Die Regierungsparteien gehen als Sieger aus den Parlamentswahlen am 10. Mai hervor. Manipulationsvorwürfe und eine niedrige Wahlbeteiligung sorgen für Zündstoff. Die gemäßigten Islamisten verlieren an Zustimmung.
Mit der Jasminrevolution in Tunesien im Dezember 2010 begann der Arabische Frühling die Machtverhältnisse in Nordafrika in Frage zu stellen. Mit Spannung wurden die Parlamentswahlen in Algerien am 10. Mai erwartet, schließlich ging die Welle der Massenproteste in der Region fast spurlos an dem nordafrikanischen Land vorbei. Während die alten Herrscher in Ägypten, Libyen und Tunesien ihren Hut nahmen, Marokko Reformen einleitete und moderat islamistische Parteien vielerorts von den politischen Umbrüchen profitierten, blieb es in Algerien vergleichsweise ruhig. Zaghafte Proteste zwangen die Regierung im Jahr 2011 zu Konzessionen und Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika von der Front de Libération National (FLN) versprach Reformen. Seither sind 21 politische Parteien neu zugelassen worden und ließen das Spektrum der bei der Parlamentswahl antretenden Parteien auf 44 anwachsen. Zwar zogen 25 Parteien und 19 unabhängige Kandidaten ins neue Parlament ein, die FLN gewann jedoch 220 der 462 Sitze in der Nationalversammlung. Journalisten, Jugendverbände und fast alle politischen Parteien erhoben Manipulationsvorwürfe, das Resultat sei eine Farce.
Politischer Frühling in Algerien ausgeblieben
Die algerische Polizei meldete allein im Jahr 2011 landesweit über 11.000 lokale Ausschreitungen, doch der Funke des Arabischen Frühlings sprang nicht auf Algerien über. Die Regierung versuchte mit Zugeständnissen an die Opposition und die Bevölkerung der sich formierenden Protestbewegung von Beginn an den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der seit 1992 gültige Ausnahmezustand wurde im Februar 2011 aufgehoben, Kürzungen von Lebensmittelsubventionen zurückgenommen, politische Parteien legalisiert und Investitionen in den sozialen Wohnungsbau angekündigt. Zudem versprach Bouteflika die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dennoch steht die vergleichsweise freie Presse in Algerien zunehmend unter Druck. Der Parteienpluralismus wird regelmäßig mit dem Adjektiv „kosmetisch“ beschrieben, unabhängige Gewerkschaften werden im besten Falle toleriert und das Staatsfernsehen gleiche „nordkoreanischen Standards“, so die Le Monde Diplomatique.
Der Staat schwimmt dank hoher Einnahmen aus dem Export von Erdöl im Geld, ist jedoch nicht auf Steueraufkommen angewiesen und hat kaum Anreize die Wirtschaft anzukurbeln und den Arbeitsmarkt zu stimulieren. Das Land konzentrierte sich nach der Unabhängigkeit 1962 auf den Erdölsektor und vernachlässigte Industrie und Landwirtschaft. Die Erdölwirtschaft akquiriert jedoch kaum Arbeitsplätze, daher blieben die Gewerkschaften schwach, die Arbeiterschaft schlecht organisiert und die Arbeitslosigkeit hoch. Außer der staatlichen Einheitsgewerkschaft finden sich kaum starke Gewerkschaften wie in Ägypten und Tunesien, wo Streiks die Regime schon vor dem Arabischen Frühling massiv unter Druck setzten. Algerien muss aufgrund der am Boden kriechenden Wirtschaft 80 Prozent seines Lebensmittelbedarfs importieren und Nahrungsmittel subventionieren, um Brotunruhen vorzubeugen. Die Bevölkerung wird nur in Krisenzeiten an den Staatseinnahmen beteiligt. Drohen Proteste das Land zu destabilisieren erhöht die Regierung Lebensmittelsubventionen oder investiert in den Sozialsektor.
