Am Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich der gesellschaftliche Blick auf die Jugend. In ihr erblickte man nun nicht mehr nur – mit Sokrates – die Verderberin der Kultur der Alten, sondern vor allem einen Garanten für die Zukunft und den Fortschritt. In ihr spiegelten sich dabei aber auch die Frontlinien der aufgebrochenen und kommenden Auseinandersetzungen. War sie den einen Unterpfand für den Fortbestand eines völkisch definierten deutschen Volkes, so verkörperte sie für andere gerade das revolutionäre Element, das auf die Überwindung von Nationalismus und Kapitalismus drängt. Es liegt daher auf der Hand, dass es auch am Beginn des 20. Jahrhunderts – wie Jürgen Reulecke in der Einleitung zum hier zu besprechenden Ausstellungskatalog schreibt – nicht „[...] den Jugendlichen schlechthin [gab], und es kann nicht von der Jugendbewegung die Rede sein.“ (15) Nichtsdestoweniger gelang es in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg den Gruppen des Wandervogels, der Pfadfinder und der Bündischen Jugend, das Bild jugendlicher Gesellungsformen nachhaltig zu prägen. Diese Tatsache bedürfte einer Erklärung angesichts des Umstands, dass in den genannten Gruppen selbst zu ihren Hochzeiten kaum 100.000 Jugendliche aktiv gewesen sein dürften – also höchstens so viele, wie im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands und bei den Roten Falken organisiert waren, die sozialdemokratischen Kinderfreunde-Gruppen und die kommunistische Pionierorganisation nicht mitgerechnet. Da die Ausstellung „Aufbruch der Jugend“ und auch der dazugehörige Ausstellungskatalog die proletarischen Jugendorganisationen und ihr Spannungsverhältnis zur bürgerlichen Jugendbewegung aber nicht thematisieren, werden viele Chancen vergeben, die Formen jugendlicher (Selbst-)Organisation in Deutschland auszuleuchten. Trotz dieser Leerstelle bietet der Ausstellungskatalog doch einen facettenreichen Einblick in die Strukturen und Debatten der Wandervogelbewegung, der Pfadfinder und der Jungenschaften.
Ausgehend von der Kritik eines Teils der deutschen Jugend am Schuldrill und an der erstrebten Anpassung der jungen Menschen an – als leblos und kalt erlebte – Verhältnisse entsteht ein Bild, in dem der Wandervogel als Bewegung erscheint, die diesem Hergebrachten eine Praxis entgegenstellte, die durch selbstgewählte Freundschaften, Wanderungen und Reisen um einen eigenen Zugang zur Welt der Erwachsenen rang. In dieses Bild passen die vielfältigen Berichte und Lebenserinnerungen von Menschen, die in dieser Jugendbewegung sozialisiert wurden. Brüchig wird das Bild indes, wenn man den oftmals nahtlosen Übergang von den Jugendgruppen in die Bataillone des Ersten Weltkrieges betrachtet. In Gänze fragwürdig wird die Selbstinszenierung, wenn man in Rechnung stellt, dass etliche der ehemals Jugendbewegten nach der Rückkehr von der Front des Weltkrieges die Reihen der Freikorps füllten, die entscheidenden Anteil an der Niederschlagung revolutionärer Bewegungen zu Beginn der Weimarer Republik hatten. In Erwägung dieser Entwicklung der bürgerlichen Jugendbewegung – die auch in den militärischen Ausdrucksformen bündischen Lebens und in der Hierarchisierung der Strukturen der Jugendgruppen deutlich wurde – verwundert es jedoch nicht, wenn Alexander Schmidt dieser Jugendbewegung attestiert, sie habe in vielen politischen Ansichten mit der Hitlerjugend übereingestimmt: „Zu den Überzeugungen vieler bündischer Gruppierungen vor 1933 gehörten 'keineswegs homogene Sichtweisen von schwelendem, teils aber auch offenem Antisemitismus, von antirepublikanischem Demokratieansinnen, von 'Führer und Gefolgschaft', von 'Ehre und Treue', von 'Blut und Boden' […].“ (131) Es ist das Verdienst dieses Katalogs, die widersprüchliche Verbindung herausgearbeitet zu haben, die zwischen dem programmatischen Anspruch auf die Selbstbestimmung der Jugend und ihrer wiederholten Indienstnahme für eine elitäre und völkische Praxis bestand. Die Pole dieses Widerspruchs manifestieren sich dabei nicht zuletzt in der sogenannten Meißnerformel von 1913, die die Jugend auf eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung verpflichtete und in den Wanderfahrten einzelner Jugendgruppen zur Erforschung und Sicherung einer vermeintlichen deutschen Kultur in Polen in völkischer Perspektive, auf die Claudia Selheim in ihrem Beitrag hinweist. Auf der anderen Seite blicken auch einige antifaschistische WiderstandskämpferInnen auf eine jugendbewegte Vergangenheit zurück – so etwa Hans Scholl oder der Pädagoge Adolf Reichwein. Insgesamt muss jedoch konstatiert werden, dass angesichts des Engagements und des Blutzolls der Arbeiterbewegung im Kampf gegen die deutschen Faschisten die „[…] einige Hundert umfassende Zahl der anderen Widerständigen aus den Reihen der oppositionellen Jugendbünde […] kaum von Relevanz“ (137) war. Die bürgerliche deutsche Jugendbewegung vermochte – um es mit Carl Zuckmayer zu sagen – Zeit ihrer Existenz nicht zwischen den romantischen Rittermärchen und der Realität der „Zwangsjacke der preußischen Uniform“ (45) zu unterscheiden.
So gut wie es den Beiträgen des Katalogs gelingt, die Widersprüchlichkeit der Jugendbewegung detailliert nachzuzeichnen, so wenig gelingt es ihnen, sie in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihrer Zeit einzubetten. Daher fällt es auch schwer, der Argumentation der Beiträge, die die Neuaufnahme jugendbewegter Traditionen thematisieren, zu folgen: Zu wenig zwingend erscheinen die Traditionslinien, die vom Wandervogel zur FDJ oder gar zu den Schwabinger Krawallen von 1962 führen. Bedeutsam wäre es, eine Geschichte der Jugend „[...] auch unter Berücksichtigung der Migrations- und transnationalen Perspektive [...]“ (218) zu schreiben und auszustellen, dringender wäre es indes eine umfassende Darstellung der Jugend im Kontext der politischen und kulturellen Tendenzen ihrer Zeit. Für einen Teilbereich dieses Unterfangens bietet die Ausstellung – die noch bis zum 19. Januar im Germanischen Nationalmuseum zu besichtigen ist – und der Katalog reiches Material.
Florian Grams
Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): Aufbruch der Jugend – Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Verlag des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 2013. 33 EUR
Link zur Ausstellungskritikvon Bernd Hüttner.
Florian Grams. Geb. 1974 in Hildesheim, 1994 bis 2002 Studium der Geschichte und Germanistik. Doktorand bei Prof. Dr. Hartmut Griese an der Leibniz-Universität Hannover mit einer Arbeit zu „Edwin Hoernle – Zur Dialektik von biographischen Brüchen und bildungstheoretischen (Ver-) Wandlungen“. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Pädagogik, Geschichte der Arbeiterbewegung und Geschichte der Eugenik.