Im Jahre 2004 veröffentlichte Reiner Tosstorff einen Artikel im ND anläßlich des Jahrestags der Internationalen Arbeitskonferenze der ILO des Völkerbundes im Juni 1933. Eine ausführlichere Darstellung dieser Ereignisse und ihrer Hintergründe zusammen mit Dokumenten legte der Autor 2007 in der Buchpublikation
Reiner Tosstorff: Wilhelm Leuschner gegen Robert Ley Ablehnung der Nazi-Diktatur durch die Internationale Arbeitskonferenz 1933 in Genf (ISBN 978-3-88864-437-5 • 112 Seiten • 12,80 EUR (mehr)
vor. Sie kann in Hessen auch über die Landeszentrale für politische Bildung bezogen werden. Eine englische Übersetzung wird anlässlich des 80. Jahrestags in diesen Tagen von der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO herausgegeben.
Die Genfer Blamage - Leuschner - und der zivile Widerstand vor dem 20. Juli
Im Herbst vergangenen Jahres war es endlich so weit: In seinem Geburtshaus in Bayreuth wurde die Gedenkstätte für Wilhelm Leuschner eröffnet (www.wilhelm-leuschner-stiftung.de). Damit wird an eine der Schlüsselfiguren des 20. Juli erinnert, die vor allem die Gewerkschaftsbewegung repräsentierte. Wie die meisten bezahlte er mit seinem Leben für den Umsturzversuch, stand aber in der Bundesrepublik lange zu Unrecht im Schatten der militärischen Akteure.
Wilhelm Leuschner, schon vor dem Ersten Weltkrieg in der SPD wie in den Gewerkschaften aktiv, machte sich Anfang der 30er Jahre als hessischer Innenminister einen Namen, als er Aufstandspläne der Nazis aufdeckte. Doch Maßnahmen gegen sie verliefen im Sande der deutschen Bürokratie. Anfang 1933 übernahm er die Vertretung der deutschen Gewerkschaften in der damals zum Völkerbund, heute zur UNO gehörenden Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) mit Sitz in Genf, die im Unterschied zu anderen internationalen Organisationen auf drei Säulen beruht: Regierungs-, Unternehmer- und Arbeitervertretern. Zugleich wurde er als Vorsitzender der deutschen Gewerkschaften in Aussicht genommen, genau in dem Augenblick, als die Nazis die Macht übernahmen. Sein Wirken in jenen Monaten ist nicht unumstritten. Vergeblich hoffte die Gewerkschaftsführung, irgendeine Art von Kompromiss mit den Nazis zu finden. Das sollte eine "Überwinterung" ermöglichen, führte aber nur zum schmachvollen, scheinbar gemeinsamen 1. Mai 1933. Doch muss in Bezug auf Leuschner hinzugefügt werden, dass dieser Kurs schon vor ihm weitgehend eingeschlagen war. Dass er sich nicht vor den Nazi-Karren spannen ließ, macht eine nicht sehr bekannte Episode in den ersten Monaten der NS-Diktatur deutlich.
Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt. Viele Verhaftungen erfolgten, darunter auch die von Leuschner. Bereits nach drei Tagen wurde er jedoch freigelassen und zu Robert Ley, dem Leiter der an die Stelle der zerschlagenen Gewerkschaften getretenen Deutschen Arbeitsfront einbestellt. Denn auf einer Sitzung der Internationalen Arbeitsorganisation waren Fragen nach Leuschner aufgetaucht. Ley beabsichtigte nun, sich auf der im Juni anstehenden Jahreskonferenz als "deutscher Arbeitervertreter" zu präsentieren. Doch dies war bereits Leuschner, dessen Mandat er nicht einfach übernehmen konnte. Dafür bedurfte es der Zustimmung der Konferenz. Ley hoffte, dass Leuschner sich dafür aussprechen würde.
