News | Rassismus / Neonazismus - Europa Nationalismus und Antiziganismus in Südosteuropa am Beispiel Bulgariens

Zur Lage der Roma in Bulgarien

Man weiß nicht, wer den Begriff «Antiziganismus» ‹erfunden› hat, erstmalig ist er aber höchstwahrscheinlich in Frankreich in den 1980er und 1990er Jahren verwendet worden. Bis dahin, so die Vermutung des renommierten Wissenschaftlers und Faschismusforschers Wolfgang Wippermann auf der Hamburger Internationalen Antiziganismuskonferenz 2005, sei die  Feindschaft  gegenüber  Sinti  und  Roma so weit verbreitet und so selbstverständlich gewesen, dass  gar keine spezifische Begriffsbezeichnung nötig erschien.
In Europa leben zehn bis zwölf Millionen Sinti und Roma. Viele von ihnen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. Der Europarat hat in seiner Erklärung vom 20. Oktober 2010 eine grundsätzliche Verbesserung der Lebensbedingungen für die Roma gefordert und einen Prioritätenkatalog zur Bekämpfung der Diskriminierung von Roma aufgestellt. Mit dem  Sonderbeauftragten des Europarates zu Fragen der Roma wird auch institutionell versucht, der alltäglichen Diskriminierung der Roma entgegenzutreten.
Laut der im Jahr 2011 durchgeführten Volkszählung leben in Bulgarien ca. fünf Prozent Roma. Es wird allerdings behauptet, dass die tatsächliche Zahl der im Lande lebenden Roma die offiziellen Angaben bei weitem übersteigt, und dass die Verzerrungen weitgehend auf die tief verwurzelte Feindseligkeit gegenüber den Roma in der Gesellschaft zurückzuführen sind. Um der sozialen Ausgrenzung und dem Rassismus zu entgehen, geben sich viele Roma lieber als Bulgaren oder Türken aus. Realistischere Schätzungen gehen nach Untersuchungen von Experten von rund 600.000 bis 800.000 Roma aus, was zwischen 7,2 und 9,6 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Roma werden in allen Ländern der EU diskriminiert. Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt und vom Bildungssystem, Vertreibung, Verfolgung, aber auch gewalttätige Ausschreitungen und tödliche Gewalt gegenüber Roma – das sind nur Auszüge aus den antiziganistischen Praktiken und sie haben fatale Auswirkung auf das Leben der als «Zigeuner» bezeichneten Menschen. 

Die Roma in der Transformationsphase Bulgariens

Während viele Menschen in Bulgarien insbesondere das erste Jahrzehnt der Transformation vom Staatssozialismus zum liberalen Kapitalismus als eine Phase des sozialen und ökonomischen Abstiegs erlebten, haben sich viele Schwierigkeiten dieser Zeit auf die während des Realsozialismus integrierten Roma besonders negativ ausgewirkt. Mit der Privatisierung des öffentlichen Sektors verloren die meisten Roma ihre Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im Industriesektor, wo sie überwiegend tätig waren. Da die wirtschaftliche Transformation sich besonders stark auf diese Sektoren auswirkte, gehörten die Roma somit zu den ersten Verlierern der kapitalistischen Transformation. Roma waren überproportional von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen. Im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung in Bulgarien, konnten sie auch nicht auf die Restitution vormals enteigneten Grundbesitzes warten, da ihre soziale und ökonomische Marginalisierung schon lange Bestand hatte. Die Roma  wurden sehr schnell an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ausgegrenzt. Infolge dessen, sowie als Konsequenz ihrer brutalen Verarmung und ihrer Perspektivlosigkeit, verfielen die Roma in Bulgarien sehr schnell in rückständige klanartige Strukturen. Die steigende Armut hat zudem dafür gesorgt, dass Schul- und Ausbildung nicht mehr für alle BürgerInnen gleichermaßen zugänglich waren. Die Zahl derjenigen, die gar keine oder nur eine rudimentäre Schulausbildung genießen, steigt mit der Zeit kontinuierlich an. Die teuren Schulwege und Lehrmittel lassen den Schulbesuch zum Luxus werden. Das Analphabetentum unter den jungen Roma, die weder lesen noch schreiben können, beträgt heutzutage bis zu 75%.  Der Antiziganismus in Bulgarien, der die Roma umfassend ausgrenzt, wirft ihnen eine angebliche «rassische» oder kulturalistische Neigung zu Verelendung, Elendskriminalität oder Arbeitsscheu vor – wobei dies gerade die Folgewirkungen der fortschreitenden Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe sind.

