemeinen «Ausländerkriminalität», die medial immer wieder mit der Gewaltstatistik vermischt wird.
Zum anderen ist die überproportionale Zahl bei Gewaltdelikten von Geflüchteten darauf zurückzuführen, dass es vor allem junge Männer sind, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen (können). Dort, wo die Fluchtrouten mit Stacheldraht versperrt und von Folterlagern gesäumt sind, wo sie mit Versklavung drohen und lebensgefährliche Überfahrten verlangen, sind es eben nicht zuerst die Alten, die Kinder und auch nicht die durch diese Gewalt vulnerableren Frauen, die sich diesem Risiko aussetzen. Der Anteil junger geflüchteter Männer an der Gesamtzahl der Geflüchteten ist entsprechend um ein vielfaches höher, damit auch der Anteil junger geflüchteten Männer an der Gesamtzahl junger Männer in der Bevölkerung und damit eben an jener Alterskohorte, die eher und mehr Gewalt ausübt.
Diese Zahlen aus der Polizeistatistik bedeuten, dass Migranten nicht krimineller sind als Deutsche, sondern dass junge Männer gewalttätiger sind als ältere Männer, vor allem aber als Frauen* jeglichen Alters.
Dieser verzerrende Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass Geflüchtete keine Freizügigkeit genießen, also ihren Wohnort nicht selbst aussuchen dürfen, an dem sie auch die Ruhe und Sicherheit finden, um sich von ihren Traumata erholen zu können. Stattdessen werden sie in Massenunterkünften untergebracht, häufig in kleinen Kommunen, in denen seit Jahrzehnten die Infrastruktur kaputtgespart und abgebaut wurde.
Mit Arbeits- und Ausbildungsverbot und mangelnden Bildungsmöglichkeiten bewusst in Armut und Aussichtslosigkeit gehalten, in schäbigen Unterkünften verwahrt und zum Nichtstun verurteilt, dazu noch gesellschaftlich isoliert durch eine feindliche Grundstimmung, entsteht dann jenes Bild, nach dem der rassistische Diskurs so dürstet: Größere Gruppen jüngerer Männer, die sich auf öffentlichen Plätzen versammeln und dort abhängen – mit all den negativen Dynamiken, die überall entstehen, wenn Männerbünde sich bilden. Männerbund bleibt Männerbund, unabhängig von der Nationalität: Wo er auftritt, kommt es zu Gewalt und sexueller Bedrohung.
Im Gegensatz zu betrunkenen Fußballfans, feiernden Junggesellenabschieden oder der zurückgebliebenen männlichen Dorfjugend in den strukturschwachen Gegenden ist der Männerbund der Geflüchteten allerdings kein freiwilliger, sondern ein erzwungener. Legale und sichere Fluchtrouten und die Ermöglichung von Familienzusammenführung, freie Wohnortwahl und die Erlaubnis, eine Ausbildung zu beginnen und eine Arbeit aufzunehmen, würden dieses Bild auflösen und die damit verbundene Gefahr beenden. Die geräuschlose dezentrale und legale Eingliederung von Millionen Geflüchteten aus der Ukraine in den Arbeits- und Wohnungsmarkt hat das vorgemacht. Noch bis vor wenigen Jahren erklärten sich hunderte Kommunen und Bürgermeister*innen bereit, (mehr) Geflüchtete aufzunehmen, auch um ihre Infrastruktur – Schulen, Sportvereine, Busverbindungen, Einzelhandel – am Leben zu erhalten.
Im rechten Geschrei von überschrittenen Belastungsgrenzen sind diese Stimmen verstummt. Das Problem überforderter Kommunen und krimineller Migranten ist ein hausgemachtes – es ist von den Scharfmacher*innen in diesem Land gewollt.
