Nirgendwo in Deutschland, außer an der Front in Ostpreußen, ist der Erste Weltkrieg als Kampfgebiet und Etappe so nah an der „Heimat“ wie an der deutsch-französischen Grenze am Oberrhein, in Baden und im Elsass. Der von einem deutsch-französischen Team verfasste Begleitband zu einer grenzüberschreitenden, zweisprachigen Ausstellung will den Mensch „in den Mittelpunkt stellen“.
Dazu bedient er sich 32 beispielhafter Biografien von Personen höchst unterschiedlicher Herkunft und Tätigkeit: Gemeiner Leute, hohen Militärs und desertierenden Soldaten, Dichtern, völkischen Akademikern, Prostituierten oder karitativen Ehefrauen von Industriellen. Sie werden mit Zitaten, Originalfotos und anderem, „authentischen“ Quellenmaterial angereichert vorgestellt. Die insgesamt acht Kapitel beginnen jeweils mit zwei parallel montierten Artikeln, einer zum Elsass und einer zu Baden. Danach folgen die Biografien.
Das heutige Elsass war seit 1871 von Deutschland annektiert und 350000 Elsässer leisten im ersten Weltkrieg auf deutscher Seite Kriegsdienst. Baden ist, soweit man das damals sagen kann, „liberal“, bei den ersten Wahlen nach dem Krieg, die am 5. Januar 1919 stattfinden, erhalten die SPD 32, das Zentrum knapp 37, die Deutsche Demokratische Partei 23 und die USPD 1,5 Prozent der Stimmen. Baden ist auch das einzige Bundesland, in dem – am 13. April 1919 – über die Verfassung eine Volksabstimmung stattfindet.
Im Mittelpunkt des Buches stehen allerdings eindeutig die Biografien, etwa von Luise von Preußen (1838-1923), der Großherzogin von Baden, oder des internationalistisch gesinnten Verlegers Adolf Geck, der seinen Sohn im Krieg verliert und Mitgründer der USPD wird. Die Leserin erfährt auch Fakten zu den Kriegsverhältnissen: Etwa zum Kampf in den Vogesen, wo Höhen von um die 1000 Meter keine Seltenheit sind. Oder dass auf französischer Seite sieben Millionen Männer am Krieg teilnehmen, auf der deutschen 13 Millionen, was jeweils knapp einem Fünftel der Bevölkerung entspricht. Auf deutscher Seite tat allerdings ein Drittel der Soldaten in heimischen Garnisonen Dienst, und ein Sechstel aller toten Soldaten stirbt an Krankheiten, nicht an den Folgen eines Gefechtes. Drei Millionen Soldaten durchlaufen heimatliche Lazarette und es gibt mindestens 200.000 sog. Kriegsneurotiker, also psychisch schwer traumatisierte Kriegsteilnehmer. In Frankreich kommen während des Krieges 600.000, in Deutschland 700.000 Zivilistinnen ums Leben.
Das Buch zeigt in einem regionalen, aber gleichwohl transnationalen Fokus anschaulich wie dieser Krieg die ganze Gesellschaft einbezieht, wie Gefangene, Verwundete, der Nachschub an Mensch und Material den Alltag sehr vieler Menschen betreffen, wenn nicht beherrschen. Es stellt die Kriegserfahrung, also vor allem auch das Leiden in den Mittelpunkt. Der reichhaltig illustrierte Band steht dadurch mitten in der Widersprüchlichkeit einer solchen, von Ansätzen der Alltagegeschichte inspirierten, Perspektive. Diese bringt zwar z.B. vergessene Akteur_nnen ans Licht, neigt aber dazu Strukturen auszublenden und Fragen nach ökonomischen Profiteur_innen, nach Täter_innen und Opfern zu verwischen. Diese Spannung gilt es auszuhalten.
Für alle nach ungefähr 1960 geborenen und mental „in Europa“ aufgewachsenen Leser_innen mutet die damalige deutsch-französische Feindschaft eh sehr fremd an; als offizielle Grundlage für die deutsch-französische Freundschaft gilt der sog. Elysée Vertrag. Er wurde Anfang 1963 abgeschlossen.
Bernd Hüttner
Reiner Brüning/Laetitia Brasseur-Wild (Hrsg.): Menschen im Krieg 1914-1918 am Oberrhein, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2014, 316 Seiten, 26 EUR
Zur Ausstellung existiert ein umfangreiches Internetangebot, siehe nachfolgenden Link.