News | Jünke: Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert, Hamburg 2014

Aus dem Elfenbeinturm ins Handgemenge

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Florian Grams,

Als Pablo Picasso nach der Befreiung Europas vom Nazi-Faschismus in die Kommunistische Partei Frankreichs eintrat, begründete er diesen Schritt mit der Notwendigkeit als Künstler einzugreifen in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Tage. Er könne nicht – so schrieb Picasso – im Elfenbeinturm sitzen, sondern müsse Anteil haben am Leben der Menschen und ihrer Kämpfe. Picassos Eintritt in die KP war also auch eine Antwort auf das Dilemma, in dem Künstlerinnen und Künstler wie Intellektuelle stecken, die sich als gemeinhin freischwebende Individuen »[…] so oder so arrangieren […]« müssen, um ihre »[…] Dialektik von Teilnahme und Widerstand zu finden.« (268) Zu arrangieren haben sie sich dabei entweder mit der Macht oder mit gesellschaftlich wirksamen Gegenmächten. Picasso entschied sich für den Widerspruch gegen existierende Verhältnisse und für das Handgemenge mit den Mächtigen. Die Reihe derer, die diesen oder einen ähnlichen Schritt im 20. Jahrhundert gegangen sind, ist lang: Victor Serge, Jakob Moneta, Leo Kofler, Peter Brückner und Pierre Bourdieu – um nur einige zu nennen. So sehr sich in ihren Biographien und Positionen die Abscheu vor der kapitalistischen Verwertung des Menschen und die Suche nach Wegen zu ihrer Überwindung findet, so sehr werden an ihnen auch die Widersprüche in den emanzipatorischen Bewegungen deutlich. Mitunter wurden ihre Anregungen aufgegriffen, wurden sie von linken Parteien und Gewerkschaften eingebunden und geschätzt, häufiger jedoch erlebten sie Ausgrenzung, Missachtung und Verfolgung – auch von ihren eigenen Genossen. Schon aufgrund des so umrissenen Spannungsverhältnisses bietet es sich an, die Geschichte der linken und sozialistischen Bewegung des vergangenen Jahrhunderts anhand ihrer Intellektuellen zu beleuchten.

Eine solche Betrachtung des 20. Jahrhunderts muss Schwerpunkte setzen. Zu thematisieren ist der – auch intellektuelle – Aufbruch der sozialistischen Bewegung am Beginn des Jahrhunderts und die Strahlkraft, die die Oktoberrevolution zu entfalten vermochte. Behandelt werden müssen die Auswirkungen der stalinschen Herrschaftspraxis und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus. Aus dem Blick geraten dürfen aber ebenso wenig die Versuche des Wiederanknüpfens an sozialistische und kommunistische Traditionen nach 1945 noch die Folgen der Niederlage des Staatssozialismus in Europa am Beginn der 1990er Jahre. Christoph Jünke hat sich dieser Aufgabe gestellt und eine Aufsatzsammlung vorgelegt, die unter den Überschriften »Revolution und Konterrevolution«, »Neu Beginnen«, »Epochenbruch« sowie »Rück- und Ausblicke« den Blick auf viele Personen und Diskurse der sozialistischen und kommunistischen Bewegung lenkt. Das Hauptaugenmerk legt Jünke dabei jedoch nicht auf die Entwicklungen innerhalb der großen Arbeiterparteien, sondern konzentriert sich auf jene nicht selten vergessenen und verdrängten Strömungen, die sich sowohl vom Reformismus der Sozialdemokratie als auch von den rigiden Strukturen des Parteikommunismus abgrenzten. Dabei spricht er bewusst von Streifzügen, die in keiner Weise den Anspruch auf Systematik erhöben. »Es sind Gelegenheitsarbeiten, die hier präsentiert werden – Gedenkartikel und Vorträge, Rezensionen und Polemiken, gelegentlich auch Nebenprodukte größerer Arbeiten.« (11) Jünke selbst weist auf die thematischen, personalen und bewegungsmäßigen Lücken hin, die seine Sammlung aufweist. Nichtsdestotrotz möchte er die so zusammengefassten Texte zu Recht verstanden sehen als »Beiträge zur Verteidigung und Wiederaneignung einer ins kollektive Vergessen abtauchenden Historie.« (15)

Der vom Autor beschriebene historische Bogen ist groß und umfasst sehr unterschiedliche Personen und Strömungen. Er reicht von Karl Liebknecht über E.P. Thompson und Bernd Rabehl bis zu Oskar Negt und Pierre Bourdieu. Angesichts dieser Breite der Darstellung bleibt nicht aus, dass einzelne Aussagen oder Einschätzungen auf Kritik stoßen. Die Leidenschaft jedoch, mit der Christoph Jünke nach den nichtdeterministischen Quellen des Marxismus fahndet, die er unter anderem bei Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, Sartre oder bei Ernst Bloch ausmacht, zeigt, wie wenig es ihm selber um den Einzug in den Elfenbeinturm geht. Auch er sucht das Handgemenge der politischen Auseinandersetzung. Auf diese Weise weist er eine Richtung, in der nach Mitteln gesucht werden kann, die »die Ohnmacht der lohnarbeitenden Klasse überwinden, deren Klassensolidarität und Klassenautonomie befördern und die allgemeinmenschliche Emanzipation aller unterdrückten und ausgebeuteten Schichten, Ethnien und Geschlechter beflügeln.« (316) Hieran wäre theoretisch wie praktisch anzuknüpfen.

Christoph Jünke: Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert, LAIKAtheorie, LAIKA-Verlag, Hamburg 2014, 319 Seiten, 21,- €, ISBN 978-3-944233-00-0.