Messer
Alle reden plötzlich von Messern. Zunächst: Das Messer ist die Waffe der Unbewaffneten, also derjenigen, die über keine echten Waffen verfügen. Und die Zahl der Messerangriffe steigt, auch wenn laut Polizeilicher Kriminalstatistik 90 Prozent der Opfer nicht oder nur leicht verletzt werden. Vor allem junge Menschen, zunehmend auch Kinder, führen immer häufiger ein Messer mit sich, berichtet die Behörde. Die von der Bundesregierung angekündigte «neue Wehrhaftigkeit», die mit der «Zeitenwende» einhergehen soll, spiegelt sich auch in der Selbstbewaffnung von Jugendlichen wider. Viele Schulen beklagen mittlerweile die steigende Bewaffnung ihrer Schüler*innen. 2023 ging zum Beispiel eine 12-Jährige in Riesa mit einem Messer auf einen Mitschüler los. Die Zeitungen sind voll mit Nachrichten wie dieser.
Wenige Tage nach der Messerattacke in Solingen stach eine 32jährige Frau in Siegen auf der Fahrt zum Stadtfest mehrere Menschen in einem Linienbus nieder, bevor sie von zwei (migrantischen) Frauen überwältigt wurde. Die Presse spekulierte, ob Drogen oder eine psychische Krankheit die Ursache sein konnte, oder was sonst nicht mit dieser Person stimme. Was nicht ins Bild passt, ist erklärungsbedürftig oder wird gleich ganz ausgeblendet. Denn in der Regel sind es Männer, die zum Messer greifen, und ihre Opfer stehen in den meisten Fällen in einer Beziehung zum Täter. Anfang September etwa stach ein Mann mit einem Messer in Berlin-Reinickendorf auf seine Frau in Anwesenheit ihrer Kinder ein.
Dort, wo aufgehetzte Täter gut organisiert sind, sind sie auch besser bewaffnet: Der NSU, der in den 2000er Jahren zehn Menschen erschoss; der Täter von Halle, der 2018 versuchte, mit einem Gewehr ein Blutbad in einer vollbesetzten Synagoge anzurichten, es aber «nur» schaffte, zwei Menschen zu erschießen; der Täter von Hanau 2019, der mit seiner Schusswaffe neun migrantische Menschen ermordete; die Nagelbombe auf der Keupstraße, die 2004 über zwanzig Menschen schwer verletzte. Seit 2015 schnellten die Zahlen zu rassistischen Gewalttaten gegen Migrant*innen in die Höhe, darunter viele Schüsse und Brandanschläge – fast jeder zehnte Angriff betraf Kinder unter 14 Jahren. Die regelmäßigen Waffenfunde bei Razzien im neonazistischen Milieu zeigen eine Dimension von Gewalt, die der aktuelle Messerdiskurs nicht nur verfehlt, sondern unsichtbar macht. Laut Innenministerium verfügten Ende 2021 über 1.500 Rechtsextremisten legal über Waffen, ein Anstieg von 30 Prozent zum Vorjahr.
Organisierte Neonazis greifen auf diese Mittel zurück, etwa bei der Erschießung des CDU-Politikers Walter Lübcke, weil dieser sich für die Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen hatte. Unorganisierte Rassisten greifen indes auch zum Messer, wie bei der Attacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Jahr 2015. Der Täter, ein deutscher Rassist, stach ihr ein 30 cm langes Bowiemesser in den Hals. Als Grund nannte er ihre Flüchtlingspolitik, die er als «Hochverrat» bezeichnete. Auch die CDU-Politikerin Marliese Berthmann verletzte der Täter mit einem Butterfly-Messer an der Lende, der FDP-Ratsfrau Katja Hoyer stach er ins Gesicht und Annette von Waldow (ebenfalls FDP) verletzte er durch Messerstiche in den Brustkorb.
Auf eines ist im Diskurs jedoch Verlass: Sind die Täter Nazis und andere toxische deutsche Männer, gibt es keinen medialen Aufschrei, selbst dann nicht, wenn deren Opfer aus dem bürgerlichen Establishment stammen, also nicht «nur» Geflüchtete oder (Ehe-)Frauen sind. Manchmal, indes, greifen auch letztere zum Messer, wenn sie von ihren männlichen Partnern mit dem Leben bedroht werden, und stechen zu.
Nazis
Der Mechanismus zur Aufstachelung der Bevölkerung scheint so einfach und jedes Mal neu inszenierbar. Es ist kein Zufall, dass dieselben Personen, die Gewalt männlicher Geflüchteter am stärksten skandalisieren, auch die Grundlagen dieser Gewalt schaffen: Entrechtung, Verarmung, Lagerunterbringung, Perspektivlosigkeit und Diskriminierung.
Wir kennen diesen Mechanismus aus der jüngeren deutschen Geschichte: Im Jahr 1992 flohen viele Roma vor dem grassierenden Antiziganismus in Osteuropa. Sie wurden in die Zentrale Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen gebracht , obwohl diese überfüllt war und keine weiteren Personen mehr aufnehmen konnte. Die Menschen mussten auf der Wiese davor ausharren, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Betreuung und ohne Hilfe. In dieser Situation entstand jenes in den Medien genüsslich ausgeschlachtete Bild der «Asylantenschwemme» und der «Fremden», die sich nicht zu benehmen wüssten. Damals stieg ebenfalls der «Druck im Kessel» und ein fünftägiges Pogrom startete, in dessen Verlauf Neonazis gemeinsam mit Rostocker Bürger*innen diese Menschen angriffen und – nach deren «Abtransport» durch die Polizei und die spätere Abschiebung – versuchten, über einhundert Vietnames*innen, darunter Kinder, anzuzünden und zu verbrennen. Diese menschenverachtende Gewalt diente im Folgejahr dazu, eine Grundgesetzänderung zu rechtfertigen: die de-facto-Aushebelung des Rechts auf Asyl.
Der gefährlichste Männerbund sind nicht die Geflüchteten, die sich hier Solidarität und bessere Lebenschancen erhoffen und die mangels anderer Orte und Betätigungsmöglichkeiten im Park abhängen. Der gefährlichste Männerbund sind jene Männer und Antidemokraten, die zum Krieg gegen die Schwächsten aufrufen, weil sie ihre eigenen Ängste abwehren wollen. Zu ihren Opfern gehören nicht nur Geflüchtete und andere Migrant*innen, sondern auch Obdachlose. Jedes Jahr kommen zwanzig von ihnen durch Gewalt zu Tode – die Hälfte aller Todesopfer rechter Gewalt sind Menschen, die auf der Straße leben.
Wenn Björn Höcke vom anstehenden «Bürgerkrieg» spricht, und die AfD-Politikerin Lena Kotré aus Brandenburg Stichwaffen an ihre Anhänger*innen verteilt, um sich gegen Migrant*innen «zur Wehr zu setzen», dann ist das die Gewalt, die nicht nur weitere Tote bedeuten wird, sondern die unsere Gesellschaft von Innen zerstören will – mit Messern, mit Totschlägern, mit Sprengstoff und Gewehren.
Merz
Bereits 2016 brach sich nach der sogenannten Kölner Silvesternacht ein rassistischer Diskurs Bahn, der die Willkommenskultur aus dem «langen Sommer der Migration» 2015 zerstören sollte. Auch nach der Gewalttat auf dem Stadtfest von Solingen scheint wieder der Damm gegen Rassismus und Menschenverachtung gebrochen. Dort hatte Issa-al H., der aus Syrien stammt, drei Menschen mit einem Messer getötet und weitere zum Teil schwer verletzt. Seitdem herrscht eine Art Not- und Ausnahmezustand in Deutschland und selbst die ARD fragt: «Kann das Leben weitergehen, nach allem, was passiert ist?»
Es kann nicht: Sahra Wagenknecht (BSW) verkündet, dass nun «die Willkommenskultur vorbei» sei; Alice Weidel (AfD) forderte die «Migrationswende»; Friedrich Merz (CDU) erklärt die «nationale Notlage» und fordert nationale Alleingänge notfalls unter Umgehung europäischen Rechts; die Grünen attestieren ihre Bereitschaft, Geflüchtete nach Afghanistan und Syrien abzuschieben; die FDP möchte die Sozialleistungen für sogenannte Dublin-Flüchtlinge streichen und sie, der AfD-Programmatik folgend, auf «Brot, Bett und Seife» setzen. Geht es nach ihnen, sollen Migrant*innen in die Armut gejagt, auf die Straße verbannt, in Lager gesperrt und in Folterstaaten abgeschoben werden, aus denen sie sich zu retten suchten.
