Mit einem Berg alter Turnschuhe empfingen Aktivisten der Anti-Atom-Organisation „ausgestrahlt“ die Delegierten bereits vor dem Berliner Velodrom, in dem der Parteitag der Grünen Ende April 2013 über das Bundestagswahlprogramm der Öko-Partei beraten wollte. Auf Transparenten forderten die Kernkraftgegner, „Grüne, zieht die Turnschuhe wieder an!“ und macht „Mehr Tempo beim Atom-Ausstieg!“.
Drinnen in der Tagungshalle arbeiteten sich die Delegierten im Eiltempo am 183 Seiten umfassenden Entwurfstext des Bundestagswahlprogramms ihrer Partei ab, das den Anspruch auf einen gesellschaftlichen „grünen Wandel“ begründet. Obwohl zum Programm-Entwurf über 2.600 Änderungsanträge gestellt worden waren, sorgte eine geschickte Parteitagsregie durch Übernahmen bzw. modifizierte Übernahmen von Änderungsanträgen im Rahmen der Antragstellertreffen dafür, dass einerseits Vorstellungen aus der Parteibasis in das Programm einfließen konnten und andererseits nur vergleichsweise wenige Abstimmungen erforderlich waren. Dabei wurden im Wesentlichen die Vorstellungen der Parteiführung verabschiedet. Am Ende der BDK wurde das Wahlprogramm einstimmig angenommen.
Reden der Spitzenpolitiker
Alle Spitzenpolitiker der Grünen plädierten vor den rund 800 Delegierten der aktuell 60.515 Mitglieder zählenden Partei dafür, nach einer erfolgreichen Bundestagswahl am 22. September 2013 eine Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu bilden. Sie erteilten dabei der Union eine eindeutige Absage. In seltsamem Kontrast dazu standen Interview-Äußerungen des grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Der Süddeutschen Zeitung hatte der Politiker unmittelbar vor dem Parteitag in einem Interview gesagt, die Präferenz der Öko-Partei liege „klar bei Rot-Grün“. Die Grünen seien aber „von der Union auch nicht so meilenweit weg, dass wir mit ihr, sollte es für Rot-Grün nicht reichen, nicht mal Sondierungsgespräche führen könnten“.
Der Spitzenkandidat der Grünen zur Bundestagswahl, Jürgen Trittin, sagte dagegen mit dem Blick auf den bisherigen bayerischen CSU-Fraktionsvorsitzenden Georg Schmid, der über lange Jahre seine Ehefrau mit Steuermitteln beschäftigt hatte: „Mit solchen korrupten Amigos wie dem Schmid von der CSU koalieren Grüne nicht. Wir sorgen dafür, dass sie abgewählt werden.“ Der Fraktionschef der Grünen im Bundestag griff die schwarz-gelbe Bundesregierung scharf an: Sie sei keine Regierung. „Sie ist fleischgewordener Stillstand.“ Und eine Regierung, die nicht mehr regiert, gehöre auf die Bänke der Opposition – „dafür werden wir sorgen!“.
Trittin verteidigte die umfassenden grünen Steuerpläne – auch gegen Kritiker in den eigenen Reihen wie Kretschmann, der im schon erwähnten Interview gemeint hatte: „Ich glaube nicht, dass man in einer Legislaturperiode mehr als zwei zentrale Steuern erhöhen kann.“ Trittin rechnete hingegen vor, dass alle, die weniger als 60.000 Euro im Jahr verdienen, durch die grüne Steuerpolitik gewinnen würden. So würden 90 Prozent der Einkommenssteuerzahler entlastet. Der höhere Spitzensteuersatz ab 80.000 Euro betreffe lediglich sieben Prozent der Einkommenssteuerzahler, die geplante Vermögensabgabe nur das eine Prozent der Bevölkerung, das über ein Drittel des deutschen Privatvermögens verfüge. 90 Prozent der klein- und mittelständischen Betriebe seien von der Vermögenssteuer nicht betroffen. Sie würden aber zurzeit mit ihren Unternehmenssteuern jene 36 Milliarden Euro schultern, die allein in diesem Jahr für den Schuldendienst des Bundes aufzubringen sind. „Das ist mittelstandsfeindlich.“
In diesem Kontext griff Trittin scharf den Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer, an, der behauptet hatte, dass durch die grünen Steuerpläne 450.000 Arbeitsplätze verloren gehen würden. Diese Äußerungen, sagte Trittin, seien „am Rande der strafrechtlichen Untreue“. Es gehe nicht an, öffentlich-rechtliche Zwangsabgaben „für eine verlogene Anti-Grün-Kampagne zu missbrauchen“.
Katrin Göring-Eckardt, die Spitzenkandidatin der Grünen, rankte ihre wenig inspirierende Rede um das Parteitags-Motto „Deutschland ist erneuerbar“. Das ginge allerdings nur mit den Grünen, keineswegs mit Schwarz-Gelb. Eines sei aber auch klar: „Wir machen unseren Wahlkampf nicht im Windschatten der SPD. Nein, wir sind der Wind.“ Die „Mutter Theresa der Grünen“ erklärte: „Wir Grüne machen Politik für die Mehrheit derjenigen, die sich für wenig Lohn verdammt viel anstrengen müssen. Für die, die sich engagieren und einsetzen und trotzdem keine Chance bekommen.“
Parteichef Cem Özdemir ging auf die konfliktbeladenen Themen Migration und Integration ein. Die Grünen würden gegen eine Politik, die auf Ressentiments fußt, jederzeit vorgehen: „Aber, was nützt einem der Aufstand der Anständigen, wenn es am Anstand der Rückständigen fehlt, wenn Menschen wegen ihrer bloßen Herkunft kriminalisiert werden. Die Rückständigen müssen am 22. September die Quittung erhalten für ihren dumpfen Populismus.“ Mit dem Blick auf die südeuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) kritisierte Özdemir die Politik der Merkel-Regierung: „Wir können nicht auf Teufel komm raus Sparmaßnahmen fordern und die darin enthaltenen Gefahren gesellschaftlicher Umbrüche ignorieren.“ Özdemir, dessen Partei kürzlich im Magazin DER SPIEGEL als „Robin-Hood-Partei“ bezeichnet worden war, outete sich als Sympathisant dieses „Rächers der Armen“: „Wer Robin Hood, also übertragen auf heute, den Kampf gegen unregulierte Finanzmärkte, gegen Steuerhinterziehung und Steueroasen, für Mindestlöhne und gleiche Rechte für alle möchte, der ist bei uns ganz richtig“, erklärte der Parteichef unter dem Beifall der Delegierten. Wer dagegen Sympathien für den Sheriff von Nottingham verspüre, der sollte besser die Schwarz-Gelben wählen.
Parteichefin Claudia Roth behauptete in der Politischen Rede des Bundesvorstands, Die Grünen seien die Wirtschaftspartei, weil sie die historische Verbindung schaffen zwischen Ökonomie und Ökologie. Und dies sei die materielle Basis für die Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Roth nutzte diese Rede, um die schwarz-gelbe Bundesregierung zu attackieren. Sie warf ihr vor, keinen Kompass zu haben, und charakterisierte die Bundeskanzlerin als „konfuse Euro-Retterin“, gegen deren Schlingerkurs die Irrfahrt des Odysseus‘ „als geordnete Reise erscheint“. In einer kämpferischen und umjubelten Rede rief Roth Die Grünen dazu auf, im Bundestagswahlkampf für ein Bündnis mit der SPD einzutreten. Statt falsche Hoffnungen auf eine „Union der Entsolidarisierung, der Spaltung und Umverteilung“ von den Armen zu den Reichen zu setzen, wolle sie ihre Kraft „tausendmal lieber“ nutzen, um der SPD die Kohlekraft auszureden oder sie vom Unsinn der Vorratsdatenspeicherung zu überzeugen. An Sigmar Gabriel gewandt, erklärte Roth, jetzt sei die Zeit für die klare Ansage: „Wir wuppen das! Die nächste Bundesregierung wird rot-grün – wenn unsere beiden Parteien ihre Potenziale mobilisieren.“
Mit Sigmar Gabriel sprach erstmals ein SPD-Vorsitzender auf einem Parteitag der Grünen als Gastredner. Er bescheinigte den Grünen, eine Partei zu sein, die sich an Werten und Prinzipien orientiert. „Nichts fehlt diesem Land mehr als eine Politik, die sich wieder an Werten und Prinzipien orientiert.“ Gabriel beschwor die Gemeinsamkeiten von SPD und Grünen und betonte, eine neue Koalition aus SPD und Grünen solle mehr sein als ein rechnerisch mögliches Bündnis. „Wir wollen gemeinsam regieren, weil es uns um mehr geht als um eine Liste von Einzelthemen und die Verteilung von Ministerposten, nämlich um eine andere Richtung der Politik.“ Wir brauchen, so der SPD-Politiker, keine „marktkonforme Demokratie“, wie dies Angela Merkel postulierte, sondern demokratiekonforme Märkte. Es gehe darum, die Zukunft zurück in die Politik zu holen. Nur SPD und Grüne seien in der Lage, den Kapitalismus sozial und ökologisch zu bändigen. Aufgabe sei es, die Bedingungen für ein gelungenes Leben der Menschen zu schaffen: „Wir müssen den Menschen, die nicht mehr an die Demokratie und ans Wählengehen glauben, die Hoffnung zurückgeben, dass sich das Leben zum Besseren wenden lässt“, unterstrich Gabriel. „Wenn wir das schaffen, dann werden wir auch die Wahl gewinnen.“
