News | GK Geschichte "Der Stalinismus war nicht nur eine historische Abweichung" - Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert

Ein Interview von Philippe Kellermann mit dem Historiker Christoph Jünke über das Ankämpfen gegen linke Geschichtsvergessenheit und die Interventionen von Sozialisten jenseits von Sozialdemokratie und Bolschewismus

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Philippe Kellermann: Christoph, in deinem Buch Der lange Schatten des Stalinismus hast du dich in erster Linie mit dem Stalinismus auseinandergesetzt, bzw. mit vermeintlich linken Rechtfertigungen desselben, sowie der Gefahr eines salonfähig werdenden Neostalinismus. Welches Thema steht in deiner neuen Publikation Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert im Zentrum?

Christoph Jünke: In meinem neuen Buch nehme ich mehr den Faden meines ersten Buches, meiner Leo Kofler-Biografie, wieder auf, wo ich ja so etwas wie eine Geschichte des 20.Jahrhunderts geschrieben habe. Der neue Band versammelt mehrere ältere und einige neue Beiträge, in denen ich die Problem- und Entwicklungsgeschichte der Strömungen eines dritten sozialistischen Weges untersuche – eines dritten Weges zwischen und jenseits dem sogenannten sozialdemokratischen „Revisionismus“ und kommunistischen „Dogmatismus“. Ich erinnere an Individuen und Strömungen, die, wie ich im Vorwort schreibe, eine Antwort suchten auf die Blockaden und Sackgassen, in die die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien die Arbeiterbewegung und die Bewegungen für eine allgemeinmenschliche Emanzipation gebracht haben.

Der Stalinismus und sein offensichtliches Nachleben spielt hierbei naturgemäß eine wichtige Rolle. Doch der ist bekanntlich nur eine Seite des im Ganzen recht tragischen Weges der sozialistischen Linken im 20.Jahrhundert. Ich beginne deswegen mit den deutschen Novemberrevolutionären, mit Karl Liebknecht und Richard Müller, behandele die Austromarxisten und Victor Serge und gehe dann über zur heimatlosen Linken und zur Neuen Linken der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre, zu Vordenkern wie E.P. Thompson und Peter Brückner. Im dritten Teil schließlich erinnere ich an die linken Zerfallsprozesse der neunziger Jahre. Da geht es dann vor allem um das, was ich die neue zynische Intelligenz genannt habe, die Zeitschrift Konkret etwa, aber auch um Leute wie Oskar Negt, Bernd Rabehl und Pierre Bourdieu.

 

Philippe Kellermann: Du hast den Begriff des „dritten Wegs“ erwähnt. Könntest du – sofern das überhaupt möglich ist – diesen „dritten Weg“ etwas näher bestimmen? Ich meine, wenn man sich die doch sehr unterschiedlichen Personen, die du diskutierst vor Augen hält: Lassen sich überhaupt Gemeinsamkeiten eines solchen „dritten Weges“ feststellen, mal abgesehen von der Ablehnung des dogmatischen Bolschewismus auf der einen und der reformistischen Sozialdemokratie auf der anderen Seite?

Christoph Jünke: Das ist einfacher gefragt als geantwortet. Der Begriff des Dritten Weges, so wie ich ihn verstehe, ist ja mehr eine Verlegenheitslösung, die eben den negativen Aspekt betont. Er betont die Abgrenzung gegen eine sich in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform und ihren Staatsapparat integrierende Sozialdemokratie auf der einen Seite und die Abgrenzung gegen die stalinistisch blockierte kommunistische Bewegung auf der anderen Seite. Beide Bewegungen sind ja historisch machtvolle Bewegungen einer jeweils spezifischen Form von Arbeiteremanzipation gewesen. Doch beide sind spätestens seit der Mitte des 20.Jahrhunderts, in vielem natürlich auch schon früher, keine wirklich emanzipativen Bewegungen mehr. Seitdem fragen sich sozialistische Linke – und ich beschränke mich in meinem Buch vor allem auf solche sich sozialistisch verstehenden Individuen und Bewegungen –, wie sie mit dieser von den klassischen Sozialisten nicht vorhergesehenen Situation politisch-praktisch und politisch-theoretisch umzugehen haben. Der historische Linkssozialismus eines Max Adler oder Otto Bauer, eines Joseph Buttinger oder Leo Kofler kreist ebenso um diese Frage wie linkskommunistische Positionen von beispielsweise Victor Serge oder Henri Lefebvre. Die Vordenker der Frankfurter Schule haben, auf ihre Weise, ebenso darum gerungen wie ein E.P. Thompson. Auch die Neue Linke der sechziger und siebziger Jahre wollte am alten Faden der revolutionären Arbeiterbewegung weiter anknüpfen. Doch wie kann man am sozialistischen Emanzipationsprojekt festhalten, wenn doch die beiden Hauptströmungen der Arbeiterbewegung ihrer historischen Aufgabe offensichtlich nicht mehr nachkommen, wenn sie nicht mehr der Emanzipation dienen und andere Linke politisch und auch repressiv ausgrenzen? Dieses Problembewusstsein durchzieht, glaube ich, alle Beiträge des Buches.

