Analyse | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak - Krieg in Israel/Palästina Schwächung der Hisbollah – Chance für eine politische Neuordnung im Libanon?

Das Machtvakuum im Libanon wächst stetig. Welche Zukunftsszenarien sind möglich?

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Reporter*innen berichten in einer nächtlichen Szenerie vom Ort der Bombardierung.
Unter der Trümmerlandschaft befand sich das Hauptqurtier der Hisbollah, das Israel am 27. Septber 2024 bombadiert hat. Dabei wurde deren Anführer Hassan Nasrallah zusammen mit  vielen weitere Personen getötet. IMAGO / Xinhua

Nach der Schwächung der Hisbollah durch die Angriffe Israels auf ihre Strukturen, die Tötung ihres Anführers Hassan Nasrallah und weiterer zentraler Personen steht der Libanon innenpolitisch am Scheideweg: Es besteht die Chance, dass die schiitische Miliz entmachtet wird und stattdessen die libanesische Armee die Landesverteidigung übernimmt. Das birgt aber auch das Risiko innerer Konflikte und einer fortgesetzten Destabilisierung.

Christina Förch Saab lebt seit 24 Jahren im Libanon. Sie berichtete in den 2000er Jahren für die Deutsche Welle und war seitdem für diverse deutschsprachige Medien tätig. 2014 hat sie mit ihrem libanesischen Mann und anderen ehemaligen Bürgerkriegskämpfer*innen die NGO «Fighters for Peace» gegründet. Die Organisation setzt sich für die kritische Aufarbeitung des libanesischen Bürgerkriegs, Friedensbildung und Extremismusprävention ein.

Die Tötung des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah am 27. September 2024 löste in weiten Teilen der Bevölkerung im Libanon und der arabischen Welt einen Schock aus. Dutzende bunkerbrechende 1.000-Kilogramm-Bomben auf das Hauptquartier der Hisbollah in Dahieh, einem südlichen Vorort von Beirut, bedeuteten das Ende Nasrallahs. In der Woche zuvor waren bei israelischen Pager- und Walkie-Talkie-Attacken mehr als 35 Menschen ums Leben gekommen, ungefähr 3.000 Menschen wurden verletzt – unter ihnen zahlreiche Hisbollah-Kämpfer und zivile Mitarbeiter*innen der Schiitenorganisation, aber auch Unbeteiligte. Mit diesen Attacken reagierte Israel auf die fortgesetzten Angriffe der Hisbollah seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023. Am 30. September startete die israelische Armee eine Bodenoffensive im Süden des Libanons und bombardiert seit dem 23. September 2024 weite Teile des Libanons. Anschließend folgte der Vergeltungsschlag des Irans auf Israel – seitdem wird auf einen Gegenschlag von Israel gewartet. Eine negative Schlagzeile jagt die andere, es scheint kein Ende zu nehmen. Die Welt hält den Atem an. Kommt es zu einem umfassenden regionalen Krieg, der Israel, die palästinensischen Gebiete, den Libanon, Iran, Irak, den Jemen, die USA, vielleicht sogar Russland miteinbeziehen wird? Eine Antwort steht noch aus. Doch was bedeutet das alles für den Libanon, dieses kleine Land am Mittelmeer, das seit Jahren von Krise zu Krise taumelt und kaum noch auf den Beinen steht?

Ein Fünftel der Bevölkerung sind Binnenflüchtlinge

1,2 Millionen Menschen wurden im Zuge der jüngsten Eskalation innerhalb weniger Tage vertrieben – das entspricht rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Binnenvertriebenen sind eine der unmittelbarsten Auswirkungen des Krieges zwischen der Hisbollah und Israel auf die libanesische Bevölkerung. Beirut muss inzwischen fast doppelt so viele Einwohner*innen beherbergen wie vor der Ausweitung des Krieges, und das gelingt mehr schlecht als recht: Die Menschen schlafen in Schulen, Moscheen, Kirchen, in Autos, am Strand und auf der Straße. Hunderte von Freiwilligen, internationale Organisationen und das libanesische Rote Kreuz versorgen die Menschen mit dem Notwendigsten, die vor den Bombardierungen in den südlichen Vororten Beiruts, dem Südlibanon und anderen Landesteilen geflohen sind. Der libanesische Staat koordiniert die Hilfe teilweise und die Armee versucht, den inneren Frieden so gut es geht aufrechtzuerhalten.