Der Arabische Frühling hat in Algerien bisher wenig bewirkt. Außenminister Mourad Medelci (FLN) sprach von der „algerischen Ausnahme“ und Premier Ahmed Ouyahia von der Rassemblement National Democratique (RND), einer linken Abspaltung der FLN, behauptete die Aufstände seien „das Werk der Zionisten und der Nato.“ Die Regierung versucht seit Anfang 2011 die arabische Protestbewegung in den Nachbarstaaten und im eigenen Land zu diskreditieren. Dennoch trifft es zu, dass Algerien ein Sonderfall ist. Der Preisverfall für Erdöl in den 1980ern beschleunigte den wirtschaftlichen Niedergang, die Arbeitslosigkeit stieg auf Rekordhöhe und die Massenproteste im Oktober 1988 erzwangen die demokratische Öffnung und das Ende des Einparteiensystems. Als die radikalislamistische Front Islamique du Salut (FIS) die Parlamentswahlen 1991 erdrutschartig gewann, putschte das Militär. Die FIS wurde verboten, der Ausnahmezustand ausgerufen. Der vom Militär eingesetzte Staatspräsident Mohammed Boudiaf machte sich durch eine Antikorruptionskampagne schnell Feinde im Staatsapparat und wurde nach nur sechs Monaten im Amt in Annaba erschossen. Der Konflikt zwischen dem gewaltbereiten Flügel der FIS und der mächtigen Armee trieb das Land in einen blutigen Bürgerkrieg, der bis zu 200.000 Menschenleben gekostet habe soll. In „Das verlorene Wort“ schreibt die algerische Autorin Assia Djebar: „Wir hatten die Wahl zwischen der Kaserne und der Moschee.“ Seither kontrollieren FLN und Militär unangefochten die Schaltstellen der Macht und treten als Bollwerk gegen die Radikalislamisten auf. Das misslungene „demokratische Experiment“ ist ein Grund für die Abstinenz eines algerischen Frühlings, das Trauma des Krieges lähmt die algerische Gesellschaft bis heute.
Machtzuwachs der Islamisten auch in Algier?
Vor den Parlamentswahlen in Algerien vom 10. Mai wurde viel darüber spekuliert, ob es zu einem Machtzuwachs oder gar einem Wahlsieg der gemäßigten Islamisten kommt, schließlich konnten gemäßigte Islamisten in Ägypten und Tunesien bisher am stärksten von den Umwälzungen im Maghreb politisches Kapital schlagen. In Marokko stellt die gemäßigt islamistische Parti de la Justice et du Développement (PJD) mit Abdelilah Benkirane gar den Regierungschef. In Algerien konstituierte sich 1997 die Regierungskoalition aus FLN und RND sowie der moderat islamistischen Mouvement de la société pour la paix (MSP) von Bouguerra Soltani. Diese „Präsidentenallianz“ wurde zuletzt bei den Wahlen zum Parlament 2007 bestätigt und stellte 259 der 389 Abgeordneten in der Nationalversammlung. Im Januar 2012 ließ die MSP aus Solidarität mit der arabischen Protestbewegung und aus wahltaktischem Kalkül die Koalition platzen und ging in die Opposition, in der Hoffnung vom regionalen Trend profitieren zu können.
Die Neuzulassung politischer Parteien in Algerien seit März 2011 ließ das islamistische Parteienspektrum auf sieben anwachsen. MSP-Chef Soltani reagierte auf die Zersplitterung mit der Gründung der Grüne Allianz , einem Wahlbündnis der MSP mit der algerischen Ennahda und El Islah. Soltani zeigte sich überzeugt, die Parlamentswahlen gewinnen zu können, auch wenn sich die Stimmungslage in Algerien angesichts der Regierungsbeteiligung der MSP von der in den Nachbarstaaten deutlich unterschied. Das Bündnis spekulierte auf Stimmenzuwächse von ehemaligen FIS-Anhängern, die als stille Wählerschaft seit dem Putsch 1992 nicht mehr am parlamentarischen Betrieb partizipieren. Den politischen Köpfen der verbotenen FIS Abassi Madani und Ali Belhadj ist bis heute jedwede politische Aktivität strikt untersagt, dennoch riefen sie zum Wahlboykott auf und übten Kritik am MSP. Die Partei sei Teil des Regimes, von diesem kooptiert und nicht glaubhaft. Belhadj veröffentlichte im Februar einen Boykottaufruf: „Einen radikalen Wandel des Regimes gibt es nur mit einer breiten Stimmenthaltung.“
Regierungsparteien werden gestärkt, die Islamisten geschwächt
Algeriens Parteienlandschaft besteht aus drei ideologischen Strömungen. Neben den eng mit der staatlichen Bürokratie und dem Militär verflochtenen Parteien FLN und RND spielt das zersplitterte islamistische Lager eine wichtige Rolle. Die dritte Strömung umfasst neben den demokratischen Kräften auch linksliberal ausgerichtete Parteien, ihr gesellschaftlicher Rückhalt ist jedoch gering. Zwar traten zu den Parlamentswahlen am 10. Mai mit 44 Parteien so viele Parteien an wie nie zuvor, doch hat sich die Machtverteilung in der Nationalversammlung nicht verändert. Das offizielle Endergebnis des Urnengangs ist ernüchternd. Die FLN hat ihre Dominanz ausgebaut und stellt in der kommenden Legislaturperiode 220 im auf 462 Sitze erweiterten Parlament. Die RND verliert mit 68 Mandaten leicht an Gewicht, ebenso wie die Islamisten der Grünen Allianz, die 48 Mandate erreichten. 2007 gewann die MSP noch 52 Sitze. Die bisherige Präsidentenallianz könnte mit dieser komfortablen Mehrheit die Verfassung ohne Konsultationen mit der Opposition revidieren.
