Seit 30 Jahren hält der Wirtschaftsboom in den chinesischen Metropolen an, der ohne die Arbeitsmigration nicht möglich gewesen wäre. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Arbeitsmigrant_innen wie in China. Nach offiziellen chinesischen Statistiken sind es 250 Millionen Menschen, die in den Fabriken in langen Schichten Handys, Laptops, Fotoapparate, Spielzeug, Jeans und vieles andere für den Weltmarkt produzieren, die im Land Tausende von Kilometer Autobahnen, Schienennetze und die Megastädte bauen oder die einfach in den Großstädten kleine Werkstätten aufgemacht haben oder alle Arten von Dienstleistungen anbieten, ohne die keine städtische Ökonomie funktionieren würde. Sie sind Menschen, die zwischen Stadt und Land leben. In den Städten haben sie keine vollen Bürgerrechte und können meist nicht einmal einen Schlafplatz ihr Eigen nennen. Ihre ländliche Heimat haben die meisten aber lange verlassen, und kehren nur zu den jährlichen Festtagen zurück. Gleichzeitig sind fast alle, der landläufig so Wanderarbeiter_innen genannten immer noch in ihren Heimatdörfern verankert, überweisen regelmäßig Geld ins Dorf, und stehen in regelmäßigem Kontakt mit ihren zurückgelassenen Familien. in Krisenzeiten bleibt zudem nichts anderes, als dorthin zurückzukehren, woher sie aufgebrochen sind .
Im Jahre 2010 führten Prof. Dr. Einhard Schmidt-Kallert von der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund, Peter Franke vom Forum Arbeitswelten in Bochum und Dr. Lin Zhibin von der Nicht-Regierungs-Organisation The Migrant Workers‘ Home in Beijing eine empirische Untersuchung unter Arbeitsmigrant_innen in mehreren Regionen Chinas durch, um den Livelihood Strategies, den Lebens- und Überlebensstrategien zwischen Stadt und Dorf nachzugehen. Sie interviewten über 80 Arbeitsmigrant_innen und ihre Familienangehörigen in den Heimatdörfern. Inzwischen liegen die Ergebnisse dieser Feldforschung vor. Was lag näher, als die Befunde dieser Studie Aktivist_innen und Organisationen, die Wanderarbeiter_innen unterstützen, vorzustellen. Gelegenheit dazu bot ein Workshop zum Thema „Mit dem Stadt-Land Gegensatz leben – wie chinesische Wanderarbeiter_innen mit Multilokalität umgehen“, die die TU Dortmund und das Forum Arbeitswelten gemeinsam mit Globalisation Monitor vom 14.-16.9.2012 in Hongkong mit Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung ausrichteten. Dreißig Vertreter_innen von Nicht-Regierungs-Organisationen aus ländlichen Regionen in den Provinzen Sichuan, Guizhou und Chongqing und aus den Städten Beijing, Yentai, Wuhan, Guangzhou, Suzhou, Xiamen, Huzhou und Shenzhen sowie Hong Kong waren der Einladung gefolgt. Alle machen handfeste Arbeit für Wanderarbeiter_innen: Sie bieten Rechtsberatung an, sie unterstützen die Arbeiter_innen, wenn es Konflikte um Arbeitszeiten, die Auszahlung des zugesagten Lohns oder bei Arbeitsunfällen gibt;sie machen Bildungsarbeit, organisieren kulturelle Aktivitäten und versuchen, den Wanderarbeiter_innen eine Stimme zu geben.
Einige der Aktivist_innen, die zum Workshop gekommen waren, kannten sich schon lange, andere hatten zum ersten Mal die Gelegenheit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Einig waren sich alle, dass das diskriminierende Haushaltsregistrierungssystem hukou abgeschafft werden muss. Aber ob damit die Probleme der Arbeitsmigrant_innen gelöst wären, blieb umstritten. Was unterscheidet die erste von der zweiten, gar der dritten Generation von Wanderarbeiter_innen, war ein anderes beherrschendes Thema des Workshop. Einige Teilnehmer_innen argumentierten: Die erste Generation sei noch von der Erfahrung landwirtschaftlicher Arbeit geprägt gewesen, ohne große Ansprüche hätten sie fast ihren ganzen Lohn ins Dorf geschickt. Die nächste Generation sei längst den Versprechungen der Werbung und der Warenwelt auf den Leim gegangen: schicke Klamotten, teure Handys… Diese Generation hat ihre Dörfer oft jung verlassen oder ist in den Städten geboren, so dass sie sich nicht als Dorfbewohner_innen verstehen. Gleichzeitig sind sie aber auch nicht als Teil der städtischen Gesellschaft akzeptiert und durch die Benennung als „Auswärtige“ (waidiren) oder „Bauernarbeiter_innen“ (nongmingong) wird ihre Nicht-Zugehörigkeit manifestiert.
So weit die Analyse. Doch wie geht es weiter mit dem Leben zwischen Stadt und Land in China? Was könnten die Aktivist_innen, die Nicht-Regierungsorganisationen dagegen setzen, was ist ihre alternative Vision, was ihre Vorstellung von der Zukunft des Stadt-Land Verhältnisses in China? Die Antworten fielen etwas ratlos aus. Kein Zweifel, der Gegensatz zwischen den schnell wachsenden Megastädten und den zurückbleibenden Dörfern, in denen bald nur noch Alte und Kinder leben werden, das sei eine der großen Herausforderungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Aber was sei zu tun? „Baut Gewerkschaften auf, vergesst eure ideologischen Differenzen, kämpft gemeinsam für die Rechte der Arbeitsmigrant_innen, denn Freizügigkeit ist ein Grundrecht!“ rief Au Longyu vom China Labour Net in Hongkong seinen Kollegen in Festland-China beschwörend zu. Für viele kleine Schritte plädierte Zhu Yi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften in Chongqing und Mitgründerin einer Bio-Gärtnerei in Honghu, einem Dorf 150 km vom Stadtzentrum dieser schnell wachsenden Inlandsmetropole entfernt: „Der Anfang war nicht leicht, aber jetzt haben wir im Dorf neun Bauern gefunden, die auf den brach liegenden Feldern mit uns zusammen Bio-Gemüse anbauen. Und in der Stadt haben wir schon 100 Abonnenten unserer Bio-Gemüsekisten. Das ist noch nicht sehr viel, aber es werden immer mehr. Und noch wichtiger: die Städter_innen lernen Feldarbeit wieder wert schätzen, die Bauern verdienen mehr als bei konventioneller Landwirtschaft, es fließt etwas zurück ins Dorf, kleine Schritte nur, aber das ist unser Weg, die ländlichen Räume stärker zu machen; immerhin das Dorf, in dem wir die Bio-Gärtnerei aufgemacht haben, blutet nicht aus…!“