Der hier anzuzeigende Band resultiert aus der 2. Bielefelder Debatte zur Zeitgeschichte, die von Christina Morina an der Universität Bielefeld ausgerichtet wurde. Die Live-Veranstaltung fand am 11. Februar 2022 statt, also zu einem Zeitpunkt, als der sogenannte Historikerstreit 2.0 schon Wellen schlug, aber noch vor der documenta 15 oder gar dem 7. Oktober 2023 und seinen weitreichenden Folgen. Die Buchpublikation enthält eine Einleitung, drei inhaltliche Texte und eine Dokumentation eines Gespräches zwischen der (Schwarzen) Soziologin Teresa Koloma Beck und dem Autor Max Czollek über «Antisemitismus und Rassismus als gesellschaftliche Herausforderungen» vom 11. Februar 2022, das hier auch online ist (Zugriff 19.10.2024). Online verfügbar ist auch die Einleitung von Christina Morina zur 2. Bielefelder Debatte: «Antisemitismus und Rassismus. Konjunkturen und Kontroversen seit 1945».
Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin gibt in ihrem lesenswerten Beitrag einen guten Überblick über die Ereignisgeschichte von Rassismus und Antisemitismus in - vor allem - Westdeutschland seit 1945 und kann, zum Beispiel anhand von Umfrageergebnissen zeigen, wie das rassistisch und antisemitisch aufgeladene Alltagswissen sich auch wandelte. So wurden die Gastarbeiter der 1960er Jahre von vielen mit dem Wissen über die Fremd- bzw. ZwangsarbeiterInnen des Nationalsozialismus betrachtet. Sie berichtet von Rassismus und Antisemitismus und auch darüber, wer darüber sprach und wie.
Barbara Manthe und Anna Strommenger (beide Historikerinnen an der Universität Bielefeld) bieten einen Überblick über die Literatur zum aktuellen Stand der Debatte zu Antisemitismus und Rassismus als Gegenstände zeithistorischer Forschung. Sie streifen dabei auch Debatten der Zunft, also etwa dazu, ob es in der BRD nach 1945 wirklich eine Demokratisierung gegeben habe. Die beiden fordern am Ende ihres nützlichen Textes, dass «rassistische Diskurse und Praktiken in staatlichen Institutionen, Organisationen und Behörden sowie Betrieben und anderen Einrichtungen des gesellschaftlichen Alltags stärker erforscht werden» müssten (S. 63). Zweitens wäre die «Reaktionen der rassistisch Diskriminierten eingehend zu betrachten» (ebd.), womit dann, so muss eingewendet werden, der Opferstatus ebendieser weiter verfestigt werden würde. Drittens sollte genauer untersucht werden, «welche, - auch außerakademischen - Vorläufer die gegenwärtige zeithistorische Auseinandersetzung mit Rassismus besitzt, insbesondere frühe aktivistische Thematisierungen und Analysen (S. 63/64). Diese dritte Forderung nach Sichtbarkeit und Sichtbarmachung ist im Prinzip sympathisch birgt aber die Gefahr der Enteignung eben dieses Wissens und den Übergang der Deutung über dieses an das hegemoniale akademische System.
Der Beitrag von Frank Wolff (Historiker an der Universität Osnabrück) ist in Zielstellung und Inhalt herausfordernd, er ist zu akademisch und deswegen auch leider stellenweise unverständlich. Wolff weist darauf hin, dass Antisemitismus und Rassismus als Begriffe umstritten waren und sind, und dass es bei beiden stets Überschneidungen zum Diskurs um Eugenik gegeben habe.
Die einzelnen Beiträge gehen auf eine Vielzahl von Publikationen ein, auch das umfangreiche Literatur- und das Personenverzeichnis sind für alle Interessierten gewinnbringend — insgesamt ist das Buch aber eher ein nice to have, da es nur begrenzten Neuigkeitswert hat und etliches daraus in den genannten Mitschnitten nachzusehen ist.
Christina Morina (Hrsg): Antisemitismus und Rassismus. Konjunkturen und Kontroversen seit 1945, Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2024, 160 Seiten, 20 Euro