News | Sozialökologischer Umbau Die andere Seite der Stadt zeigen

Sandra Quintela zum Alternativgipfel in Rio.

Sandra Quintela ist Sozioökonomin bei PACS, einem langjährigen Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brasilien mit Sitz in Rio de Janeiro.
PACS (Políticas Alternativas para el Cono Sur) www.pacs.org.br arbeitet auf nationaler und internationaler Ebene zu sozioökonomischen Themen, wie solidarische Ökonomie, Megaevents und Megaprojekte und begleitet die lokale Bevölkerung bei der Durchsetzung ihrer Rechte und der Suche nach Möglichkeiten einer emanzipatorischen Entwicklung.
Mit der UN-Konferenz Rio+20 vom 20.-22. Juni 2012 richten sich bereits vor den anstehenden Sportgroßereignissen in Brasilien – Fußball-WM 2014 und Olympische Spiele 2016 – die Augen der Weltöffentlichkeit auf Rio de Janeiro.

Ist dies bereits im Alltag spürbar?
Quintela: Rio de Janeiro ist heute weltweit die Stadt mit den höchsten Investitionen pro Quadratkilometer. Das hat große Auswirkungen auf die Bevölkerung. Die Preise für Wohnraum schnellen in die Höhe und es gibt viele Zwangsräumungen. All dies findet mit Blick auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 statt. Die Veränderungen um die Megaereignisse sind in der Stadt also deutlich spürbar. Rio+20 fügt sich in diesen Kontext ein.
Wie bereitet Ihr Euch auf Rio+20 bzw. auf den vom 15.-23. Juni geplanten Alternativgipfel, der Cúpula dos povos http://cupuladospovos.org.br/ vor?
Quintela: Die große Herausforderung für uns ist es während des Alternativgipfels die andere Seite der sogenannten „Cidade Maravilhosa“1 zu zeigen. Wir sind nicht nur betroffen von den sportlichen Megaereignissen, sondern auch von Megaunternehmen, wie Metall- und Stahlunternehmen oder Petrochemie-Komplexe und gigantische städtebauliche Vorhaben, die das große Kapital stärken. Deshalb wollen wir den Widerstand und die Kämpfe, die es hier gibt, zum Beispiel gegen das deutsche Unternehmen ThyssenKrupp CSA2, veranschaulichen und ihre internationale Dimension stark machen.
Abgesehen davon möchten wir aus dem Alternativgipfel mit einem gemeinsamen Horizont des Kampfes hervorgehen, der international hergestellt wird. Es passieren so viele Dinge in der Welt, die wir gemeinsam artikulieren müssen.
Was sind Eure Erwartungen für den Alternativgipfel?
Quintela: Es geht uns darum gemeinsame Agenden des Kampfes jenseits des Alternativgipfels aufzustellen. Wir müssen uns stärken für die gegenwärtigen Herausforderungen, die Green Economy genannt werden.
Was sind Eure wichtigsten Themen?
Quintela: Die offizielle Konferenz hat zwei große Themen, die beide eine Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellen: die Green Economy und die institutionelle Architektur für eine Welt-Umwelt-Regierung. Die Green Economy halten wir für ein neues Gesicht des alten plündernden Kapitalismus, weil sie sich mit super ausgetüftelten Formen der Merkantilisierung von natürlichen Ressourcen gegen die Natur richtet. Dazu gehört der CO2-Markt oder REDD-Mechanismen3. Das zweite große Thema kann Veränderungen auf supranationaler Ebene bringen, die eine Einmischung von außen in die nationale Gesetzgebung bedeuten, die zum Beispiel eine gewisse Garantie der lokalen Bevölkerung über ihre Territorien beinhaltet. Damit werden die Interessen über diese Gebiete immer mehr Richtung transnationale Konzerne und Großbanken verschoben.
Viele der brasilianischen sozialen Bewegungen stehen der Regierungspartei PT nahe, die Gastgeber der UN-Konferenz ist. Erschwert dies den offenen kritischen Umgang und eine gemeinsame Haltung auf dem Alternativgipfel?
