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Kurzanalyse zu den Morden an Oppositionspolitikern in Tunesien. Von Belhassen Handous, Tunis.

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Entgegen der Hoffnungen einiger Oppositionskräfte, am Tag der Republik (25. Juli) die regierende Troika aus Ennahdha, Ettakatol und dem Kongress für die Republik zu entmachten, erlebte Tunesien einen zweiten Mord an einem Oppositionspolitiker.

Nach dem Mord an Choukri Belaid am 6. Februar diesen Jahres wurde nun Parlamentsmitglied Mohamed Brahmi, wie Belaid Mitglied der linken Volksfront, tagsüber auf der Straße vor seiner Privatwohnung erschossen. Nach Meinung der tunesischen Linken steht eindeutig die islamistische Ennahda-Partei, die den größten Teil der Regierungskoalition stellt, hinter den Morden. Die Regierung wiederum erklärte, dass Belaid und Brahmi mit derselben Waffe erschossen wurden und machte als Täter eine jihadistische Salafistengruppe aus, von der bereits Mitglieder festgenommen wurden.

Noch am 25. Juli fanden Dutzende von Protestmärschen im ganzen Land statt. Die Opposition forderte erneut eine Rettungsfront. Der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTT rief für den 26. Juli zu einem landesweiten Streik auf, dem sehr viele folgten, von Beamten und Beschäftigten des Privatsektors gleichermaßen. Der Zeitpunkt der Attentate sowie der terroristischen Angriffe auf die Armee im Grenzgebiet zu Algerien mit acht toten Soldaten wenige Tage später, sowie zwei Bombenexplosionen im Großraum Tunis dienen jedoch nicht den politischen Interessen der regierenden Troika die seit dem Beginn der politischen Krise in Ägypten den Konsens mit anderen politischen Akteuren sucht. Andererseits kann die Ennahda die gegenwärtige Krise dazu nutzen, im Namen der Terrorismusbekämpfung durch die Einschränkung verschiedener Freiheiten gegen zivilgesellschaftliche Basisbewegungen vorzugehen. Tunesische Jugendbewegungen wie Tamarod (Rebelliere), Kesh Mat (Schachmatt), O´dann (Wir sind zurück) und „Al-Shabab Yurid“ (die Jugend will) sowie die „Revolutionäre Kulturbewegung“ entschieden sich für ein dauerhaftes Sit-In vor dem Parlament unter dem Titel „Rahil“ („Abreise“). Es begann nach Brahmis Beerdigung am 27. Juli mit der Forderung nach Auflösung des Parlaments und der Regierung. Zur gleichen Zeit entschieden 42 – später 65 – Abgeordnete der Opposition, ihre Parlamentsaktivitäten einzufrieren und sich am Sit-In zu beteiligen. Unterdessen bombardierte das Militär die Gegend, in der die acht Soldaten getötet wurden. Dabei wirkte das Vorgehen nicht sehr zielgerichtet, sondern eher als Zeichen der Stärke an die eigene Bevölkerung. Breite Teile der Gesellschaft, die ein Abrutschen in Kriminalität und Terrorismus befürchteten, sollten beruhigt werden. Eines machte der Anschlag jedenfalls klar: Das Militär ist schwach und schlecht ausgerüstet. Eine ähnlich politische Rolle wie in Ägypten kann die Armee in Tunesien nicht einnehmen.

Die politische Szene Tunesiens erlebt derzeit jedoch Überschneidungen und Ähnlichkeiten mit der ägyptischen. Das nach der gleichnamigen ägyptischen Bewegung gegründete Tamarod-Tunesien gab am 28. Juli an, 1,6 Millionen Unterschriften für die Absetzung von Regierung und Parlament gesammelt zu haben. Der Erfolg der unabhängigen Jugendbewegung wird auf den Aufstand der Jugend gegenüber der politischen Elite zurückgeführt, welche an ideologischen Spaltungen, Führungsproblemen – hier insbesondere linke Parteien – krankt, im Gegenzug zur Ennahda-Bewegung, die sich durch eine einheitliche Position und Disziplin der Wählerschaft hervortut. Derzeit ist das Parlament eingefroren, eine offenbar individuelle Entscheidung seines Sprechers Ben Jaafar. Gleichzeitig verhandeln die Führungen von Ennahda und dem Aufruf für Tunesien mit deutscher und US-amerikanischer Vermittlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sollen künftige Wahlen zum Erfolg führen, bedarf es einer Zusammenarbeit beider Parteien, da ansonsten wohl kaum Mehrheiten zustande kommen. Der säkulare Aufruf für Tunesien lag nach Umfragen Anfang Juli bei 33,6 Prozent, Ennahda bei 29,7. Die linke Volksfront folgte mit knapp über zehn Prozent. Zwei weitere Parteien würden noch über vier Prozent der Stimmen erreichen. Den Rest teilen sich dutzende Kleinstparteien.

Belhassen Handous Programmmanager im Nordafrikabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis.