Das Treffen der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner am 11. und 12. Oktober 1913 war seit dem Wartburgfest 1817 das erste öffentlich sichtbare Agieren, in dem die deutsche Jugend (wieder) für (ihre) Ideale eintrat. Die Wiederkehr dieses Ereignisses nimmt das Germanische Nationalmuseum zum Anlass für eine große, noch bis 19. Januar 2014 geöffnete Sonderausstellung. Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung erstellt.
Das Germanische Nationalmuseum, nach Eigenangaben das „größte kulturhistorische Museum des deutschen Sprachraums“ hat sichtlich viel Geld und auch Platz für seine Sonderausstellungen. Beides spürt man und beides tut der Ausstellung mehr als gut. Nur die Fotos aus den vielen Originalalben sind zu klein, um sie innerhalb einer Ausstellung in der hier vorliegenden Form zu präsentieren. „Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung“ ist chronologisch aufgebaut und reicht im behandelten Zeitraum bis zur Mitte der 1960er Jahre. Sie enthält eine Vielzahl von Objekten und Dokumenten, grundsätzlich ist sie sehr klar und anschaulich gestaltet. Thematisch umreißt die sehr detaillierte Ausstellung die Gründung und Ausbreitung des Wandervogels, und die Wechselwirkungen der jugendbewegten Gedanken mit anderen Strukturen oder Milieus, sei es die Pfadfinderei, das Militär oder der Nationalsozialismus. Die internen Debatten werden ebenso thematisiert, wie die schon 1920 begonnene Planung für den Um- und Aufbau der bis heute existierenden Burg Ludwigstein („die Burg der Jugendbewegung“) in Nordhessen. Rare Filmaufnahmen vermitteln den Geist der für viele prägenden „Fahrt“. Den ersten Weltkrieg sehen viele Jugendbewegte und Wandervögel als Pflicht und Abenteuer an. Der Nationalsozialismus knüpft dann an viele Praxen der Jugendbewegung an und fördert z.B. das Jugendherbergswesen massiv.
Die Jugend- und damit zusammenhängend die Lebensreformbewegung wird mit ihrer Innerlichkeit, ihrer Modernitätskritik, ihrem Aufbruchswillen, ihrer Gesellschaftskritik wie auch ihrem antidemokratischen Elitismus den BesucherInnen gut nähergebracht. Vieles wirkt aus heutiger Sicht, wie etwa die in der Überschrift zitierte Aussage, skurril. Es sollte aber klar sein, dass die Jugendbewegung in einem Deutschland entstand und agierte, das zwar einzelne Modernisierungsschritte tat, aber grundsätzlich von einem hierarchisch-patriarchalen Denken und nicht zuletzt sehr stark von seinem Untertanengeist und vom Militär geprägt war.
Die proletarische oder sozialistische Jugendbewegung kommt in der Ausstellung allerdings leider kaum vor. Nach 1945 kann die Jugendbewegung keine stilbildende Kraft mehr entfalten. Die 1946 gegründete Freie Deutsche Jugend, der eine eigene Station gewidmet ist, übernimmt einzelne Elemente. Zu einem Revival jugendbewegter Praxen kommt es ab Anfang der 1960er Jahre, als die sog. „Gammler“ die Innenstädte bevölkern und sich ab 1964 auf der Burg Waldeck im Hunsrück die deutschsprachige Folk- und Chanson-Szene bis 1969 zu alljährlichen Festivals trifft. Wer sich mit der Jugendbewegung in all ihren Widersprüchlichkeiten informieren will, dem und der sei der Besuch ausdrücklich empfohlen.
Grauzone. Das Verhältnis zwischen bündischer Jugend und Nationalsozialismus ist in Nürnberg am 8. und 9. November 2013 Thema einer Fachtagung (mehr im PDF). Der offizielle Anmeldeschluss war allerdings schon der 31. Oktober.
Bernd Hüttner
Ort: Germanisches Nationalmuseum, Kartäusergasse 1, 90402 Nürnberg, 600 Meter vom Hauptbahnhof.
Eine Rezension des mit 344 Seiten umfangreichen, durch die 182 Abbildungen opulenten Begleitbandes zur Ausstellung folgt demnächst.
Das Zitat aus der Überschrift stammt von Else Lehmann aus einer Ausgabe der Zeitschrift “Deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur“ von 1928.
Fotografie: Almut Reichenbecher, Leonberg (@ GNM)