Die Suche nach Sündenböcken

Roma befanden sich nicht nur historisch in der Rolle von Sündenböcken für allgemeine gesellschaftliche Probleme. Insbesondere nach der Wende wurden sie immer wieder Opfer von kollektiven Gewaltausbrüchen. Selten wurden die Täter zur Verantwortung gezogen, eher noch die involvierten Roma vor Gericht gebracht.  Die weit verbreiteten negativen Einstellungen wirken sich nachteilig auf deren gesellschaftlichen Status aus. Der Ausschluss vom sozialen und politischen Leben und die systematische Verletzung ihrer Menschenrechte prägen die Erfahrungen der Roma nach der Wende.
Roma sind in Bulgarien häufig Ziel rassistisch motivierter Gewaltakte, die sowohl von staatlichen als auch von nichtstaatlichen Akteuren begangen werden. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang ist der Vorfall in Katunitza im September 2011. Alles begann, als ein 19-jähriger Jugendlicher gegen Abend im Dorf Katunitza, im Verwaltungsbezirk Plowdiv gelegen, seinen Hund ausführte und von einem mit Roma besetzten Kleinbus erfasst wurde, der den jungen Mann mitschleifte und tödlich verletzte.  Nach diesem Vorfall kam es zu weiteren gegen Roma gerichteten Ausschreitungen. Dabei wurden drei Häuser des örtlichen Roma-Anführers Kiril Rashkov in Brand gesetzt. Mitglieder eines Fußballfanclubs aus Plowdiw schlossen sich den Protesten an und es wurden Parolen wie «Zigeuner ins Gas!» oder «Zigeuner zu Seife» skandiert, die zu Hass und Gewalt gegen Roma und Türken aufriefen. Während der nächsten Tage organisierten lokale Gruppen, Fußball-Fanclubs und Neonazi-Gruppen, unterstützt von rechten und nationalistischen Parteien wie ‹ATAKA› und ‹VMRO› [Vatreschna Makedonska Revoljuzionna Organizacija – Innere Makedonische Revolutionäre Organisation], Kundgebungen in weiteren Städten. Roma wurden bedroht oder sogar Opfer von tätlichen Angriffen. Berichten zufolge hatten Roma in einigen Gegenden aufgrund der kritischen Sicherheitslage Angst, ihre Häuser zu verlassen. Das Problem mit der Isolierung der Roma, das seit Jahren ignoriert wurde, eskalierte. Die angeblichen kriminellen Umtriebe des Roma-Klanführers Raschkow dienten somit als Katalysator, um dem schwellenden Antiziganismus zum Ausbruch zu verhelfen. Die in Bulgarien allgegenwärtige Mafia-Herrschaft und Korruption personifizierte sich in den Roma. Die hohe Kriminalitätsrate wurde zu einem «ethnischen» oder «rassischen» Merkmal der Roma ideologisiert. Soziale Widersprüche – wie etwa die tatsächlich weitverbreitete Elendskriminalität - werden so zu Eigenschaften einer Menschengruppe erklärt. Den aufgehetzten PogromteilnehmerInnen scheint es somit, als ob Kriminalität, Verelendung und Ar-beitslosigkeit, die auch in Bulgarien seit Krisenausbruch wieder zunehmen, im Gefolge der Vertreibung der Roma ebenfalls verschwinden würden.

Rassismus und Antiziganismus in der bulgarischen Gesellschaft

Ein weiteres Bespiel für den weitverbreiteten Antiziganismus stellt der Internet-Aufruf von Bojan Rassate im Mai 2012 dar, der zum Boykott der bulgarischen Vertreterin beim Eurovison-Songcontest, Sofi Marinowa, wegen ihrer Zugehörigkeit zur Roma-Minderheit aufrief.  Die Nationalisten erklärten, dass sie damit nicht einverstanden seien, von einer «Zigeunerin» bei dem Liederwettbewerb vertreten zu werden, weil es ihrer Meinung nach in Bulgarien «so viele talentierte Musiker» gebe. Rassatte hatte bei einem internationalen Treffen am 5. und 6. Mai 2012 vor Nationalisten in Deutschland gesagt, dass die nationale bulgarische Identität von «Mord, Vergewaltigung, Raub und Steuerhinterziehung» bedroht sei.
Wenn vom Antiziganismus in Bulgarien im Zusammenhang mit politischen Parteien die Rede ist, sollte noch ein weiterer Punkt erwähnt werden: Die Parteienlandschaft in Bulgarien ist sehr stark populistisch ausgerichtet. Selbst Parteien, die nicht als rassistisch oder nationalistisch bezeichnet werden würden, treten antiziganistischen Vorurteilen und rassistischen Stereotypen nicht entgegen. Die Mehrheit der Parteien in Bulgarien, sogar sozialdemokratischer oder kommunistischer Provenience, trauen sich der «Wählerstimmen» wegen nicht, das Problem beim Namen zu nennen um es zu bekämpfen. Dabei gibt es eine Reihe politischer Parteien wie ‹ATAKA›, ‹VMRO›, ‹BND› [Balgarsko Nazionalno Dwischenie – Bulgarischer Nationalbund] und andere, die nationalistische bis neofaschistische Positionen vertreten und in ihrer alltäglichen Arbeit mit den Ängsten der Menschen spekulieren um sie in eine nationalpopulistische Richtung zu drängen.

Gesellschaftspolitische Integration

Um eine effektive Bekämpfung des Antiziganismus in Gang zu setzen, muss man einerseits Voraussetzungen für die gleichberechtigte Beteiligung der Roma am gesellschaftspolitischen Leben des Landes schaffen. Dabei muss man ihnen gleichzeitig auch die Möglichkeit zu seiner Mitgestaltung garantieren, etwa über eine verstärkte Sozialarbeit mit den Roma-Familien oder durch Perspektiven eröffnende Integrationskonzepte. Andererseits ist es absolut prioritär, konsequent gegen Vorurteile und rassistisch motivierte gesellschaftliche Stereotypen vorzugehen. Infolge der gegenwärtigen ökonomischen Krisensituation und einem Wiedererstarken des Nationalismus in Europa nimmt auch der Antiziganismus zu – diesem Trend muss entschieden entgegengetreten werden.  Antiziganistische Äußerungen und Praxen sollten zu einem gesamtgesellschaftspolitischen Thema werden, es muss im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussionen stehen. Rassismus – in all seinen Formen – ist ein Verbrechen und darf nicht geduldet werden.

Margarita Mileva, Vorsitzende der Buzludza-Stiftung, Sofia, Bulgarien