News | Amerikas - International / Transnational Revolutionäre Wärme trotzt brasilianischer Kälte

Vom 31.8.-2.9.2011 organisierte das Regionalbüro der Rosa Luxemburg Stiftung in Sao Paulo in der Escola Nacional Florestan Fernandez des MST das Lateinamerikanische Seminar "Die Aktualität der Educación Popular – Herausforderungen und Chancen”, an dem etwa 200 Aktivist_innen aus der Region teilnahmen. Ein Bericht von Annegret Rohwedder, RLS

Der Tag beginnt mit Mística – einer Mischung aus Theater, Liedern, Rezitationen und Losungen, symbolischen Handlungen. Eine Viertelstunde lang läuft ein Programm zwischen Kreativität und Emotionen, Disziplin und Vorschriften,  fast ein revolutionäres Pendant zu katholischen Riten. Erst nach großer emotionaler Wärme und dem Gesang der Internationale oder der Hymne des MST, der brasilianischen Bewegung der Landlosen, beginnt die Arbeit im von der RLS initiierten  Seminar zur Educación  Popular an der Escola Nacional Florestan Fernandez in Guararema unweit São Paulos.


Die RLS vertraten Kathrin Buhl und ihre Mitarbeiterinnen aus dem Büro São Paulo, Wilfried Telkämper, Torge Löding und Anne Rohwedder.  Rund 200 Aktivisten sozialer Bewegungen Lateinamerikas diskutierten vom 31. August bis 2. September Methoden und Zukunft der Educación  Popular. Dieser Bildungsansatz, der nur sehr unzureichend mit dem deutschen Begriff "Volksbildung" zu übersetzen - ist ein politisch-pädagogisches Konzept, das seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika entwickelt wurde. Als Begründer gilt der Brasilianer Paulo Freire. Die Educación Popular geht von der Notwendigkeit aus, durch umfassende Bildung die Menschen zu befähigen, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basierende Gesellschaft zu verändern - Emanzipation der Menschen als handelnde Subjekte zur emanzipatorischen Transformation der Gesellschaft ist das Ziel. Grundprinzipien sind ein horizontaler Bildungsansatz, bei dem Lehrende und Lernende gemeinsam und gleichberechtigt neues Wissen erlangen. Ausgangspunkt ist immer die konkrete Realität der Beteiligten, deren Kenntnisse und Erfahrungen. Im Laufe der Jahre wurde eine Vielzahl von Instrumenten und Methoden entwickelt und die Prinzipien der Educación Popular in vielfaeltiger Weise in unterschiedlichen gsellschaftlichen Bereichen, teilweise auch in formalen Bildungseinrichtungen, angewandt.


Das reicht vom Anspruch auf Veränderung sozialer Wirklichkeit bis zum Vermitteln radikalen Wissens, das zum Transfer befähigt, um die Macht zu ergreifen und den Sozialismus aufzubauen. Vor allem wollten sich die Teilnehmer mit der Tendenz auseinandersetzen, dass bei den sozialen Bewegungen eine gewisse Abkehr von der Educación  Popular zu beobachten ist, weil sie als nicht mehr radikal genug gilt. Das Seminar sollte Impulse geben, sich grundsätzlich über Wege und Ziele der Educación  Popular auszutauschen. Das ist gelungen. Zum Abschluss, nach intensiven, emotionalen Diskussionen formulierten die Teilnehmer viele Herausforderungen. So seien die Multiplikatoren qualitativ und quantitativ zu entwickeln, theoretisches Wissen zu vertiefen, der dogmatische Marxismus kritisch zu analysieren. Die Partizipation müsse zunehmen, die Angst vor dem Ungedachten überwunden werden. Das Wissen der indigenen Bevölkerung solle stärker aufgenommen, die Emanzipation der Frauen vorangetrieben werden. Zudem müsse sich die Educación  Popular stärker in die politische Bildung und internationalistisch in ganz Lateinamerika einbringen. Auch fehlen der Bewegung geeignete Räume. In vielen Ländern stehen höchstens Turnhallen, in fortschrittlicheren Hotels zur Verfügung – beides ungeeignete Orte.


Rund um das Seminar hatte die Delegation die Möglichkeit, mit fast allen Partnern der RLS in Brasilien und im Cono Sur zu sprechen. Es beeindruckte, was mit den relativ geringen Mitteln – gemessen an der Größe der Region, die die RLS hier aufwendet, erreicht wird, sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht als auch in der Unterstützung der sozialen Bewegungen.


Einziger Wermutstropfen der ereignisreichen Tage in Brasilien waren die Temperaturen um 15 Grad. In einem Land ohne Heizung mussten zwei frostgestählte Europäer zugeben, noch nie im Leben so gefroren zu haben.