Offen werden von Friedrich Merz und seiner CDU Neuwahlen gefordert. Klammheimlich und nach demselben Drehbuch wie 1992 bereitet der bürgerlich-rechte Block eine erneute Änderung des Asylrechts für nächstes Jahr vor. Merz, in seiner Ambition der nächste Kanzler zu werden, treibt den rassistischen Keil tief in die eigene Partei und riskiert, diese zu spalten. Zerbricht der bürgerliche Block und allen voran die CDU, ist die AfD an der Macht.
Heute scheint vergessen, was jedes Kind als historische Lehre aus dem Geschichtsunterricht über den Aufstieg des Nationalsozialismus gelernt hat: Die Schwäche der demokratischen Parteien am Ende der Weimarer Republik trug dazu bei, dass die konservativen Kräfte aus falschem Machtkalkül den Faschisten zur Herrschaft verhalfen.
Tragischerweise sind es gerade die jungen Menschen, die während der Corona-Pandemie im Stich gelassen und deren soziale Bedürfnisse ignoriert wurden. Sie wählen Parteien wie die AfD oder die FDP, die am deutlichsten Rücksichtslosigkeit und soziale Härte fordern. Dabei sind es die von ihnen verachteten «Boomer», die an der Wahlurne an demokratische Werte erinnern und gegen die autoritäre Wende ankämpfen. «The Kids are not alright», ein absolutes Alarmzeichen für jede Gesellschaft. Auch hier verlangt es eine ausgestreckte Hand, mehr Geld für Kinderseelsorge und Jugendsozialarbeit und eine geschlechterreflektierte Pädagogik in Schule und Kita.
Wer, wie Merz, hingegen die junge Generation unter Generalverdacht stellt und statt Jugendschutz härteres Vorgehen und Gefängnisstrafen für Jugendliche fordert, erzeugt kleine Krieger und mehr Gewalt auf der Straße und in den Haushalten.
Extremisten und Demokraten
Issa-al H., der Täter von Solingen, ist nach bisherigem Wissen ein islamistischer Terrorist, der als «Soldat des Islamischen Staats» wahllos Zivilist*innen angriff und mehrere von ihnen tötete. Unter den Verletzten befand sich auch Siavash Hosseini, ein Geflüchteter aus dem Iran, dem der Täter sein Messer in den Nacken stach.
Vor einem Jahr musste Hosseini im Zuge seiner Beteiligung an den demokratischen Protesten gegen das Mullah-Regime fliehen. So wie auch die zigtausenden Menschen zuvor, die während der «Marches of Hope» im Sommer 2015 aus den Bürgerkriegsgebieten und vor dem Terror islamistischer Regime aus zahlreichen arabischen Ländern flohen. Viele von Ihnen gingen während des sogenannten Arabischen Frühlings ab 2011 für Demokratie, Frauenrechte und Freiheit auf die Straßen. Im «Sommer der Migration» trugen diese Menschen den Wunsch nach Demokratie auf ihren Fluchtrouten mit sich und erinnerten viele an das demokratische Versprechen Europas. Millionen von Alteingesessenen, vor allem Frauen, engagierten sich in solidarischen Netzwerken. Ein starker Impuls der Inklusion und der Gastfreundschaft, durch den es zu unzähligen Begegnungen und neuen, bereichernden Beziehungen kam, erfasste die Zivilgesellschaft. Die Solidaritätsstrukturen wurden zunächst zivilgesellschaftlich und in Eigeninitiative organisiert, aber auch der Staat engagierte sich schließlich. Universitäten öffneten ihre Tore, Betriebe fanden wertvolle Auszubildende und viele Bürger*innen neue interessante Nachbar*innen.
Gegen Islamismus hilft kein Rassismus und kein Nationalismus, im Gegenteil wird er dadurch nur stärker, weil er derselben Logik der Spaltung und des Krieges folgt.
