Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Cono Sur Uruguay: Das Rennen um die Präsidentschaft ist offen

Ein Wahlsieg der Frente Amplio ist möglich, aber die Partei hat viel von ihrem linken Profil verloren

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Stefan Thimmel,

«Die Front wird breiter…»: Straßenwahlkampf der Frente Amplio in Urugay Foto: Albrecht Girle

Argentinische Verhältnisse sind in Uruguay nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Sonntag, den 27. Oktober nicht zu erwarten. Rechtsextreme und ultraliberale Präsidenten wie in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien sind im 3,5 Millionen Einwohner*innen zählenden Land undenkbar, die Zustimmung zu Demokratie und sozialem Ausgleich ist ungebrochen hoch. Nach knapp fünf Jahren Mitte-Rechts-Regierung ist eine Rückkehr des Mitte-Links-Parteienbündnisses Frente Amplio (Breite Front) an die Macht aber keineswegs ausgemacht, trotz nachgewiesener Korruptionsfälle, einer stagnierenden Wirtschaft und einer wieder zunehmenden Armutsquote unter dem konservativen Präsidenten Luis Alberto Lacalle Pou. 

Stefan Thimmel, Referent für Wohnungs-, Mieten- und Stadtpolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, arbeitete von Mitte der 1990er Jahre bis 2011 als freier Journalist und entwicklungspolitischer Gutachter in Berlin und Montevideo.

Ziemlich sicher ist, dass am Sonntag nach Schließung der Wahllokale in Uruguay nichts sicher sein wird außer der Tatsache, dass es vier Wochen später zur Stichwahl zwischen Álvaro Delgado, einem der Kandidaten des rechtskonservativen Lagers und Yamandú Orsi, dem Kandidaten des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio kommen wird. Die Entscheidung fällt also wieder, seitdem vor 20 Jahren die Breite Front zum ersten Mal die jahrzehntelange Herrschaft der bis dahin mehr oder weniger im Wechsel regierenden traditionellen konservativen Parteien Blancos und Colorados beendete, in der zweiten Runde. In Uruguay, in dem einerseits Wahlpflicht herrscht, andererseits aber keine Brief- oder Konsulatswahl vorgesehen ist, müssen für einen Wahlsieg in der ersten Runde 50 Prozent plus eine Stimme der abgegebenen Stimmen der 2,7 Millionen Wahlberechtigten erreicht werden. Welcher Block als erstes über die Ziellinie geht, ist bis zum letzten Moment offen. Die jüngsten Umfragen sagen für die erste Runde einen knappen Sieg des konservativen Zusammenschlusses voraus, dessen einziger Sinn und Zweck es ist, zu verhindern, dass die Linke wieder an die Regierung kommt.

Die Front wird breiter: Land und Stadt, moderat und links, männlich und weiblich

Unbeschreiblich und unvergessen die grenzenlose Euphorie, als am 31. Oktober 2004 der Sozialist Tabaré Vázquez mit 50,45 Prozent der Stimmen die Gegenkandidaten von Colorados und Blancos im ersten Wahlgang bezwang. Zum ersten Mal in der Geschichte des seit 1828 unabhängigen Landes war ein linker Präsident gewählt. Ein wirklicher Bruch mit der neoliberalen Politik seit der Militärdiktatur (1973-1985) mit einschneidenden Veränderungen, vor allem für die an und unter der Armutsgrenze lebenden Uruguayer*innen. Unmittelbar nach dem Regierungsantritt im März 2005 angelaufene Sozialprogramme, die Auszahlung eines «Bürgereinkommens» an fast ein Zehntel der uruguayischen Bevölkerung sowie weitere Sozial- und Bildungspläne wie der Plan Ceibal, mit dem allen Schüler*innen in Uruguay bis Ende 2009 ein eigener Laptop zur Verfügung gestellt wurde (und der weltweit Furore machte), die Ehe für Alle (unión concubinaria), die Ende 2007 verabschiedet wurde und die heiratswillige Paaren in beinahe allen Rechten und Pflichten der traditionellen Ehe gleichstellte. Weiter wurden für Landarbeiter der Acht-Stunden-Tag und zum ersten Mal eine Arbeitslosenversicherung durchgesetzt. Die Rechte der Gewerkschaften wurden deutlich gestärkt, vor allem durch die Wiedereinführung der Räte für Lohnfragen (consejos de salarios). Revolutionäre Veränderungen in kurzer Zeit, eingebettet auch in die Hochzeit des «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» in Lateinamerika mit Vertretern wie Hugo Chávez, Néstor Kirchner, Lula da Silva oder Evo Morales.