Scheinbar ging Leuschner darauf ein. Dass Leys Auftritt in Genf aber nicht unwidersprochen bleiben würde, davon bekam dieser eine Ahnung, als er - wie immer im pompösen Nazi-Stil - auf dem Gelände der Arbeitsorganisation vorfuhr. Dort tätige Arbeiter empfingen ihn mit Antifaschismus ihrer Art. Sie entfernten - nach einer Rauferei mit den ihn begleitenden SA-Leuten - die noch nicht als staatliches Symbol international zugelassene Hakenkreuzfahne von seinem Auto. Und gleich nach Konferenzbeginn erfuhr Ley auch die heftigsten Proteste der Arbeiterdelegierten, vorgetragen vor allem vom französischen Gewerkschaftsführer Léon Jouhaux.
Als Ley die Unterstützung für die Wahl eines italienischen faschistischen Diplomaten zum Tagungspräsidenten "im Namen von zehn Millionen deutschen Arbeitern" bekannt gab, rief Jouhaux laut und ganz undiplomatisch dazwischen, Ley sei der Kommissar des "Reichs" zur Unterdrückung der Arbeiter. Die große Mehrheit der Arbeiterdelegierten weigerte sich, Ley (wie auch dessen italienische Gesinnungsgenossen) für irgendeine Kommission zu nominieren. Zudem war ein offizieller Protest des Internationalen Gewerkschaftsbundes gegen Leys Mandat, begründet mit einer umfassenden Darstellung der Unterdrückung der deutschen Gewerkschaften, eingereicht worden.
Und was tat Leuschner? Statt, wie von Ley erhofft, sich zu dessen Gunsten zu erklären, schwieg er beharrlich. Sein Schweigen war für die Konferenzteilnehmer beredt genug. Durch informelle Kontakte zu anderen Delegierten machte er zudem klar, wie die Lage in Deutschland wirklich war. Es war abzusehen: Im Plenum würde es auf jeden Fall eine geschlossene gewerkschaftliche Opposition gegen Ley geben, auch wenn zu erwarten war, dass die meisten Regierungs- und Arbeitgebervertreter ihn akzeptieren würden.
Da beging Ley aber einen Fehltritt besonderer Art. Auch in Genf frönte er, wie ein deutscher Diplomat in seinen Memoiren spitz vermerkte, dem Alkoholismus, was ihm den Namen "Reichstrunkenbold" eingebracht hatte. Vielleicht war es diesem Laster geschuldet, dass er in einem Gespräch mit deutschen Pressevertretern sich über die Arbeiterdelegierten ausließ, insbesondere über die aus Lateinamerika, die "Idioten" seien. Es sei "marxistische Gleichheitsideologie", jemanden aus solchen Staaten neben einen Deutschen oder Italiener zu setzen. Zu seinem Pech befand sich unter den Journalisten ein Sozialdemokrat, der diese Äußerungen in einer Danziger Zeitung veröffentlichte. Sofort wurde das auch in Genf bekannt, und der diplomatische Skandal war da. Die lateinamerikanischen Staaten, einschließlich der durchaus konservativen Regierungen, verlangten eine offizielle Entschuldigung. Doch Hitler ließ seinen langjährigen Kampfgefährten nicht einfach fallen. Damit drohte nun eine Abstimmungsniederlage für Ley. In dieser Situation wurde die Delegation einfach abgezogen.
Die Genfer Blamage war indes letztlich nicht nur der persönlichen Unfähigkeit von Ley geschuldet. Hätte sich Leuschner - und sei es nur, um "Schlimmeres zu verhüten" - von Leys Offerten breit schlagen und zu irgendeiner windelweichen Erklärung hinreißen lassen, hätten die Nazis ihren Anspruch durchsetzen können.
Leuschner selbst wurde in vertraulichen Gesprächen aufgefordert, in der Schweiz zu bleiben und von dort den Widerstand zu organisieren. Doch dieser hoffte, noch illegal im "Reich" wirken zu können, kehrte getarnt zurück - und wurde verhaftet. Nach fast einem Jahr aus dem KZ entlassen, begann er, seine gewerkschaftlichen Verbindungen wieder zu knüpfen...
Nach dem misslungenen Attentat Stauffenbergs fiel Leuschner am 16. August 1944 der Gestapo in die Hände. Am 29. September wurde der mutige Sozialdemokrat und Gewerkschafter, der von den Verschwörern als Vizekanzler des neuen Deutschland nach Hitler auserkoren war, im Zuchthaus Berlin-Plötzensee gehenkt.
Reiner Tosstorff ist Privatdozent an der Universität Mainz