Es sind vor allem Schiit*innen, die geflohen sind. Die Mehrzahl der Bewohner*innen der im Südlibanon gelegenen Dörfer sind Schiit*innen, ebenso die Menschen aus den südlichen Vororten, die zurzeit massiv bombardiert werden. Ganze Wohnviertel und Dörfer sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein, aber der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Was wird derweil aus den Binnenvertriebenen, die alles verloren haben? Wer wird sie auffangen? Wohin sollen sie zurückkehren? Wenn es keine Zukunftsstrategie für die 1,2 Millionen Geflüchteten gibt, sind sie Armut und Marginalisierung preisgegeben – und manche von ihnen gegebenenfalls offen für neue radikale Gruppen, eine potenzielle soziale und politische Zeitbombe also.

Instrumentalisierung geschwächter Bevölkerungsgruppen

Schon mehrfach haben sich politische Strömungen die Marginalisierung und Verarmung der Schiit*innen im Libanon zunutze gemacht – sowohl die Kommunistische Partei als auch die schiitische Partei Amal zu Zeiten des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) und ab Anfang der 1980er-Jahre zunehmend auch die Hisbollah.[1] Durch den Aufbau grundlegender Infrastruktur in von Schiit*innen bewohnten Gebieten gelang es der Hisbollah, die Bevölkerung vor Ort an sich zu binden und Teile davon zu militarisieren.

1982 formierte sich die Hisbollah nach der israelischen Invasion im Libanon als Widerstandsbewegung und führte einen Guerillakrieg gegen die israelische Besatzung im Südlibanon, bis sich die israelische Armee schließlich im Mai 2000 aus libanesischem Staatsgebiet zurückzog. Die Hisbollah konnte diesen Rückzug als Sieg über Israel für sich reklamieren, was ihr Ansehen im Land und in der Region deutlich stärkte. Syrien und der Iran unterstützten die neue Schiit*innenorganisation von der Gründung an bis heute mit Waffen, viel Geld und religiös-ideologischer Ausrichtung. In den 30 Jahren unter der Führung Hassan Nasrallahs erlangte die Hisbollah einen gewissen Status und großen Einfluss im Libanon – nicht nur als bedeutende bewaffnete, sondern insbesondere auch als soziale und politische Macht. Ein weit verzweigtes System an Sozial- und Bildungseinrichtungen, Medien und Firmen sicherte der einst verarmten schiitischen Bevölkerung Einkommen und Ansehen. Die militärische Vormachtstellung der Hisbollah garantierte den einst Marginalisierten Stärke. Als politische Partei im libanesischen Parlament gewannen die Schiit*innen mit der Hisbollah eine ganz neue Position im fragil austarierten Machtgefüge des Libanons, das auf dem Einfluss von alten Familienclans und den 18 im Land vertretenen Religionsgemeinschaften basiert. Letztendlich nahm die Hisbollah im Parlament die Rolle des Königsmachers ein, indem sie der Wahl des Präsidenten zustimmte oder sie, wie in den letzten zwei Jahren, verhinderten, da durch ihr Vetorecht die notwendige Mehrheit nicht zustande kam. Dieses zerbrechliche System droht nun zusammenzubrechen.