Die in der Berberregion Kabylei verankerte linksorientierte Front des Forces Socialistes (FFS) von Hocine Ait Ahmed, die erstmals nach 15jähriger Abstinenz an den Wahlen teilnahm, stellt künftig 21 Abgeordnete und die von Louisa Hanoun geführte trotzkistische Parti de Traveilleur (PT), die einzige Partei Nordafrikas, die von einer Frau geführt wird, verliert sechs Sitze und kommt im neuen Parlament auf 20 Mandate. Zudem zogen 19 unabhängige Kandidaten (2007 waren es noch 33) und weitere 20 Parteien in die Nationalversammlung ein. Insgesamt 145 Frauen werden im neuen Parlament vertreten sein. Die oppositionelle linksliberale Berberpartei Rassemblement pour la Culture et a Démocratie (RCD) von Mohsine Belabbes boykottierte die Wahl, nachdem sie nach den Parlamentswahlen 2007 mit 19 Abgeordneten in die Nationalversammlung eingezogen war. Die Partei verließ im Februar 2011 aus Protest gegen das brutale Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen eine Demonstration in Algier das Parlament. 2012 sei keine freie Wahl, sondern Wahlbetrug zu erwarten.
Wahlbetrug und niedrige Wahlbeteiligung haben Tradition
Zwar ist nicht ernsthaft mit einem Machtwechsel gerechnet worden, dennoch überrascht das deutliche Votum für die Regierungsparteien angesichts der politischen Umbrüche in der Region und des scheinbaren Reformwillens der Nomenklatura. Nach Bekanntgabe der Endergebnisse entbrannte ein Sturm der Entrüstung quer durch alle politischen Lager. FFS-Generalsekretär Ali Laskri äußerte sich resignierend zum Wahlausgang: „Der FFS hat sich keinerlei Illusionen über einen demokratischen Wechsel gemacht. Unsere Wahlbeteiligung war rein taktischer Natur mit dem Ziel die Bevölkerung zu remobilisieren.“ Der Generalsekretär der außerparlamentarischen Parti Socialiste des Travailleurs (PST), Mahmoud Rachedi, bezeichnete die Resultate als „surrealistisch“ und sprach dem neuen Parlament jedwede Legitimität ab. Bei der Parlamentswahl 2007 lag die offizielle Wahlbeteiligung bei nur 36 Prozent, in Algier gar bei nur 18 Prozent und selbst dieses für die Regierung blamable Ergebnis dürfte noch kräftig geschönt worden sein. Noch am Wahlabend des 10. Mai 2012 gab Algeriens Innenminister Daho Ould Kablia (FLN) die Wahlbeteiligung für die Parlamentswahlen mit 42,36 Prozent an. Noch am Vormittag des Wahltages soll die Beteiligung in Kommunen wie Aïn Temouchent, Béchar und der Millionenstadt Oran deutlich niedriger gewesen sein als fünf Jahre zuvor, berichtet die Tageszeitung El Watan. Internationale und nationale Presse und die EU-Wahlbeobachtermission verweisen auf weitgehend leere Wahllokale. Das RCD nannte mit Verweisen auf kommunale Quellen eine Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent landesweit. Die Urnen seien vor Öffnung der Wahllokale und nach deren Schließung mit Stimmzetteln aufgefüllt worden. Wahlmanipulation gehört zum politischen Alltag in Algerien, die Urnen werden systematisch vom Regime „geschwängert.“
Erstmals internationale Wahlbeobachter in Algerien
Um dem Urnengang einen demokratischen Anstrich zu verleihen, erlaubte das Militärregime in Algier erstmals internationalen Wahlbeobachtern den Zugang zu den Wahllokalen. Unter den 500 auswärtigen Beobachtern waren Vertreter der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga, der Vereinten Nationen und eine Delegation der Europäischen Union unter dem konservativen spanischen Abgeordneten des EU-Parlaments José Salafranca. In einer Presseerklärung vom 12. Mai begrüßte EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton die friedliche Atmosphäre bei der Wahl und betonte die Abstimmung sei „ein Schritt nach vorne im Reformprozess, den Algerien im April 2011 gestartet habe.