Quintela: Der Kampf gegen den Bau des Wasserkraftwerkes ‘Belo Monte‘ und für die Veränderung des Waldschutzgesetzes ‘Código Florestal’ sowie die Kämpfe der von Megaprojekten Betroffenen werden dies zeigen. Die brasilianische Regierung möchte die Idee verkaufen, dass die jetzige Entwicklung Brasiliens nachhaltig ist. Ich glaube, dass selbst regierungsnahe soziale Bewegungen und Organisationen kommen werden, um gegen schwere Verletzungen in verschiedenen Teilen Brasiliens zu protestieren. Natürlich gibt es auch Sektoren, die Projekte wie ‚Belo Monte‘ verteidigen werden. Aber ich glaube, dass diese isoliert sein werden, sobald die kritische Artikulierung in Bezug auf diese Megaprojekte mehr Rückhalt in der Gesellschaft hat. Das Wichtigste am Alternativgipfel ist, dass er im Konsens organisiert wurde. Natürlich gibt es Konflikte, aber diese haben das kollektive Entstehen des Alternativgipfels nicht verhindert.
Wie sieht die internationale Vernetzung und Mobilisierung aus? Wie viele Menschen erwartet ihr?
Quintela: Der Alternativgipfel ist bislang noch sehr lateinamerikanisch geprägt. Eine Herausforderung besteht darin sie mehr zu internationalisieren. Wir gehen von 10.000 bis 15.000 Menschen aus, die allein über soziale Bewegungen organisiert ins Zeltlager kommen werden. Insgesamt rechnen wir mit etwa 20.000 bis 30.000 TeilnehmerInnen.
Nach dem Motto ‚global denken, lokal handeln‘ seht ihr hierfür eine Chance für die ‚Cúpula dos Povos‘? Und wie kann die Mobilisierung über die Tage im Juni hinweg tragfähig bleiben?
Quintela: Entweder kämpfen wir, widerstehen und errichten Alternativen oder das Leben wird sich für große Teile der Weltbevölkerung sehr verschlechtern. Über eine Milliarde Menschen hungern bereits heute trotz all der technologischen Versprechungen, die unter anderem mit der Grünen Revolution und der Gentechnik verkauft wurden. Jetzt wollen sie die ganze kapitalistische Ökonomie grün anstreichen.
Gleichzeitig lokal und global zu denken und zu handeln ist die Herausforderung unserer Arbeit hier in PACS. Es reicht nicht lokale Formen der solidarischen Ökonomie zu praktizieren. Wir müssen gleichzeitig die Politik der Weltbank anklagen und bekämpfen, die weiterhin Unheil für unsere Länder bringt. Wir müssen gegen die Zahlung der öffentlichen Schulden kämpfen und eine umfassende Überprüfung fordern, damit wir wissen, was bereits gezahlt wurde. Wir müssen für historische Reparationen der Länder des Nordens an den Süden kämpfen. Wir müssen weiter gegen die zunehmende Gewalt gegen Frauen kämpfen. Wir müssen dafür kämpfen, dass Quilombolas4, Bauern, Fischer und Uferbewohner5 weiterhin in ihren gewohnten Gebieten von ihrer eigenen Arbeit leben können.
Die ’Cúpula dos Povos’ will ein Raum sein um unsere Hoffnungen zu nähren. Wir müssen mehr sein und stärker werden. Wir müssen daran glauben, dass es möglich ist, uns diesem wahnsinnigen Angriff des Kapitals auf unser Leben zu widersetzen. Das Leben muss mehr wert sein als der Gewinn!

Das Gespräch führte Verona Wunderlich, Projektmanagerin für Lateinamerika,  Ende März 2012.


1 ‚wunderschöne Stadt‘, wie Rio auch genannt wird
2 CSA ist die port. Abkürzung für Companhia Siderúrgica do Atlantico; ThyssenKrupp mit gegenwärtig über 70% des Kapitals und Vale do Rio Doce mit dem anderen Teil betreiben das Werk
3 REDD steht für ‚Reducing Emissions from Reforestation and Forest Degradation‘
4 Nachfahren der afrikanischen Sklaven
5 Ribeirinhos, traditionelle Uferbewohner der Überflutungsgebiete der großen Flüsse, die vom Fischfang und von kleinbäuerlicher Landwirtschaft leben