News | GK Geschichte Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 und ihre Bedeutung für die Linke

Bericht von der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Leipzig, 20. April 2013

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Bernd Hüttner,

Am 23. Mai jährt sich die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) zum 150. Mal. Im linken Geschichtsdenken waren die Entstehung des ADAV und vor allem die Rolle ihrer dominierenden Führungsfigur Ferdinand Lassalle immer umstritten. Die (orthodoxe) Parteigeschichtsschreibung der DDR orientierte sich positiv einseitig auf die von Bebel und Liebknecht verkörperte Tradition, die sog. Eisenacher, die sich 1869 als Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) organisatorisch begründete.

Unbestritten ist, dass mit dem ADAV nach vielfältigen Vorläufern wie dem Bund der Kommunisten, dem Bund der Gerechten, zahlreichen Arbeiterbildungsvereinen und anderen Organisationen die erste sozialistische Arbeiterpartei in Deutschland entstand und diese international weitgehend ohne Beispiel war. Hier liegen die Wurzeln der politischen Organisation der deutschen und eine wichtige Wurzel der internationalen Arbeiterbewegung, die 1869 mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und dem Vereinigungsparteitag der Eisenacher mit dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) 1875 in Gotha ihren vorläufigen Abschluss fand. Die geschichtspolitische Aufgabe der Veranstaltung lag unter anderem darin, diese historische Tradition zu reflektieren– ohne Alleinvertretungsanspruch, und auch ohne andere wichtige Traditionslinien in der Arbeiterbewegung und ihren Parteien zu übersehen. Ungeachtet seiner Schwächen ist festzuhalten, dass der Gründungsimpetus des ADAV bis in die Gegenwart reicht und für die LINKE und die Linke relevant ist.

DAGMAR ENKELMANN, Vorsitzende der Rosa Luxemburg Stiftung, eröffnete die Konferenz. Sie warb in ihrem Beitrag für Pluralität. Die Arbeiterbewegung sei ein Baum mit vielen Wurzeln und Ästen.

HELGA GREBING, ehemalige Leiterin des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum führte in die Zeit vor und um 1863 ein. Sie wies auf die Wurzeln der Arbeiterbewegung in Bildungsvereinen, im ständischen Zunftwesen, in der bürgerlichen Revolution von 1848 und im Linksliberalismus hin. Von einer Arbeiterbewegung als Massenphänomen sei freilich erst ab circa 1890 zu sprechen. Bei der Fusion 1875 hatte der ADAV 15000 Mitglieder und die SDAP von Bebel 9000. Grebing sah zwei Gründungslinien, aber ein Ziel. Nicht zuletzt sie fraglich, ob nicht die Gründung der SPD auf den Gothaer Parteitag von 1875 anzusetzen sei?

MICHAEL BRIE, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der RLS, plädierte in seinem Beitrag (Onlinefassung) nicht nur für einen Bruch mit dem Stalinismus als System, wie er ja nominell längst erfolgt sei, sondern auch für eine scharfe Kritik des Leninismus. 1989 sei in der damaligen SED/PDS eine Kritik des Leninismus noch nicht möglich gewesen. Historisch sei mit dem Umstand, dass das Proletariat sowohl Produkt als auch Verneinung des Kapitalismus sei, unterschiedlich umgegangen worden. Der sich nach Napoleon durchsetzende Rechtsstaat basiere grundlegend auf dem Eigentum, auch der Arbeiter und die Arbeiterin sei Eigentümer_in ihrer/seiner Arbeitskraft und sie seien auch vertragsfähig. Es gebe aber durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln eine Asymmetrie in der Machtposition. Auf die damals sogenannte „soziale Frage“ habe es zwei Antworten gegeben. Diejenige von sozialer Demokratie, Wahlrecht, sozialer Sicherung und Sozialeigentum, wie sie etwa von Reformern wie Lorenz von Stein verkörpert werde. Die andere sei die der Revolution und rekurriere wesentlich auf Marx. Sie propagiere zwar Fernziele und Nahziele, trete jedoch für eine Diktatur des Proletariats und kollektives Eigentum ein. Eine erste Zäsur sei 1914/1918. Viele europäische Sozialdemokratien, nicht nur die deutsche, schwenkten angesichts des Krieges auf die Vaterlandsverteidigung um. Durch die Bolschewiki haben dann Demokratie und Sozialismus keine Basis mehr in einer Organisation. Die Bolschewiki verkörpern stärker den Sozialismus, die Sozialdemokratie die Demokratie. Offen bleibe in der revolutionären Lesart das Verhältnis des/der Einzelnen zum Kollektiv (diese Lücke besetze dann der Anarchismus) und die kritische Infragestellung des Determinismus, dass der Sozialismus auch automatisch innovativer und effizienter sei. Der Leninismus habe mit dem Erbe der Aufklärung gebrochen, bereits er habe dem obersten Ziel, der Sicherung der Macht der Bolschewiki, alles andere untergeordnet, Menschen funktionalisiert, wenn nicht zerstört. Er sei aber – auch angesichts seiner Renaissance in Kuba, Vietnam und China - trotzdem Teil der Theorie-Geschichte der (europäischen) Linken. Als gesellschaftliche Transformationsperspektive trug Brie den „Vier in einem“ Ansatz vor. Zweitens seien Sozialeigentum, Allmende, Genossenschaften und eine anderer Naturumgang grundlegend für einen neuen Sozialismus. Dieser müsse die „Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ sein.