Gegen diese demokratische Erneuerung rannten Teile des politischen Apparates, vor allem aber die Rechten, Sturm. Bereits ab 2016 häuften sich erneut Brandanschläge, Angriffe und (versuchte) Tötungsdelikte gegen Migrant*innen. Die Bundesregierung ließ sich erneut vom zunehmend offen rassistischen Diskurs treiben. In Europa wurden Stacheldrahtzäune gebaut, das Mittelmeer blieb Massengrab für Schutzsuchende und mit dem Regime in Ankara wurde ein Migrationsdeal geschlossen, der die Mobilität von Menschen in der Ägäis unterbinden sollte. Gleichzeitig intensivierte die Türkei ihren Krieg gegen die demokratischen kurdischen Provinzen in Nordsyrien und dem Irak. Sie bewaffnete islamistische Kampfverbände und unterstützte inoffiziell den IS, auch indem sie ihre Grenzen für dessen Kämpfer öffnete. Zeitgleich agitiert die Türkei seit mehr als einem Jahrzehnt über islamistische Vereine und Moscheen-Gemeinden in Deutschland die Türkei-stämmige Bevölkerung und fördert hierzulande islamo-faschistische Gruppen wie die Grauen Wölfe.
Während so viele Menschen vor dem islamistischen Terror in Afghanistan, Iran, Irak oder Syrien fliehen und Schutz in demokratischen Staaten suchen, bleiben diejenigen, die diesen Terror auch hierzulande ausüben, unbehelligt. Ein Teufelskreislauf: Genau die Menschen, die sich vor dem Schlächter Assad in den kurdischen Gebieten im Norden Syriens in Sicherheit bringen wollen, wo sie von Erdogans Milizen angegriffen werden, sind hier in Europa erneut bedroht, nicht nur von Rassist*innen, sondern auch von eben jenen islamistischen Terroristen. Sie sollen nun wieder in die Folterstaaten abgeschoben werden.
Es ist dieselbe Opfer-Täter-Umkehr, die wir aus dem NSU-Komplex kennen, wo die Angehörigen der Ermordeten jahrelang als einzig Verdächtige galten und von Politik und Medien diffamiert wurden. Nun sind es die Vielen, die vor Islamismus und Krieg fliehen und Solidarität suchen, die für den Extremismus einzelner Islamisten verantwortlich gemacht werden. Statt sie aber zu schützen, werden sie von der Politik entrechtet, von Nazis angegriffen und von den Medien stigmatisiert. Assad, Erdogan, Merz – eine unheilige Allianz des Extremismus – und der IS jubelt.
Wenn es ein «Wir» und ein «Die» in dieser Sache gibt, dann ist es ein «wir Demokrat*innen, wir Vulnerablen, wir Schutzsuchenden, wir Frauen, wir Migrant*innen, wir Queers*, wir solidarischen Menschen» versus «die Islamisten, die Neonazis, die Antidemokrat*innen, die Scharfmacher*innen». Es sind die toxischen Männer in der Politik, egal ob Trump, Merz, Höcke, Orban, Erdogan, Khamene’i oder Putin, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstören, Vielfalt abschaffen und soziale Rechte abbauen.
Gegen Islamismus hilft kein Rassismus und kein Nationalismus, im Gegenteil wird er dadurch nur stärker, weil er derselben Logik der Spaltung und des Krieges folgt. Gegen antidemokratischen Extremismus hilft allein Demokratiearbeit, d.h. Stärkung der Zivilgesellschaft, Stärkung der Kommunen, Stärkung der Gewerkschaften, Stärkung der Jugendarbeit, Stärkung der LGBTIQ*-Communities, Schutz des Grundgesetzes, Intensivierung der Inklusion, umfassende Rechte für Geflüchtete, mehr Schutzrechte für Frauen* und eine Öffnung der gesellschaftlichen Grenzen.
Die großen Demonstrationen Anfang des Jahres gegen die AfD, gegen «Remigration» und gegen eine homogene, geschlossene und autoritäre Gesellschaft haben gezeigt, dass es durchaus gewichtige Widerstandspotenziale gegen diese Entwicklungen gibt. Die demokratische Zivilgesellschaft benötigt jetzt eine entschlossene mediale und politische Repräsentation und Parteinahme. Darauf zu verzichten bedeutet eine gefährliche Schwächung der demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft der Vielen.