Debatten und Beschlüsse zur Energie-, Wirtschafts- und Umweltpolitik
Ganz im Sinne der Anti-AKW-Bewegung, die vor der Tagungshalle „Mehr Tempo beim Atom-Ausstieg!“ einforderte, plädierten drinnen Parteilinke um Karl-Wilhelm Koch dafür, den Atomausstieg zu beschleunigen. Sie verwiesen auf den Beschluss der Außerordentlichen BDK der Grünen am 25. Juni 2011 in Berlin, in dem es hieß: „Wir werden auch weiterhin mit aller Kraft dafür arbeiten, dass das letzte Atomkraftwerk so bald wie möglich endgültig vom Netz geht, und zwar deutlich vor dem von der Bundesregierung geplanten Jahr 2022. Insofern ist unsere Zustimmung zur Änderung des Atomgesetzes als Zustimmung zum Ausstieg zu verstehen, nicht aber zu seinem Zeitplan.“
Für den Leitantrag des Bundesvorstandes erklärte die Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, sie sei froh, dass 2011 Union, SPD, FDP und Grüne gemeinsam für das Atomausstiegsgesetz gestimmt hätten. Diesen Konsens nun aufzukündigen, wäre nicht klug. Man habe 2010 gesehen, wie schnell der unter Rot-Grün erzielte Atomausstieg rückgängig gemacht werden konnte, weil nicht alle relevanten politischen Kräfte eingebunden waren. Statt das Atomausstiegsgesetz zu ändern, müssten die Rahmenbedingungen für das Betreiben von Kernkraftwerken so verändert werden, dass den AKW-Betreibern „die Lust am Atom“ vergeht. Eine Position, der sich die Mehrheit der Parteitagsdelegierten anschloss.
Auf dem Parteitag warb Jürgen Trittin für den neuen Kompromiss bei der Suche nach einem atomaren Endlager. Man habe es geschafft, CDU/CSU, FDP und SPD dazu zu zwingen, sich der Atommüll-Frage realistisch zu stellen. Der vom Bundeskabinett beschlossene Entwurf des Standort-Auswahl-Gesetzes müsse zwar in wichtigen Punkten nachgebessert werden – hinsichtlich Klarstellungen bei der Kostenübernahme der Suche durch die AKW-Betreiber, bei Fragen des Rechtsschutzes und bei möglichen Enteignungen. Dennoch sei nun jede Vor-Festlegung auf den Standort Gorleben vom Tisch.
Das sahen Parteilinke und Vertreter der Anti-AKW-Bewegung ganz anders und warnten vor einem Schnellschuss auf Kosten Gorlebens. Jochen Stay von „ausgestrahlt“ deklinierte als Gastredner die Mängel des vom Bundeskabinett beschlossenen Standort-Auswahl-Gesetzes herunter und kam unter stehenden Ovationen der Delegierten zu dem Schluss: „Dieses Gesetz ist ein Gorleben-Durchsetzungs-Gesetz.“ Dennoch wurde anschließend der von Trittin zuvor begründete Dringlichkeitsantrag mit großer Mehrheit angenommen. Neue Konflikte zwischen den Grünen und der Ökologiebewegung sind damit vorprogrammiert.
Nach dem nun beschlossenen Programm ist im Rahmen der „Energiewende“ vorgesehen, bis zum Jahr 2022, wenn nach der geltenden Gesetzeslage die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen, mindestens die Hälfte der Stromversorgung aus Erneuerbaren Energien zu decken und bis 2030 die Stromversorgung zu 100 Prozent auf Erneuerbare Energien umzustellen. Damit soll es dann auch keine Kohlekraftwerke mehr geben. Die Grünen wollen ein Klimaschutzgesetz mit einem Investitionsvolumen von 3,5 Milliarden Euro einführen. Außerdem sind zwei Milliarden Euro für die energetische Gebäudesanierung geplant. Darüber hinaus plädieren Die Grünen für höhere öffentliche Investitionen in Bildungs- wie in Verkehrs-Infrastrukturen. Die Öko-Partei tritt für die weitgehende Umstellung der Autos auf Elektroantrieb bis zum Jahre 2040 und für ein Tempolimit von 120 km pro Stunde auf Autobahnen ein.
Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik wollen Die Grünen der Ressourcen- und Materialeffizienz zum Durchbruch verhelfen, die Finanzmärkte neu ordnen und eine Schuldenbremse für Banken einführen. Wirtschaftswachstum sei nicht das Maß aller Dinge. Zu den Indikatoren für Wohlstand und Lebensqualität müssten auch soziale und ökologische Aspekte gehören, um „der wirtschaftlichen Entwicklung eine grüne Richtung [zu] geben“: „Wir brauchen nicht weniger als eine grüne industrielle Revolution, die den Menschen, die Umwelt und das Klima in den Mittelpunkt stellt.“ Eine leistungs- und wettbewerbsfähige Industrie, zukunftsfähige Arbeitsplätze und eine ressourcenverträgliche Produktion müssten Hand in Hand gehen.
Debatten und Beschlüsse zur Steuerpolitik
Umstritten war bereits vor dem Parteitag das Feld der Steuerpolitik, der dann Die Grünen auf der BDK in Berlin deutlich mehr Debattenzeit einräumten als ihrem klassischen Thema, der Umweltpolitik. Auf der einen Seite reichten den Landesvorständen der Grünen von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz die bereits im Programm-Entwurf vorgesehenen Steuererhöhungen für Reiche und Spitzenverdiener nicht aus. Sie sprachen sich dafür aus, die Einführung einer Vermögenssteuer klarer als „Ziel“ zu benennen und den einschränkenden Passus, dass erst nach Auslaufen der geplanten Vermögensabgabe über eine Vermögenssteuer nachgedacht werden solle, zu streichen. Der linke Kreisverband Hagen in Nordrhein-Westfalen ging über diese Forderung noch hinaus und verlangte, eine verfassungskonforme Vermögenssteuer bereits in der kommenden Legislaturperiode wieder einzuführen. Hintergrund dafür war, dass die Einnahmen aus der Vermögensabgabe nur die Kassen des Bundes auffüllen würden, der damit seine Schulden abbauen könnte. Die Einnahmen aus einer Vermögenssteuer kämen hingegen allein den Bundesländern zugute.
Auf der anderen Seite fürchten Vertreter aus dem Realo-Lager wie der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer oder die aus Baden-Württemberg stammende Vize-Chefin der grünen Bundestagsfraktion, Kerstin Andreae, den Mittelstand mit zu gravierenden Steuererhöhungen zu verschrecken. Andreae sprach sich in einem Änderungsantrag gegen „hohe Belastungen“ für Unternehmen aus und verlangte „angemessene Freibeträge“ für Betriebe. Es dürfe in jenen Fällen, in denen sowohl Erbschaftssteuer als auch Vermögensabgabe anfallen, nicht zu doppelten Belastungen oder Substanzbesteuerungen kommen. Eine Vermögenssteuer möchten diese Kräfte möglichst weit auf die lange Bank schieben. Der bayerische Landesvorsitzende Dieter Janecek plädierte in seinem Antrag dafür, eine solche Steuer lediglich gründlich zu „prüfen“. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer verlangte im Gegensatz zur Parteiführung in seinem Antrag, die Mineralölsteuerbefreiung der chemischen Industrie beizubehalten, erlitt aber eine eindeutige Abstimmungsniederlage.
Der Grünen Jugend ging die im Programm-Entwurf des Vorstandes anvisierte Verdopplung der Erbschaftssteuer nicht weit genug. Sie sah in einer Verdoppelung dieser Steuer lediglich das Minimum dessen, was anzustreben sei. Für den linken Kreisverband Hagen verlangte Frank Steinwender auf der BDK eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 auf 53 Prozent wie zu Helmut Kohls Zeiten, um insbesondere die finanzielle Lage der Kommunen zu verbessern. Der Europa-Abgeordnete und Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks attac, Sven Giegold, argumentierte dagegen: Die Grünen hätten ein steuerpolitisches Gesamtpaket geschnürt und mit der Vermögensabgabe und der höheren Erbschaftssteuer kluge Instrumente, die investierende Unternehmen nicht belasten würden. „50 Prozent Spitzensteuersatz ist eine symbolische Schwelle.“ Zur Klugheit gehöre auch, „symbolische Schwellen nicht zu überschreiten“. Die sozialistische Regierung in Frankreich erleide damit gerade Schiffbruch.