 

Philippe Kellermann: Polemisch und in Einklang mit einem gewissen immer noch anhaltenden Trend, ließe sich da nun einhaken: Warum dieses Erstaunen? Ist das Verschwinden der revolutionär-sozialistischen Arbeiterbewegung nicht eine zwangsläufige Entwicklung gewesen, Produkt der Tatsache, dass die Arbeiterbewegung niemals so revolutionär gewesen ist, wie dies sozialistische Linke immer behauptet haben?

Christoph Jünke: Die von mir behandelten Bewegungen und Individuen haben das jedenfalls nicht so gesehen. Gerade die Neomarxisten der Neuen Linken haben doch betont, dass dies ein falsches Bild von Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung war und ist. Die Arbeiterklasse ist revolutionär nicht an sich, nicht aufgrund einer ihr eigenen ontologischen Substanz, wie es bspw. Henri Lefebvre einmal ausgedrückt hat. Sie ist nur potentiell revolutionär, nur in bestimmten politischen Konjunkturen zu einer wirklichen Revolution fähig – und nur, wenn es eine breite Schicht politisch aufgeklärter und aktiv eingreifender Aktivisten gibt, also das was Gramsci die „organischen Intellektuellen“ nannte. Die revolutionäre Qualität der Arbeiterbewegung war und ist eine potentielle, eine konjunkturelle, eine politisch erst herzustellende Qualität. Deswegen ist es ja auch so entscheidend, welche Politik die großen Arbeiterorganisationen wie die alte SPD und die alte KPD getrieben haben. Und deswegen war und ist es ja so nötig, etwas Drittes aufzubauen.

Von heute aus mag es so aussehen, als ob die lohnarbeitende Klasse nicht wirklich revolutionär war und ist. Doch zum einen könnte man das widerlegen und zum anderen: Was ist die Alternative? Alle von links angebotenen Alternativen zur Klassenpolitik haben sich als noch ohnmächtiger erwiesen. Soziale Bewegungen waren auch in den letzten Jahrzehnten immer dann am machtvollsten, wenn sich alte und neue soziale Bewegungen vorübergehend zusammenfanden. Daniel Bensaid, der jüngst verstorbene französische Marxist, hat deswegen vom Arbeiterbewegungsmarxismus als einer Wette auf die Zukunft gesprochen

Aber unabhängig von dieser politischen Frage denke ich auch, dass die spezifisch sozialistische Kritik des Kapitalismus und die Kritik des einstmals real existierenden Sozialismus nicht viel verloren haben an ihrer intellektuellen Substanz. Und wer, wie heute ja wieder viele, über Wege über den Kapitalismus hinausdenkt, sollte die Geschichte der sozialistischen Linken im 20.Jahrhundert zumindest kennen. Wir haben es heute aber mit einer starken Geschichtsvergessenheit gerade auf der Linken zu tun. Und auch die etablierte Wissenschaft kümmert sich nicht viel um diese Strömungen und Individuen. Ich plädiere also dafür, sich mit dieser Geschichte wieder intensiver und systematischer auseinanderzusetzen.

 

Philippe Kellermann: Wenn du von Geschichtsvergessenheit sprichst: Gab es deiner Ansicht nach einen wirklichen, historischen Bruch innerhalb der Geschichte der sozialistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert?