HELGA GREBING wies in der von DETLEF NAKATH moderierten Diskussion darauf hin, dass die Sozialdemokratie nie eine elektorale oder gar gesellschaftliche Mehrheit besessen habe. Sie warnte vor einer Instrumentalisierung von Geschichte und bemerkte, dass, falls die Thesen von BRIE in der LINKEN Konsens seien, einer Fusion von LINKE und SPD nichts mehr im Wege stehe. BRIE kritisierte die Vorstellung vom zu schaffenden „neuen Menschen“ ebenfalls und wies darauf hin, dass der Mensch widersprüchlich sei, er sei „Ich-Wesen“ und „Wir-Wesen“ zugleich. Der Neoliberalismus habe einseitig nur das „Ich-Wesen“ gefördert, der Kommunismus nur das „Wir-Wesen“. BRIE verwehrte sich gegen eine simple Gleichsetzung von Leninismus und Stalinismus. Während des Leninismus sei die Partei noch eine „lernende Organisation“ gewesen, später nicht mehr. MARIO KESSLER erinnerte in der Diskussion an Peter von Oertzen, den Linkssozialismus und dessen Begriff des radikalen Reformismus, der die von Brie aufgezeigten Einseitigkeiten zu überwinden versuche. BRIE wies auf einen um Haus- und Reproduktionsarbeit erweiterten Begriff von Ökonomie hin, er sei für heutige linke Debatten zwingend. ENKELMANN plädierte abschließend dafür Unterschiede (zwischen SPD und LINKE) zu akzeptieren, dies könne Kooperation und den Umgang miteinander erleichtern.

Nach der Mittagspause stellte KLAUS KINNER die von Wolfgang Schroeder verfasste, 2013 posthum erschienene Biographie über Wilhelm Liebknecht vor. KINNER verstand es, in eindrücklichen Zitaten, die herrschende Lesart des ADAV in der SED als „opportunistische Sekte“ zu veranschaulichen. Für Liebknecht sei im Einigungsprozess mit dem ADAV die Einheit wichtiger gewesen als die maximale Durchsetzung seiner eigenen programmatischen Ziele. Diesen Umstand wiederum habe die SED-Lesart als Einfallstor für den zu „1914“ hinführenden Opportunismus der Eisenacher interpretiert. KINNER erinnerte auch an die Tradition der Leipziger Forschungs- und Editionsarbeit zur Geschichte der Arbeiterbewegung, wie sie sich zum Beispiel in den zwischen 1960 und 1967 publizierten 15 Bänden mit den Werken von Franz Mehring zeige.

Dass bereits 1864 die Erste Internationale der Arbeiterparteien gegründet wurde, war für JUTTA SEIDEL ein Zeichen für den damals beginnenden Aufschwung der Arbeiterbewegung. Das Neue am ADAV sei – im Unterschied zu den eher lokalistischen Initiativen vorher - sein gesamtnationaler Fokus und seine organisationspolitische Selbstständigkeit gewesen.

MANFRED NEUHAUS bestätige die bereits angeführte These, dass der ADAV und noch mehr Lassalle in der DDR ein heißes geschichtspolitisches Eisen gewesen sei. Lassalle und der zehn Jahre ältere Marx lernten sich bereits 1848 kennen. Lassalle unterstütze Marx mindestens bis 1861. Marx war, so NEUHAUS, neidisch auf den Erfolg von Lassalle. Marx´ authentisches Gefühl zu Lassalle sei dann zusehends Hass gewesen.

MONIKA RUNGE, Vorsitzende der Rosa Luxemburg Stiftung warb in ihrem Schlusswort nochmals dafür dass sich die Linke und noch mehr DIE LINKE in die Tradition des ADAV stellen solle. Nach ihrer Ansicht komme im aktuell gültigen Programm der LINKEN der Antistalinismus zu kurz.

Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Konferenzübersicht: 

Dagmar Enkelmann: Begrüßung

 

Eröffnungsvortrag

Helga Grebing: Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein 1863 - der Anfang einer sozialen Bewegung oder nur die Auflösung einer 'sozialliberalen Koalition'?

 

Michael Brie: Der Bruch mit dem Leninismus als System. Sozialismus und Demokratie – eine unbewältigte Aufgabe

 

Podiumsdiskussion mit Helga Grebing, Michael Brie und Dagmar Enkelmann, Moderation: Dr. Detlef Nakath

 

Nachmittagspodium

Klaus Kinner (Leipzig): Eine neue Wilhelm-Liebknecht-Biografie

 

Jutta Seidel (Leipzig): Die Gründung des ADAV im Spektrum der internationalen Arbeiterbewegung

 

Manfred Neuhaus (Leipzig): Ferdinand Lassalle und Karl Marx - zur Archäologie einer Hassliebe

 

Monika Runge (Leipzig): Schlusswort

© Foto: Gerd Eiltzer, RLS Sachsen