Seit dem 8. Oktober 2023 ist es Israel gelungen, die Hisbollah sukzessive zu schwächen. Durch gezielte Tötungen beinahe der gesamten hohen und mittleren Führungskader inklusive des Hisbollah-Führers und der designierten Nachfolger, durch massive Bombardierungen von Hauptquartieren, Waffendepots, aber auch ziviler Infrastruktur wie Krankenhäusern im Südlibanon und den von der Hisbollah dominierten Beiruter Vororten. Israel scheint jeden wichtigen Hisbollah-Kommandanten zu kennen, jedes Waffendepot orten zu können, sei es durch hochmoderne Kriegsführung oder durch ein Netz an Spion*innen, das die Partei unterwandert hat. Zwar setzten sich bewaffnete Gruppen immer noch gegen die israelische Invasion im Südlibanon zur Wehr – und die Stärke dieser Milizen liegt im Guerillakrieg –, aber die Hisbollah als mächtiges Gesamtkonstrukt existiert in seiner bisherigen Form nicht mehr. Das kann vielen Schiit*innen, allen voran Hisbollah-Anhänger*innen, sehr bedrohlich vorkommen, denn die Hisbollah sah sich als legitimer Repräsentant der Schiit*innen im Libanon und nahm diese Rolle auch aktiv wahr. Diese wichtige Funktion ist nun massiv beschnitten. Die israelische Armee hat den militärischen Flügel der Hisbollah extrem geschwächt – das Ausschalten des politischen Flügels würde die Hisbollah gänzlich vernichten.

Machtvakuum im Libanon

Es ist zynisch: mit Massenprotesten im Jahr 2019 richtete sich die Mehrheit der Libanes*innen gegen die von der Hisbollah gestützte, korrupte politische Elite – allerdings mit wenig Erfolg. Einzelne Oppositionelle, die zu offenem Widerspruch gegen die Hisbollah oder gar zu deren Entwaffnung aufriefen, wurden ermordet. Was die friedlichen Proteste nicht erreichen konnten, scheint nun durch den von Israel geführten Krieg gegen die Hisbollah möglich zu werden – die Entmachtung von Miliz und Partei.

Die Schwächung der Hisbollah und der jetzige Krieg vergrößern das ohnehin extreme Machtvakuum im Libanon: Das Präsidentenamt ist seit 2022 nicht besetzt, die Übergangsregierung nahezu handlungsunfähig und der Staat bankrott. In dieser akuten Kriegssituation sollte es eigentlich eine Krisenregierung geben, an der alle politischen Strömungen beteiligt sind. Es sollte rasch ein*e neue*r Präsident*in gewählt werden und das Parlament zusammenkommen. All dies sind – nicht erst seit Ausbruch des Krieges – dringend erforderliche Schritte, um den libanesischen Staat in die Lage zu versetzen, seine grundlegenden Aufgaben zu erfüllen. In der jetzigen Kriegssituation bedeutet dies etwa, die dringend benötigte internationale Hilfe zu beantragen oder die innere Stabilität des Libanons zumindest rudimentär zu garantieren. Bislang blieben diese Schritte aus, die geschäftsführende Regierung erscheint hilflos, das Machtvakuum vergrößert sich stetig.

Doch so bedrohlich diese Situation auch ist – kann in der tiefen Krise auch eine Chance der Erneuerung liegen? Kann das Machtvakuum ein Ausgangspunkt sein, den Libanon innenpolitisch neu zu ordnen? Welche Zukunftsszenarien sind möglich?

Wie kann die Zukunft der Hisbollah im Libanon aussehen?

Nach der Ermordung des Hisbollah-Führers Nasrallah blieb der Jubel seiner politischen Gegner*innen aus. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: Politiker*innen aller Richtungen stimmten versöhnliche Töne an und sprachen sich für die Wiederaufnahme der Schiit*innen und der Hisbollah «in die libanesische Familie» aus. In den sozialen Netzwerken fügte sich das Konterfei Nasrallahs – mit starker Symbolkraft – in eine Reihe mit den Anführern anderer Parteien und Religionsgruppen, die früheren politischen Morden zum Opfer gefallen waren. Drus*innen, Christ*innen und Sunnit*innen hatten während des libanesischen Bürgerkriegs und in der Zeit danach ihre «Märtyrer*innen» zu beklagen, nun ereilte die mächtige Hisbollah das gleiche Schicksal. Gleichzeitig wird in politischen Talkshows auch darüber diskutiert, wie die Zukunft der Hisbollah im libanesischen Machtgefüge aussehen könnte. Dabei mehren sich die Stimmen, die befürworten, dass sie weiterhin als politische Kraft in der libanesischen Parteienlandschaft präsent sein sollte – allerdings als libanesische und nicht als vom Iran aus gesteuerte Partei.

