News | Geschichte - Rosa-Luxemburg-Stiftung «Sie wollte die sozialistische Idee aus dem Gefängnis befreien»

Wilfriede Otto - 1933–2015. Ein Nachruf von Jörn Schütrumpf.

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Dietz-Verlag,

Sie hat den Kopf bewusst hingehalten – für die DDR und mehr noch für die SED, für all das, was diese im Namen des Sozialismus Menschen angetan hat. Zuerst habe ich das nicht verstanden.

Im Winter 1989/90 verschwanden Wilfriede Ottos vorgesetzte Genossen, all diese Zensoren und Zensörchen: vom Ideologiechef Hager über dessen „Oberhistoriker“ Diehl bis hinunter zu den keineswegs unmächtigen Abteilungsleitern im Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, nun Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung geheißen. Von den Leuten „mit Namen“ blieben die Aufrechten: Günter Benser, er hatte am Stalinismus-Referat, das auf dem Außerordentlichen SED-Parteitag Michael Schumann hielt, mitgeschrieben, sowie natürlich Annelies Laschitza, ohne die Rosa Luxemburg immer noch als ein misslungenes Lenin-Imitat durch den bisher ohnehin nur oberflächlich entstalinisierten Sozialistenhimmel geistern würde.

Und dann war da diese Frau, von der es hieß, sie habe eine Arbeitsgruppe „Opfer des Stalinismus“ gebildet. Das war im Februar 1990. Wenige Tage später saßen wir uns gegenüber – wir, drei Leute, die nicht aus den Parteistrukturen kamen, bauten damals gerade die erste, kurzlebige Historische Kommission der PDS auf. Mit der ihr eigenen Eleganz, in der Kleidung ebenso wie im Auftreten, zog diese nicht sehr große, schlanke und sehr gepflegte Dame ihre „Duett“-Zigaretten aus der Handtasche und begann zu reden. Nein, es war kein Wunder, dass wir zuvor nichts von ihr gehört hatten. Jenen, die in der DDR für „Höheres“ vorgesehen und schon jung in die „Kaderreserve“ einsortiert worden waren, hörte man es ihrem verwaschenen, oft von verzweifelten Sprachlehrern umgefeilten Dialekt an. An Wilfriede Otto war alles echt, auch ihr Sächsisch…

Wie oft gingen wir in den nächsten Monaten in überfüllte Stalinismus-Foren, meist an verschiedenen Ecken des Raumes sitzend; wie oft erklang ihr tapferes, nicht selten abschätzig belächeltes und trotzdem um nichts herumredendes „Ja, das war so. Mehr kann ich im Moment nicht sagen…“. Und dann setzte sie sich in die Archive, bald konnte sie mehr sagen – angefangen bei den Waldheimer Prozessen und längst nicht endend in ihrer großen Erich-Mielke-Biographie. Manches Wochenende saßen wir beide über ihren Artikeln für UTOPIE kreativ zusammen und rangen um Formulierungen; ihr Dokumentenband „Die SED im Juni 1953: Interne Dokumente“ (2003) war schnell vergriffen – auf den Antiquariats-Webseiten wurde zwischenzeitlich das Siebenfache seines ursprünglichen Preises gefordert. Bei der 2. Auflage verdoppelten wir den Preis.

In den Opfergruppen hatte man längst aufgehört zu lächeln; immer mehr nahmen Wilfriede Otto ernst, manche begannen auch, sie zu schätzen. Überall, wo Wilfriede Otto von ihrer Partei benötigt wurde – zumeist in den unangenehmen Fragen der Vergangenheit –, vertrat sie die PDS in den kleinen Öffentlichkeiten wie in der großen Öffentlichkeit. Auch hier, ohne nach „Höherem“ zu streben. Bei allem, was und wen man in den vergangenen 25 Jahren hat kommen, gehen und wieder verschwinden gesehen: Für jede Bundestagsfraktion wäre Wilfriede Otto mehr als eine Bereicherung gewesen. Doch Wilfriede Otto zog auch jetzt den Diäten die Arbeit im Weinberg vor. Nicht zuletzt in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. …

Dort war sie seit fast zwanzig Jahren ein sehr aktives Mitglied des Trägervereins, brachte sich über ihre vielen geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Beiträge in Vorträgen und Publikationen hinaus auch in andere Felder der Vereins- und Stiftungsarbeit intensiv ein. Kaum eine Mitgliederversammlung, in der Wilfriede Otto nicht interveniert hätte, manchmal kritisch, aber immer mit einer großen Loyalität zu, ja, ihrer Stiftung. Deshalb war sie auch bereit, bis Ende 2006 für mehrere Jahre ehrenamtlich im Vorstand der Stiftung mitzuarbeiten, in einer schwierigen Phase, in der die RLS, nachdem sie zwischen 1999, dem Jahr des erstmaligen Erhalts von Bundesmitteln, und 2002 stark gewachsen war, im Ergebnis der für die PDS verlorenen Bundestagswahl bis 2005 in eine unsichere Zukunft blickte.  

Was trieb Wilfriede Otto um? Sie wollte die sozialistische Idee aus dem Gefängnis, in das der Stalinismus sie versenkt hatte, befreien. Die Frau mit den roten Haaren wusste, dass das erst möglich sein würde, wenn der Augiasstall ausgemistet ist – bis auf den letzten Grund.


Videoauschnitt mit Wilfriede Otto
Beim Festakt zum 20jährigen Jubiläum der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 12. November 2010

Eine stille Kämpferin: Wilfriede Otto – 20. September 1933 bis 2. Februar 2015
Dr. Stefan Bollinger, Helle Panke e.V.

Historikerin Wilfriede Otto verstorben
Günter Benser, neues deutschland, 6.2.2015