Beschlossen wurde schließlich, den Spitzensteuersatz von derzeit 42 Prozent auf 49 Prozent ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 80.000 Euro zu erhöhen. Gleichzeitig soll das steuerfreie Existenzminimum für alle von 8.130 auf mindestens 8.700 Euro angehoben werden. Die Öko-Partei will eine zeitlich befristete Vermögensabgabe erheben, die 100 Milliarden Euro einspielen und dazu dienen soll, Bundesschulden zu tilgen, die aus den Konjunkturpaketen und aus der Bankenrettung resultieren. Sie will für Betriebsvermögen die Abgabe auf maximal 35 Prozent des Gewinns begrenzen und damit verhindern, dass Unternehmen in ihrer Substanz getroffen werden. Mittelfristig soll die Vermögenssteuer – nach Auslaufen der Vermögensabgabe – verfassungskonform wiederbelebt werden. Außerdem soll das Aufkommen aus der Erbschaftssteuer auf 8,6 Milliarden Euro verdoppelt und das Ehegattensplitting abgeschmolzen werden. Zudem soll die Abgeltungssteuer wegfallen, wodurch Kapitalerträge wieder mit dem individuellen Steuersatz belastet würden statt pauschal mit 25 Prozent. Die Abzugsfähigkeit von Manager-Gehältern und Boni als Betriebsausgaben soll auf 500.000 Euro pro Jahr beschränkt werden. Die Grünen korrigieren mit diesen Beschlüssen zumindest teilweise ihren historischen Fehler, in der Zeit der Schröder/Fischer-Koalition verhängnisvolle Steuersenkungen mitbeschlossen zu haben.
Nach Auffassung der Grünen dürfe ein handlungsfähiger Staat nicht auf Pump finanziert werden. Die Verschuldung der Bundesrepublik sei so hoch, dass für die Bewältigung der Herausforderungen kein Weg an Ausgabenkürzungen, Subventionsabbau und Steuererhöhungen vorbei führe. Daher sollen umweltschädliche Subventionen abgeschafft, auf Prestigebauprojekte ebenso wie auf teure und unsinnige Rüstungsprojekte verzichtet und die Bundeswehr weiter verkleinert werden. Die Grundsteuer soll reformiert und die Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer mit breiter Bemessungsgrundlage ausgeweitet werden. Subventionen bei der Mehrwertsteuer wie zum Beispiel für Hotels, Fast-Food, Schnittblumen oder Skilifte sollen abgeschafft werden. Unter dem Strich sollen für 2014 durch Einnahmeverbesserungen, Subventionsabbau und Einsparungen zwölf Milliarden Euro für haushaltswirksame grüne Projekte zur Verfügung stehen.
Debatten und Beschlüsse zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
Bereits im Vorfeld der BDK zeichneten sich unterschiedliche Positionen zur „Agenda 2010“ und ihren Folgen ab. Während die Grüne Jugend eine deutliche Abkehr von dieser neoliberalen Politik verlangte, die Unterstützung von Initiativen „hin zu einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden die Woche bei vollem Lohnausgleich“ einforderte und dafür eintrat, Leiharbeitern nicht nur die gleiche Entlohnung zu gewähren, sondern mindestens 20 Prozent mehr zu zahlen, sollten nach dem Willen von Realos wie Boris Palmer Leiharbeiter erst nach einer Beschäftigungsdauer von mehr als einem halben Jahr die gleiche Entlohnung wie die Stammbelegschaft erhalten. Während die Grüne Jugend mit ihrem Vorstoß einen Anreiz setzen wollte, schnell sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen, wollte Palmer Leiharbeit nicht so verteuern, dass sie unattraktiv würde. Nach seiner Auffassung sei nämlich die deregulierte Leiharbeit ein „wesentlicher Grund für den Aufschwung der Beschäftigung in Deutschland“. Beide Anträge fanden auf dem Parteitag keine Mehrheit.
Boris Palmer unternahm auf der BDK noch einen weiteren Vorstoß für die Aufrechterhaltung des deregulierten Arbeitsmarktes. Er wandte sich dagegen, Arbeitsverhältnisse mit einer „Befristung ohne Sachgrund“ wieder abzuschaffen, wie das der Leitantrag des Bundesvorstandes vorsah. Solche Arbeitsverhältnisse würden in vielen Fällen Beschäftigung schaffen und Wiedereinstiege ins Arbeitsleben ermöglichen, so der Tübinger Oberbürgermeister. Die Delegierten sahen dies anders und lehnten auch diesen Antrag Palmers mit überwältigender Mehrheit und unter Buhrufen ab.
