News | International / Transnational - Afrika Wie schaffen wir eine neue Wirtschaft für alle?

Denis Goldberg, Anti-Apartheidkämpfer und ANC-Mitglied, im Gespräch mit Odile Jolys für ROSALUX (Langfassung der gedruckten Ausgabe 4-2012).

ROSALUX: Wie haben Sie sich am 16. August gefühlt, als Sie vom Massaker in Marikana, wo 34 Bergarbeiter von Polizisten brutal niedergeschossen wurden, gehört haben?

D.G.: Ich war sehr, sehr traurig. Aber wenn wir über Marikana sprechen, müssen wir zwei Dinge festhalten: Der Streik der Arbeiter für mehr Lohn und bessere Lebensbedingungen ist legitim. Dass aber Arbeiter auf Arbeiter schießen ist eine Tragödie, denn die Einheit der Arbeitnehmerschaft ist ihre größte Stärke. Die getöteten Polizisten, Sicherheitskräfte und Gewerkschafter sind auch Arbeiter, sie sind auch schlecht bezahlt, haben auch Familie, die jetzt nun trauern. Die Polizei sollte immer das geringste Maß an Gewalt anwenden.  Meine Meinung nach sind die Polizisten in Marikana   am 16. August in Panik geraten. Marikana ist wie andere Tragödien, immer dann zu beobachten, wenn der Kapitalismus sich in der Krise befindet.

ROSALUX: Wie erklären Sie sich die Welle von Streiks, die das Land ergriffen hat? Neben dem Platinbergbau wird nun auch die Gold-, Kohle- und Chromförderung bestreikt. Insgesamt sind 100.000 von insgesamt 500.000 Bergleuten im Ausstand. Daneben streiken die Transportgewerkschaften und die Gewerkschaft der lokalen Verwaltung hat auch zum Streik aufgerufen?

D.G.: Die Ursachen für den Streik in Marikana und anderswo im Bergbau gehen zurück auf die Geschichte des Kolonialismus und der Apartheid im Land. Apartheid war nichts anderes als ein System billiger Arbeitskräfte gestützt auf die Rassetrennung. Besonders im Bergbau wurden niedrige Löhne für die Masse der schwarzen Arbeiter bezahlt. Während der Apartheid waren gut ausgebildete Arbeitnehmer weiss, sie  erhielten in der Apartheid höhere Löhne. Die schlecht ausgebildeten Arbeitnehmer waren schwarz. Sie wurden extrem schlecht bezahlt. Als 1922 die weißen Minenarbeiter in den Streik getreten sind, wollten die schwarzen Arbeiter sie unterstützten, die Weißen wollten aber diese Unterstützung nicht und schickten sie zurück zur Arbeit. Von der Apartheid haben wir eine getrennte Arbeiterschaft geerbt.  In Europa mit seiner stark organisierten Arbeitnehmerschaft ist der Lohnunterschied zwischen den schlecht und gut ausgebildeten Arbeitskräften geringer. Hier in Südafrika ist der Unterschied bis heute extrem, wegen der rassistischen Vergangenheit. Was mich besorgt ist der Umstand, dass wir erst jetzt bemerken, dass sich an dem Zustand nichts verändert hat. Vor allem wie kann es sein, dass die „neuen Kapitalisten“, viele von ihnen ehemalige Gewerkschafter, Freiheitskämpfer und Kommunisten nichts gemacht haben um die Niedrigstlöhne im Bergbau anzuheben. Politische Freiheit und Gleichheit allein ist nicht ausreichend, es bedarf auch einer größeren sozialen Gleichheit.

ROSALUX: Heute wird in Südafrika immer stärker der Wandel 1994 kritisiert. Für viele hat die Generation Mandela, zu der auch sie gehören, zu vielen Zugeständnissen an das weiße Apartheidregime gemacht. Teilen Sie diese Kritik im Rückblick?