Der libanesische Staat ist unter der aktuellen Führung nicht dazu in der Lage, die 1,2 Millionen Geflüchteten angemessen zu versorgen. Auch den Wiederaufbau des Landes nach Kriegsende wird er nicht leisten können, weil er schon jetzt bankrott ist. Die Hisbollah hat die korrupte politische Elite des Landes jahrelang geschützt. Durch die Schwächung der Hisbollah fällt diese «Schutzfunktion» nun weg, sodass regierungskritische Stimmen auf eine Neuordnung der politischen Kräfte unter einer neuen Führung hoffen.

Auch die Frage nach der Entwaffnung der Hisbollah wird in der öffentlichen Debatte zunehmend offen angesprochen. Lange war dies der Elefant im Raum. Was in anderen ehemaligen Bürgerkriegsländern umgesetzt wurde, sollte endlich auch im Libanon geschehen: die Entwaffnung der Hisbollah und die Integration der verbleibenden Kämpfer und Kader in die libanesische Armee. Die Armee sollte als alleinige legitime Macht den Libanon nach außen hin verteidigen und nach innen Sicherheit garantieren. Voraussetzung dafür wäre allerdings nicht nur eine entsprechende personelle, finanzielle und militärische Ausstattung der Armee, damit sie diese Aufgaben auch tatsächlich wahrnehmen kann, sondern auch die Umsetzung der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats, das heißt die Einrichtung einer demilitarisierten Zone im Südlibanon. Die Einhaltung müsste von der libanesischen Armee gemeinsam mit der UNO-Blauhelmtruppe UNIFIL gewährleistet werden und an die Demilitarisierung müssten sich beide Seiten halten – sowohl der Libanon als auch Israel.

Orientiert sich der Libanon weiter an sogenannten Schutzmächten?

Das weniger hoffnungsvolle Szenario könnte allerdings so aussehen, dass sich die verschiedenen politischen Kräfte wieder außenstehenden Schutzmächten zuwenden: die Schiit*innen dem Iran, die Sunnit*innen Saudi-Arabien, die Christ*innen Frankreich, Europa oder den USA und die wenigen verbliebenden Kommunist*innen Russland. Anstatt gemeinsam am Aufbau eines selbstbestimmten und handlungsfähigen libanesischen Staates mit einem modernen sozialen und politischen Gesellschaftsvertrag und an einer Neuausrichtung jenseits des konfessionellen Systems zu arbeiten, könnte die fortgesetzte Hinwendung zu sogenannten Schutzmächten den inneren Zusammenhalt so sehr bedrohen, dass der Libanon weiter in einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale aus tiefer politischer Segregation, internen Konflikten, religiös motivierter Gewalt und permanenter Destabilisierung versinkt. Neue Widerstandsgruppen könnten – unterstützt von Schutzmächten wie eben dem Iran – entstehen, die vielleicht weniger hierarchisch organisiert wären als die Hisbollah, aber nicht weniger gewalttätig wären.

Als der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Ende September 2024 davon sprach, Israel befände sich auf der Seite der Menschen gegen die «iranischen Tyrannen», hatte er diese apokalyptischen Szenarien wohl eher nicht im Sinn. Eine solche Entwicklung ist aber ebenso möglich wie eine Erneuerung. Es bleibt ein Spiel mit dem Feuer, bei dem nicht nur Menschenleben, Dörfer und Städte auf der Strecke bleiben würden, sondern die Zukunft des Libanons und der gesamten Region.


[1] Die Kommunistische Partei Libanons war zu Beginn des libanesischen Bürgerkriegs innerhalb der schiitischen Bevölkerung die stärkste politische Kraft und eine bedeutende Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung. Durch die Ermordung vieler ihrer Parteiführer, die islamistischen Fundamentalisten zu geschrieben wurde, wurde sie geschwächt, während die Hisbollah an Stärke gewann.