Christoph Jünke: Spätestens in den dreißiger Jahren hat sich auf der sozialistischen Linken etwas Grundlegendes gewandelt. Der europäische Faschismus, vor allem natürlich der deutsche Nazi-Faschismus, hat nicht nur die konkreten Menschen umfassend umgebracht, sondern auch die politischen, kulturellen und theoretischen Traditionen grundlegend in Frage gestellt und aufgelöst. Doch nicht nur der Faschismus, auch der Stalinismus hat zu diesem Prozess ebenso wesentlich, in manchem sogar stärker beigetragen. Der Stalinismus war nicht nur eine historische Abweichung, nach der man wie unschuldig zu den alten Traditionen zurückkehren konnte und kann, er war ein ebenso tiefer und nachhaltiger Bruch wie der Nazi-Faschismus. Beides ermöglichte den Aufstieg eines anderen, eines neuen Kapitalismus, der stark sozialstaatlich organisiert war und in vielem noch ist. Mit diesen drei Entwicklungen musste sich das sozialistische Emanzipationsprojekt neu begründen und neu aufstellen. Und dies unter Bedingungen einer überwiegend entpolitisierten Arbeitermassenbewegung. Natürlich war die europäische Arbeiterklasse noch immer mächtig, ökonomisch wie politisch. Nur fehlte es nun weitgehend an einem radikalen, grundsätzlich antisystemischen Bewusstsein.

Die europäische Sozialdemokratie hat ihren Frieden mit der damals erneuerten bürgerlich-kapitalistischen Ordnung gemacht und auch der real existierende Sozialismus und seine kommunistische Weltbewegung haben sich weder willens noch fähig gezeigt, sozialistische Emanzipationsprozesse wirklich anzustoßen – oder sich selbst emanzipativ zu erneuern. Auch sie haben das Erreichte nur zu verwalten versucht mit ihrem spezifisch despotischen Sozialismusmodell.

Und vor dem Hintergrund dieses weitgehend fehlenden revolutionären Massenbewusstseins hatten nichtreformistische und undogmatische Sozialisten das strukturelle Problem, dass sie zwangsläufig auf die Ränder ihrer Gesellschaftsformen verwiesen wurden. Das Ende revolutionärer Massenbewegungen und -organisationen führte und führt dazu, dass sich Emanzipationsbewegungen wieder auf den Status von Kleingruppen und Individuen zurückgeworfen sahen und sehen. Und dies bedeutet, dass wir es wieder viel stärker mit opportunistischen und sektiererischen Tendenzen auf der Linken zu tun haben. Das „goldene Zeitalter“ einer gleichsam sozialistischen Klassik war in der Mitte des 20.Jahrhunderts wieder vorbei, die großen Arbeiterorganisationen verbürokratisierten sich nachhaltig und sozialistische Linke versuchten sich auf unterschiedlichen Wegen am Schleifen dieser großen Bastionen.

Die berühmte Chiffre „1968“ ist eine Chiffre für die Hoffnung, dass ein neuer Massenausbruch aus dieser „verwalteten Welt“ gelingen könnte. Doch er gelang nicht. Das sogenannte „rote Jahrzehnt“ der 1970er Jahre endete im Verfall einer heterogenen Neuen Linken und machte dem Neoliberalismus und dem Postmodernismus Platz – noch bevor der ehemalige Realsozialismus zusammengebrochen ist. Am Ende standen dann die von mir ausführlich behandelten „dunklen Jahre der 1990er Jahre“, aus denen wir nun langsam versuchen, wieder herauszukommen. Ohne Erinnerungsarbeit an das unabgegoltene Erbe und ohne die Spurensuche nach den fortwirkenden politischen Mustern wird dies aber nicht gehen.

 

Philippe Kellermann: Dann danke ich dir für dieses Gespräch.

 


Am 2. Juli 2014 nimmt Christoph Jünke in der RLS in Berlin an einer Podiumsdiskussion des Begleitprogrammes zur Ausstellung "Ich kam als Gast in euer Land gereist" teil (mehr).

Christoph Jünke: Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert. Laika Verlag, 2014. 320 Seiten.