Im Wahlprogramm der Grünen steht nun, dass die Partei erreichen will, dass Leiharbeiter vom ersten Tag an genauso bezahlt werden wie die Stammbelegschaft. Die Partei tritt für eine Begrenzung von Minijobs, für den Wegfall von Beschäftigungsverhältnissen mit einer „Befristung ohne Sachgrund“ und für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro ein, dessen Höhe künftig durch eine Kommission aus Gewerkschaftern, Arbeitgebern und Experten festgelegt werden soll. Der Regelsatz für das Arbeitslosengeld II soll auf 420 Euro angehoben werden. Für Sanktionen soll zunächst ein Moratorium gelten, bis die Sanktionsregeln entschärft sind.
Auf Drängen der Parteibasis wurde nachträglich in den Programmentwurf ein eigenständiges Unterkapitel zur Wohnungspolitik mit dem Titel „Bezahlbarer Wohnraum für alle“ eingefügt. Danach sollen die geltenden Kappungsgrenzen für Mieterhöhungen bis zur Vergleichsmiete von heute 20 Prozent in drei Jahren auf künftig 15 Prozent in vier Jahren abgesenkt werden. Nach dem Willen der Grünen soll die ortsübliche Vergleichsmiete künftig die Mieten der letzten zehn Jahre abbilden statt nur der letzten vier Jahre. Die Maklergebühren soll derjenige bezahlen, der ein Maklerbüro beauftragt. Mieterhöhungen durch Modernisierung sollen auf maximal 9 Prozent gesenkt und auf die erfolgreich durchgeführte energetische Sanierung und auf den Umbau für Barrierefreiheit beschränkt werden.
Auf dem Feld der Gesundheitspolitik möchten Die Grünen das Zwei-Klassen-System von gesetzlicher und privater Krankenversicherung durch eine Bürgerversicherung für alle ablösen, ein Vorhaben, gegen das Betriebsräte der Privaten Krankenversicherung (PKV) vor der Tagungshalle Flugblätter und Aufkleber verteilten. Hinsichtlich der Altersrenten soll nach dem Willen der Öko-Partei für langjährig Versicherte eine steuerfinanzierte Garantierente von mindestens 850 Euro eingeführt werden. Auf dem Gebiet der Bildungs- und Wissenschaftspolitik will die Partei zudem die Ganztagsschulen und die Kindertagesstätten ausbauen und die Mittel für Hochschulen und für das BAFöG erhöhen.
Debatten und Beschlüsse zum Thema Bürgerrechte und Demokratie
Überraschend konnten sich die Brandenburger Grünen am späten Samstagabend gegen die Parteiführung mit der knappen Mehrheit von 330 zu 294 Delegierten mit der Forderung durchsetzen, dass der Verfassungsschutz künftig komplett auf das Führen von V-Leuten verzichten solle. Es könne nicht sein, dass mit öffentlichen Geldern angeworbene überzeugte Rechtsextremisten unter dem Schirm der Verfassungsschutzämter aktiv seien, argumentierten die Brandenburger Grünen erfolgreich. Die Parteiführung hatte im Leitantrag lediglich ein Moratorium beim Einsatz von V-Leuten vorgesehen.
Einigkeit bestand darin, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht zuletzt wegen seines Versagens bei der Aufklärung der NSU-Mordserie in seiner bisherigen Form aufgelöst werden müsse. An seine Stelle soll eine „Inlandsaufklärung“ treten, die sich „mit eingegrenzten nachrichtendienstlichen Befugnissen“ auf Spionageabwehr sowie die Aufklärung gewaltbereiter Bestrebungen konzentrieren müsse.
Die Grünen wollen nach dem beschlossenen Programm-Text das Wahlalter bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre senken. Zu den Schlüsselprojekten der Partei auf dem Feld Bürgerrechte und Demokratie gehören ein bürgernahes Planungsrecht, die systematische Förderung von Projekten gegen Rechtsextremismus und der Ausbau des Informationsfreiheitsgesetzes. Dazu gehören der Aufbau einer neuen Sicherheitsarchitektur, die die Bürgerrechte und den Rechtsstaat stärkt, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und eine Erleichterung der Einbürgerung.