Revolutionär ist allerdings heute nicht mehr viel an der Programmatik der Frente Amplio, nur wenig ist neu und explizit links. Das klare Profil, das vor allem die ersten beiden Linksregierungen von 2005 bis 2015 auszeichnete, fehlt. Vielmehr versprechen der 57-jährige Kandidat Yamandú Orsi, bis zu seinem Sieg bei den internen Vorwahlen im Mai 2024 Intendente (vergleichbar mit einem Ministerpräsidenten) der zweitgrößten uruguayischen Provinz Canelones und Carolina Cosse, Kandidatin für den Posten der Vizepräsidentin, eine Regierung für alle zu bilden, allerdings mit dem Schwerpunkt auf den Interessen der Mittelschicht und der ärmeren Bevölkerungsteile. Vor allem die extrem angestiegene Kinderarmut steht hier im Fokus, die für viele ist ein beschämender Skandal ist. Die 63-jährige Cosse, die schon während der letzten linken Regierungszeit von 2015-2020 als Ministerin für Industrie, Energie und Bergbau amtierte und seit November 2020 Bürgermeisterin der Hauptstadt Montevideo mit ihren 1,3 Millionen Einwohner*innen war, hat neben ihrer langjährigen Regierungs- und Verwaltungserfahrung ein eher linkes Profil, bei den internen Vorwahlen wurde sie u.a. von der sozialistischen und der kommunistischen Partei unterstützt. Nach ihrer unerwartet deutlichen Niederlage gegen den moderateren, manche sagen auch profilloseren und vor allem vom Sektor des ehemaligen Präsidenten José «Pepe» Mujica unterstützten Yamandú Orsi ist es der Frente Amplio (FA) aber gelungen, ein Bild der Harmonie abzugeben und sie versprechen wieder eine «ehrliche Regierung». Cosse nahm sofort ihre Rolle als mögliche Vizepräsidentin an und diese gemeinsame Kandidatur von Mann und Frau, Provinz und Stadt, eher moderat und links, ist die Basis für die Hoffnung, die nationalkonservativen Parteien und ihren rechtsextremen Partner in der Stichwahl zu besiegen.  

Korruption und steigende Armutsquote als Bilanz der Regierung

Deren Regierung werden zahlreiche Vorwürfe von Machtmissbrauch und Korruption gemacht und in der amtierenden Dreierkoalition unter Luis Lacalle Pou, der laut der uruguayischen Verfassung nicht zur Wiederwahl antreten darf, kamen unbestritten mehr Vorwürfe und auch aufgedeckte Skandale zusammen als in den insgesamt 15 Jahren der drei linken FA-Regierungen von 2005 bis 2020 zusammen. Mehrere Krisen prägten seine Regierungszeit: Einerseits die Corona-Pandemie, die das Wachstum laut der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika um 6 Prozent schrumpfen ließ, andererseits die extreme Dürre mit einer großen Wassernot, vor allem im Gebiet der Hauptstadt Montevideo, die im Juni/Juli 2023 auch weltweit Schlagzeilen produzierte. Wobei auch hier natürlich ein Teil des Problems hausgemacht ist: Umweltorganisationen machen vor allem die von den linken Regierungen geförderten Fabriken internationaler Zellstoffmultis verantwortlich, die immer größere Teile des Landes aufgekauft haben und mit Eukalyptusplantagen bepflanzen, die extrem viel Wasser für ihr schnelles Wachstum benötigen. Eine Folge dieses Ausverkaufs ist auch, dass trotz aller romantischen Mythen und touristischen Werbeclips vom unabhängigen, durch die Pampa streifenden Gaucho, nur noch neun Prozent der Beschäftigten in der (hauptsächlich) industrialisierten Landwirtschaft tätig sind.