D.G. Der Übergang 1994 war verhandelt. Wir konnten damals nicht unsere Bedingungen einfach durchsetzen. Das alte Regime vor allem die alte Bürokratie war noch da. Sie war nicht immer loyal gegenüber der neuen Regierung.  Ich habe das selbst erlebt, als ich später Berater für die Regierung war. Wir konnten nicht alle gesellschaftlichen Beziehungen verändern und wir gewöhnten uns offenbar an einige. Marikana zeugt von diesen alten gesellschaftlichen Beziehungen. Viele der Arbeiter kommen als Wanderarbeiter weit entfernt aus dem Ostkap. Sie brauchen das Geld, das sie verdienen, um es an ihre Familien zu senden. Deswegen kassieren sie lieber das Wohngeld als in Unterkünften der Minen unterzukommen, so können sie mehr Geld nach Hause schicken und für sie selber  bauen sie Barracken und leben weiter wie in der Apartheidzeit. Das kann so nicht weitergehen, wir wollen eine Wirtschaft für alle bauen.

ROSALUX: Was sagen Sie den Kritikern im Land, welche den Lohnforderungen der Arbeitnehmer kritisch gegenüberstehen?

D.G.: Wenn die Arbeitnehmer höhere Löhne erkämpfen, drohen selbstverständlich Arbeitsplatzverluste, wenn die höheren Kosten am Weltmarkt nicht durchgesetzt werden können,  oder wird die Arbeit durch Maschinen im Bergbau ersetzt und Arbeitsplätze verschwinden. Beides wäre eine Tragödie. Wir müssen deshalb den tiefen Graben zwischen den niedrigen Lohngruppen und den Spitzenverdiener schließen. Wie kann Tokyo Sexwale, Mitglied des ANC und Wohnungsbauminister, als Investor und Manager, Tausend mal mehr verdienen als ein einfacher Arbeiter? Sexwale der geweint hat, als Chris Hani, Generalsekretär der kommunistischen Partei 1993 getötet wurde. Wie konnten wir nur unsere Prinzipien so vergessen, nachdem wir mächtig wurden?   Als Humanist hat man eine Wahl, man hat eine moralische Wahl.

ROSALUX: Worin sehen Sie die Rolle der Regierung in der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Südafrika?

D.G. Wir brauchen mehr Führung (Leadership) im Land. Wir feiern Mandela, aber wir machen nichts. Die Art wie wir Mandela huldigen ist in gewisser Weise demoralisierend. Wir machen als ob er uns die Freiheit wie ein Geschenk gebracht hätte und warten nun auf einem neuen „Messias“. Mandela selber hat aber immer gesagt, er war ein Führen unter anderen großen Führern. Jeder sollte nun Führungsqualität beweisen, von den Lehrern bis zum Betriebsrat und zum Präsidenten. Gegenwärtig  führt niemand mehr das Land.

ROSALUX: Was erwarten Sie konkret von Jacob Zuma?

Zuma muss voran gehen. Zuma muss für einen Lohnstopp für alle Besserverdienenden eintreten. Überall in der Wirtschaft müssen sich jetzt alle für eine Lohnpause bei den gut bezahlten Arbeitsplätzen einsetzen. Durch die Inflation und die  damit schlechter bezahlte Jobs höhere Lohnzuwächse für Geringverdiener würde sich dann die Lohnspanne reduzieren.  Alle ANC-Kapitalisten, alle Investoren und Bergbautycoons mit Parteibuch müssen sich nun sagen: Ich brauche nicht mehr für mich, ich bin reich genug, es geht nicht mehr nur um mich, im Interesse des Kapitalismus muss ich nun für mehr Gleichheit sorgen. Das ist idealistisch, ich weiß, die englische Geschichte zeigt aber, dass es einige aufgeklärte Kapitalisten waren, welche die Kinderarbeit stoppten. Wir müssen klein anfangen, von einer sozialdemokratischen Transformation hin zu einem noch größeren Umbau der Gesellschaft. Bei mir zu Hause in Kapstadt hat sich gerade die Sozialistische Internationale getroffen. Der ANC ist  Mitglied. Wir im ANC reden aber nicht mal sozialistisch, nicht einmal sozialdemokratisch. Das muss sich ändern.

FRAGEN: ODILE JOLYS