Diskussion und Beschlüsse zur Außen- und Europapolitik
Auf dem Feld der Außen- und Europapolitik gab es lediglich zwei Kontroversen, die abgestimmt werden mussten. Zum einen verlangte die Grüne Jugend in einem Antrag langfristig ein Verbot jeglicher Waffen- und Rüstungsexporte. Katja Kroll von der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden argumentierte, Abschaffung aller Rüstungsexporte würde bedeuten, jegliche Kooperation zwischen den EU-Staaten auf diesem Gebiet abzuschaffen und damit die Kosten für militärische Güter in die Höhe zu treiben. Höhere Rüstungshaushalte könne aber wohl kein Grüner wollen. Die deutliche Mehrheit der Delegierten ließ sich von dieser Darlegung überzeugen und lehnte den Antrag ab. Damit wollen Die Grünen „ein verbindliches und restriktives Rüstungsexportgesetz“ einführen, das deutsche Rüstungsexporte nur nach klaren Kriterien erlaubt und derartige Exporte in Staaten, die Menschenrechte mit Füßen treten, untersagt.
Zum anderen forderte die Grüne Jugend in einem weiteren Antrag die ersatzlose Abschaffung der Grenzschutzagentur FRONTEX. Dagegen wollte der Leitantrag des Bundesvorstandes die Grenzschutzagentur FRONTEX lediglich „unter stärkere parlamentarische Kontrolle des Europäischen Parlaments“ stellen. Eine ersatzlose Abschaffung von FRONTEX, so die Verteidiger der Passage im Programm-Entwurf, würde nur konservativen Hardlinern einen Vorwand liefern, die Grenzen innerhalb der Europäischen Union wieder hoch zu ziehen – ein Argument, dem die Mehrheit der Delegierten folgte.
In der Europa-Politik treten Die Grünen in ihrem Bundestagswahlprogramm für ein demokratisches, solidarisches und menschliches Europa ein. Sie plädieren für eine Stärkung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, fordern einen europäisierten und personalisierten Wahlkampf zum Europäischen Parlament ebenso wie stärkere Mitspracherechte der Bürgerinnen und Bürger. Als ersten Schritt wollen sie sich für die Einberufung eines parlamentarisch geprägten europäischen Konventes einsetzen, um zusammen mit der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU im Bereich Wirtschaft, Finanzen, Haushalt und Demokratie zu entwickeln und zu diskutieren. Die Grünen wollen Steuerflucht mit einem europäischen Steuerpakt bekämpfen und eine solidarische Asylpolitik in allen Mitgliedstaaten etablieren.
Ins Zentrum der deutschen Außenpolitik möchten Die Grünen die zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung rücken. Sie bekennen sich zu den internationalen Versprechen Deutschlands für mehr globale Gerechtigkeit und Klimaschutz, wollen die Mittel für die Hunger- und Armutsbekämpfung bis 2017 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens anheben und einen fairen finanziellen Beitrag zum internationalen Klimaschutz leisten. Ziel sei eine sozial gerechte und umweltverträgliche Gestaltung der Globalisierung.
Debatte zur Koalitionsaussage
Die Parteiführung der Grünen hat sich in den letzten Wochen ganz eindeutig für die Bildung einer rot-grünen Koalition im Ergebnis einer für sie erfolgreichen Bundestagswahl im Herbst 2013 ausgesprochen. Auch Cem Özdemir, dem in der Vergangenheit nachgesagt worden war, er strebe ein schwarz-grünes Bündnis an, erteilte weiteren Diskussionen über ein derartiges Bündnis eine eindeutige Absage. Mit Claudia Roth trat Mitte April 2013 erstmals eine Parteivorsitzende der Grünen auf einem Wahlparteitag der SPD auf, um für eine rot-grüne Koalition zu werben. So war es nur folgerichtig, dass im Leitantrag des Bundesvorstandes zum Wahlprogramm 2013 formuliert wurde: „Wir kämpfen in diesem Bundestagswahlkampf für starke Grüne in einer Regierungskoalition mit der SPD, weil wir in diesem Regierungsbündnis die besten Chancen sehen, den grünen Wandel umzusetzen.“ Und: „Wir wollen den grünen Wandel mit einer rot-grünen Koalition erreichen. Rot-Grün ist die Alternative zur Merkel-Koalition.“
Wortführern aus dem Hardcore-Realo-Lager, die sich neuerdings „Reformer“ nennen und immer wieder Sympathien für Schwarz-Grün geäußert haben, ging diese Aussage in der Präambel des Programms zu weit. Namentlich der Landesvorsitzende Bayerns, Dieter Janecek, und der Bundestagsabgeordnete und alte Fischer-Vertraute Tom Koenigs wollten (auch vor dem Hintergrund, dass es nach den aktuellen Umfragen für eine SPD/Grünen-Koalition nicht reichen könnte, weil der SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück nicht „liefern“ kann) diese klare Koalitionsaussage gestrichen haben und damit auf größere Distanz zur SPD gehen. Sie plädierten vielmehr dafür zu schreiben, im Wahlkampf „für unsere Inhalte und Kandidaten engagiert werben und streiten“ zu wollen – „ohne Rücksicht auf unsere Konkurrenten und Mitbewerber“.
