News | International / Transnational - Europa - Kultur / Medien - Kunst / Performance - Geschlechterverhältnisse Feministitskij Karandasch

Kann Kunst politisch sein und Feminismus künstlerisch? Das ist nicht die einzige Frage, die die Ausstellung Feministskij Karandasch («Feministischer Bleistift») aufwirft.

Alleine der Name der Ausstellung regt zum Nachdenken an und stellt Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Kunst und Politik stehen bei Feministskij Karandasch in vielseitigem Gegenspiel, politischer Feminismus und künstlerischer Stift initiieren kontroverse Diskussionen über unsere Gesellschaft.

Im heutigen Russland ist die Gleichberechtigung von Frau und Mann bei weitem nicht selbstverständlich, ganz zu schweigen von der Vorstellung, sich außerhalb des Geschlechtlichen zu befinden, wie «keine Angabe» oder «anderes» im Formularfeld «Geschlecht» ankreuzen zu können.

Arbeitgebende finden es oft nicht anstößig, in den Ausschreibungen offen zu verlangen: «die Organisation sucht einen Mann». Viele Wohnungsbesitzer wollen ihre Wohnung «ausschließlich an Slawen, streng ohne Tiere und Kinder» vermieten. Homosexuelle trauen sich in der Regel nicht, sich in der Öffentlichkeit als solche zu zeigen.

In diesem Kontext ist die Durchführung einer Ausstellung junger Künstlerinnen, die eine feministische Herangehensweise zu Anderssein und Schwächersein anwenden, ein herausragendes Ereignis, das eine große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

«Jede dritte Frau in Russland ist ein Opfer von Gewalt in der Familie» lautet eine Bildunterschrift bei Anna Repina, die sich mit dem Thema künstlerisch auseinandersetzt. Hierin zeigt sich eine Eigenheit der Grafiken auf der Ausstellung «Feministskij Karandasch»: Bilder sprechen mit uns, stellen uns Fragen und fordern unsere Interaktion mit dem Inhalt. Auf solche Weise werden auch wir aus Betrachtenden zu Teilnehmenden an der Kunst.

Auch die Protagonistinnen der Straßenkünstlerin Alexandra Katschko (ZOA ART) sind Frauen, die zu Opfern von Gewalt wurden und sich anonym von den Hausfassaden Sankt Petersburgs an Passanten wenden.

Mascha Iwanowa erzählt uns die Geschichte einer Frau, die ihr Trauma nach der Erfahrung sexueller Gewalt aufarbeitet. Die Künstlerin agiert damit gegen die gesellschaftliche Doppelmoral, die Frauen verbietet, mit anderen über Themen wie Vergewaltigung zu sprechen.

Sexarbeit wird in den Werken von Viktoria Lomasko thematisiert. Die Künstlerin hat Prostituierte in Nischnij Nowgorod interviewt und gleichzeitig gezeichnet, so dass das Ergebnis zu einer scharfen gesellschaftskritischen politischen Reportage wird.

Die (un)freiwillige Wahl sexueller und geschlechtlicher Rollen im Sozium (ZHENA, Lidija Korowkina, Hagra, Polina Petruschina, Lena Chejdis, Gljuklja, Natalija Wasjutina, Mikaela, Zulif, Koivo und Alina Kopiza) beeinträchtigt auch die Identität von Frauen und deren Möglichkeiten zu einem erfüllten und glücklichen Leben, was auch für die berufliche Selbstverwirklichung gilt.

Lesbisch Sein in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft ist nur möglich, wenn es unter anderen sozial akzeptierten Rollen verborgen werden kann, so die Aussage der Grafiken von Umnaja Mascha.

Frauen in Russland sind seit sowjetischen Zeiten doppelbelastet. Im Unterschied zu den Frauen im Westen, die Jahrzehnte um das Recht für Arbeit und Wahlbeteiligung kämpften, erhielten die Frauen in Russland bzw. der UdSSR diese Rechte bereits nach der Oktoberrevolution. Dabei galt es als selbstverständlich, Arbeit, Haushalt und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Nicht nur im gegenwärtigen postsowjetischen Raum ist die Doppelbelastung der Frau ein Thema: Emma Narchova, Alewtina Kachidse, Anna Swjaginzewa, Nina Dubrowskaja, Irina Wasiljewa und ZHENA stellen in ihren Bildern die Welt von Frauen dar, die dem Stress undankbarer und unbezahlter Arbeit ausgesetzt sind. Geburt und Kinder gehören genauso zum Alltag einer Frau (Julija Resnikowa) wie auch die ständige Sexualisierung von Frauenkörpern, die sie zum Objekt der kapitalistischen Wirtschaft machen (Oksa-na Brjuchowetzkaja).

Obwohl Russland formal eines der liberalsten Gleichstellungsgesetze hat, ist das Land in diesem Bereich nach ökonomischen, politischen, gesundheitlichen und Bildungskriterien laut letzten Schätzungen des Weltwirtschaftsforums nur auf Platz 61 von 136 weltweit.

Feministinnen fordern Gleichberechtigung mit Kunstmitteln: Frau und Politik sind ein unmittelbarer Gegenstand der Kunst für Asja Umarowa, Maria Napruschkina und Mannaja Kascha. Während einige Bilder ihren Gegenstand stark zuspitzen, sind die anderen eher subtil und irritierend, wie die Grafik von Helena Laukkanen und Lilli Loge, die uns Fragen stellt, die wir uns wahrscheinlich selbst ungern stellen würden.

Auch das Leben von einer Mehrheitsgesellschaft als Andere wahrgenommener Menschen (GANDHI, Elke Steiner, Alexandra Gart, Jana Smetanina) sowie soziale Probleme wie Entfremdung in der Metropole (Ilmira Bo-lotjan), Aussterben der Dörfer in Russland (Tatjana Fashutdinowa), Alkoholismus (Oksana Brjuchowetska) und Frauen als Täter (Bettina) haben in der Ausstellung ihren Platz gefunden.

Menschen in Russland sind inzwischen daran gewöhnt, dass Verbote und (Selbst)Zensur zum «normalen Leben» gehören. Nun ist vielleicht die Vermengung von Kunst und Politik die einzige richtige Strategie für eine feministische Aussage in Russland?

Im Oktober 2013 unterstützte das Moskauer Büro der Rosa Luxemburg Stiftung die Ausstellung «Feministskij Karandasch» im Rahmen der 5. Biennale für moderne Kunst in Russland. Viktoria Lomasko und Nadja Plungjan, Mitglieder der Moskauer Feministischen Gruppe, kuratierten und leiteten die Ausstellung mit der Unterstützung von Xenia Urmenic, Stipendiatin

Text: Leysan Kalimullina ist Projektmanagerin im Regionalbüro Moskau der Rosa Luxemburg Stiftung. 

Fotos: Tanja Sushenkova

Tagesspiegel, 4.11.2013: Kunst im Gegenwind