In der aktuellen Regierungszeit ist auch der informelle Sektor wieder angewachsen. Die drei FA-Regierungen hatten es mit verschiedenen Reformen auf dem Arbeitsmarkt geschafft, die Quote auf 14 Prozent in 2020 zu reduzieren. 2024 ist sie aber wieder auf über 20 Prozent gestiegen und vor allem Frauen sind stark von Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung betroffen. Den unter den linken Regierungen stark geförderten Ausbau der regenerativen Energien setzte auch die konservative Regierung fort. Heute ist der zweimalige Fußballweltmeister (die Urus selbst sind allerdings der Meinung, dass sie schon vierfacher Weltmeister sind) weltmeisterlich in der Energiebilanz: 98 Prozent des Stromverbrauchs werden aus erneuerbaren Energien gedeckt, vor allem durch Wasserkraft und Windenergie. Als linkssozialdemokratisch kann das Wirtschaftsprogramm der Frente Amplio bezeichnet werden: Im Kern soll es höhere Steuern und Abgaben für die Oberschicht und Kürzungen für Förderungen des Großkapitals geben. Mit den Einnahmen sollen die Sozialprogramme wieder verstärkt werden können, die unter der aktuellen Regierung abgebaut wurden. In der Sozialpolitik liegt auch eine der großen Differenzen zwischen Frente Amplio und der rechten Regierungskoalition. Die amtierende Koalition gab vor, die unmittelbare Armut mit direkten Geldzahlungen an Bedürftige zu bekämpfen. Wie allerdings an der extrem gestiegenen Kinderarmut zu sehen ist, nur mit sehr mäßigem Erfolg.  

Die wichtigste Maßnahme der aktuellen Mitte-Rechts-Regierung war die Verabschiedung eines Pakets mit 501 Notstandsgesetzen, darunter Gesetze zur Beschneidung von Mitbestimmungsrechten im Bildungssektor, zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit und des traditionell starken Streikrechts bis hin zu mehr Privatisierungen (trotz vorheriger mehrfacher erfolgreicher Volksabstimmungen gegen Privatisierungen). Außenpolitisch steht die Regierung Lacalle Pou für nichts wirklich, außer einer klaren Ablehnung des Regimes in Venezuela. Suchte der Präsident zu Beginn seiner Amtszeit noch die Nähe zu Jair Bolsonaro, dem von 2018 bis 2022 amtierenden rechtsextremen Präsidenten Brasiliens, stellt er sich jetzt gut mit Luiz Inacio da Silva. Und natürlich positioniert er sich auch nicht zum radikalen Staatsabbau und den rigorosen Sozialkürzungen in Argentinien unter dem seit Dezember 2023 regierenden Präsidenten Javier Milei, die dazu geführt haben, dass laut einer Studie der Katholischen Universität Argentiniens (UCA) von Anfang August 2024 mittlerweile fast 55 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.   

Die extreme Rechte wieder auf dem Rückzug

Während der Ausgang der Präsidentschaftswahlen aktuell völlig offen ist, kann die Frente Amplio nach den letzten Umfragen aber wieder die Mehrheit der Sitze in der Abgeordnetenkammer und im Senat erreichen, die sie bei der letzten Wahl im Oktober 2019 an die vereinte Opposition von Blancos und Colorados sowie des neu entstandenen rechtsextremen Bündnisses «Cabildo Abierto» verlor. Und hier scheint es, als hätten die Uruguayer*innen ihre Lektion gelernt. Gegen den auch in Lateinamerika dominierenden Trend, rechts oder autoritär oder rechtsextrem zu wählen (siehe Argentinien und auch Brasilien bei der letzten Kommunalwahl im September 2024), werden der, von dem ehemaligen General Manini Ríos angeführten Partei jetzt nur noch 3 bis 4 Prozent prognostiziert. Bei der letzten Wahl vor fünf Jahren kam das neu gegründete Bündnis aus Militärs, Nationalisten und extremer Rechte aus dem Stand auf über 11 Prozent, ein Schock für das im Vergleich zu seinen mächtigen Nachbarn traditionell immer eher gemäßigte Uruguay. Die «neurechte Welle, die über Lateinamerika schwappt» scheint in Uruguay wieder verebbt zu sein.

Ein Plebiszit spaltet die Frente Amplio

Neben der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, der Wahl der 99 Abgeordneten für das Abgeordnetenhaus und der 30 Senator*innen, stehen am letzten Sonntag im Oktober 2024 aber auch zwei wichtige Referenden auf den Wahlzetteln. Und hierbei wird deutlich, dass sich das 1971 gegründete, älteste politische Linksbündnis in Lateinamerika verändert hat. Im Straßenbild gibt es kaum Fahnen an den Häusern, kaum Graffiti an den Wänden. Das was immer die große Stärke der «Breiten Front» war, die Verankerung an der Basis und die starke Beteiligung der Stadtteilkomitees nicht nur in Montevideo und in den lokalen Zentren des Interiors, wie in Uruguay alles außerhalb von Montevideo genannt wird, ist kaum noch präsent. In jetzt knapp fünf Jahren in der Opposition ist es nicht gelungen, die Entpolitisierung des Alltags, die schon während der zweiten Regierungszeit des Mitte-Links Präsidenten Tabaré Vázquez von 2015-2020 begann, aufzuhalten. Und die Losung «Dissens in Einigkeit», der Grundsatz, auf den sich unter anderem Sozialist*innen, Christdemokrat:nnen, Kommunist:nnen und ehemalige bewaffnete Stadtguerillera einigen konnten, trägt nur noch bedingt.

Beim ersten Referendum geht es um eine Verfassungsänderung, die nächtliche Razzien ohne richterliche Genehmigung ermöglichen soll. Die Befürworter*innen argumentieren, dass die Polizei so besser gegen die Kriminalität vorgehen könne, insbesondere gegen den zunehmenden Drogenhandel. Wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas auch, ist das Thema Kriminalität und Sicherheit auch in Uruguay eines der bestimmenden. Das bestreitet auch die Frente Amplio nicht. Allerdings ist das vor allem von regierungsnahen Medien und Organisationen unterstützte Referendum für die Linke nur ein Maßnahmenpaket, dass nichts an den Ursachen ändert und vor allem mehr Befugnisse für Polizei und Sicherheitsdienste fordert.

Das zweite Plebiszit betrifft die Änderung eines neuen Rentengesetzes und es spaltet die Linke. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT, die Vereinigung der Wohnungsbaugenossenschaften FUCVAM und der Zusammenschluss der Student*innen FEUU sind treibende Kräfte bei dem Vorhaben, durch das das Renteneintrittsalter wieder auf 60 Jahre herabgesetzt werden soll. Ein weiteres Element der Abstimmung lässt aufhorchen: Die in Uruguay verpflichtende Einbindung privater Finanzdienstleister in das Rentensystem soll abgeschafft werden. Das Referendum wird von der kommunistischen und der sozialistischen Partei in der FA unterstützt, nicht aber vom Kandidatenduo für das Amt des Präsidenten und der Vizepräsidentin. Ihnen geht die Reform zu weit, sie fürchten um die Finanzierbarkeit und sprechen sich für einen Dialogprozess nach einer möglichen Abstimmung aus. Und auch der ehemalige Präsident «Pepe» Muijica, dessen Wort immer noch erhebliches Gewicht in Uruguay hat, spricht sich in gewohnt blumiger wie auch drastischer Weise gegen das Volksbegehren aus. «Bei einer Zustimmung würde es ein Chaos geben, Sachen in die Verfassung zu stecken ist, wie sie ins Gefängnis zu stecken». Das traditionell enge Verhältnis des Bündnisses Frente Amplio zu den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften ist dadurch ziemlich abgekühlt und macht sich auch in einer zögerlichen Mobilisierung im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf bemerkbar. Allerdings werden sich zur sehr wahrscheinlichen Stichwahl am 24. November 2024 die Reihen wieder schließen: fünf weitere Jahre Stillstand bzw. Rückschritt will niemand in der «Breiten Front».