Auf der BDK selbst warb Henrik Neumann, einer der Initiatoren des Antrags, für einen eigenständigen grünen Wahlkampf: „Wir sollten keine falsche Rücksicht auf die SPD nehmen.“ Einen rot-grünen Wahlkampf – womöglich noch mit einer unsäglichen Zweitstimmenkampagne, gemeinsamen Auftritten und Absprachen – dürfe es nicht geben: „Die SPD ist nicht unsere Schwesterpartei.“ Parteichef Cem Özdemir hielt dem entgegen, Die Grünen würden Koalitionsfragen ausschließlich von den Inhalten her entscheiden: „Wir haben die meisten Schnittstellen mit der SPD.“ Er kündigte an, dass die Partei einen grünen Wahlkampf führen werde, erklärte aber gleichzeitig: „Wir wollen mit der SPD dieses Land verändern.“ Bei der anschließenden Abstimmung wurde der Änderungsantrag von Neumann, Janecek, Koenigs und anderen zwar nicht überwältigend, aber doch deutlich mit ca. 60 Prozent der Stimmen abgelehnt.
Während nun die SPD in der beschlossenen Präambel des Wahlprogramms zum Wunschpartner der Grünen geadelt wird, werden CDU/CSU, FDP und LINKE abgewatscht: „CDU und CSU hintertreiben die Energiewende.“ Die Union sei gegen einen gesetzlichen Mindestlohn, gegen eine stärkere Beteiligung der Reichen an der Finanzierung des Gemeinwesens, stünde gegen die Gleichstellung der Frauen und gegen die vollständige Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen und betriebe Wahlkampf mit dem Ressentiment gegen Minderheiten. Die CSU sei offen europafeindlich. „CDU und CSU blockieren den grünen Wandel.“ Die FDP vertrete „auf absurde Weise die Klientelinteressen einiger weniger“, verweigere sich einer solidarischen Steuerpolitik, lehne Mindestlöhne ab und sei gegen die Frauenquote. „Die FDP ist eine Kampfansage an den grünen Wandel.“
Und DIE LINKE mache unseriöse sozial- und finanzpolitische Versprechungen. Sie lehne die Schuldenbremse ab, verweigere jede internationale Verantwortung, wende sich selbst gegen UN-mandatierte, friedenserhaltende Auslandseinsätze, stehe in der tiefsten Krise der Europäischen Union abseits, schüre Stimmungen und verweigere Solidarität. „Die Linke steht abseits des grünen Wandels.“
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Bilanziert man die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Berlin, erscheinen drei Punkte bemerkenswert:
Erstens gehen Die Grünen – anders als 2009 – mit einer klaren Koalitionsaussage für Rot-Grün in den Bundestagswahlkampf. Schwarz-grünen Gedankenspielen wurde eine eindeutige Absage erteilt.
Zweitens setzt das beschlossene, eher linke Wahlprogramm einen starken Akzent auf Umverteilung und zielt mit der Thematisierung der sozialen Gerechtigkeit auf jene Menschen, die weniger als 60.000 Euro im Jahr verdienen – also auf die große Mehrheit in der Bundesrepublik. Es zielt vor allem auf jene Wählerinnen und Wähler, die sich kulturell links verorten, aber bisher weder bei der Partei DIE LINKE noch bei derjenigen der Piraten eine dauerhafte politische Heimat fanden.
Drittens folgte die Parteibasis weitgehend dem Verlangen der Parteiführung, Realismus an den Tag zu legen und in den Forderungen nicht zu überziehen. Damit haben Die Grünen auf dem Parteitag in Berlin ihren Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung im Bund nach der Wahl im Herbst 2013 bekräftigt, auch wenn es nach den derzeitigen Umfragen so aussieht, als würden sie gar keine Chance dafür bekommen.
Jochen Weichold
Berlin, 30. April 2013