“ Die EU-Mission formulierte noch vor dem Urnengang die Hoffnung durch Anwesenheit der Wahlbeobachter die Transparenz des Wahlprozesses stärken zu können. Obwohl die Mission dem Regime eine ruhige, effiziente und logistisch gut organisierte Wahl attestierte, zeichne sich die Wählerregistrierung durch Schwächen aus. Auch wurde EU-Vertretern konsequent die Einsicht in Wahlregister verweigert, diese restriktive Handhabung der Register garantiere daher keine Vermeidung von Wahlbetrug. Zudem verwies die EU-Mission auf die überproportionale Medienpräsenz der Parteien der Präsidentenallianz und äußerte implizit Zweifel an den staatlichen Angaben zur Wahlbeteiligung, die Wahllokale seien auffallend leer geblieben.
Parteiinterne Streitigkeiten spalten den FLN
Überraschend ist das gute Resultat der FLN bei der Parlamentswahl auch vor dem Hintergrund parteiinterner Querelen der letzten Wochen. Hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf um die politische Ausrichtung der FLN. Der Konflikt um die wirtschaftliche Orientierung gipfelte 2010 in der Entlassung von Energieminister Chakib Khelil, der in Abgrenzung zum staatssozialistischen Flügel eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgte und die staatliche Erdölgesellschaft Sonatrach privatisieren wollte. Ein Korruptionsskandal in der Unternehmensleitung zwang Bouteflika seinen Protegé fallen zulassen, er gilt seither als geschwächt. Kurz vor den Parlamentswahlen entbrannten die Streitigkeiten in der Partei erneut. Mit Mühe konnte im April ein Misstrauensvotum gegen FLN-Generalsekretär Abdelaziz Belkhadem aufgeschoben werden, er hatte das Vertrauen des Zentralkomitees der FLN verloren. Bouteflika absolviert inzwischen seine dritte Amtszeit und vieles deutet darauf hin, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2014 nicht wieder antritt oder gar vorzeitig zurücktritt. Belkhadem ist ein politisches Schwergewicht innerhalb der Partei und ein möglicher Kandidat für seine Nachfolge. Der religiös konservative Belkhadem ist als enger Verbündeter Bouteflikas einer der wenigen Vertreter des Establishments, der den Islamisten nahe steht, er war die treibende Kraft bei der Integration der MSP in die Exekutive.
Kurz nach den Wahlen betonte Belkhadem, die Partei setze auf Kontinuität und wolle die politische Ausrichtung der letzten Legislatur beibehalten, dennoch will der FLN die Regierungskoalition ausweiten. In Frage käme die erneute Einbindung der MSP in die Regierung oder die Öffnung nach links. Die PT von Louisa Hanoun ist seit Jahren bemüht Frauenrechte in Algerien zu stärken und es ist fraglich, ob diese Konstellation regierungsfähig wäre. Die beiden linksorientierten RCD und FFS gehören zu den wenigen authentischen Oppositionsparteien Algeriens, viele der am parlamentarischen Betrieb partizipierenden Parteien gelten als von der Regierung kooptiert. Das neu ins Parlament eingezogene FFS könnte durch eine Regierungsbeteiligung die Wählerschaft vergraulen. Auch das RCD trat in der abgelaufenen Legislatur als kritische linksorientierte Opposition auf, boykottierte die Wahl und weigert sich wie die PST im derzeitigen Umfeld an der parlamentarischen Maskerade teilzunehmen. Selbst wenn es der Regierung gelänge andere Parteien in die Exekutive einzubinden und die linke RND innerhalb der Regierung zu stärken, ist ein Politikwechsel hin zu einer linken Programmatik unrealistisch.