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Am 26. Oktober 2014 begannen die offiziellen Feierlichkeiten zur lange erwarteten Eröffnung der Dauerausstellung im Museum zur Geschichte der polnischen Juden. Von Joanna Gwiazdecka

Hier ist einfach alles mit Geschichte verbunden. Die Mordechaj-Anielewicz-Straße, benannt nach dem jungen Aufstandsführer des Ghettos, durchschneidet die Ludwik-Lejzer-Zamenhof-Straße, benannt nach dem Erfinder der Esperanto-Sprache. Die nun wiederum kreuzt mit der Lewartowski-Straße, der als Aron Finkelstein bekannt ist. Einen Steinwurf entfernt findet sich noch ein kleines Stückchen jener Nalewki-Straße, die einst aus der Topographie des alten Warschaus nicht wegzudenken gewesen war. Heute allerdings gleicht die Nalewki-Straße den anderen ruhigen Straßen im Stadtteil Muranów.

Vormals war die Nalewki-Straße einer der wichtigsten Handelsplätze im nördlichen Stadtgebiet, überall erfüllt vom Klang der jiddischen Sprache. Damals die normalste Sache der Welt, denn in Warschau benutzten bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs etwa 400.000 Menschen alltäglich diese Sprache. Das war fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Stadt, die Europas größtes jüdisches Zentrum war. Und nur New York zählte auf der Welt mehr Juden als Warschau.

Auf dem großen freien Platz, der begrenzt wird durch die nach dem Krieg angelegten Straßenzüge, denn die Okkupanten verwandelten diesen Teil Warschaus gleich nach der Niederschlagung des Ghetto-Aufstands in eine Steinwüste, indem sie systematisch Haus für Haus in die Luft sprengten, erhebt sich nun die von Rainer Mahlamaki geschaffene Konstruktion aus Glas. Gleich nebenan steht das Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos – es ist eine Einheit und es ist zugleich größter Kontrast.

In diesem Gebäude, das als weitgehend leeres Gebäude seit seiner Eröffnung im April 2013 bereits über 400.000 Besucher gesehen hatte, ist nun das Museum zur Geschichte der polnischen Juden Polin beheimatet. Polin ist der jiddische Name für Polen, die Namenswahl ist zugleich Programm. Neben dem Holocaust-Museum in New York und Yad Vashem in Jerusalem wird es fortan zu den wichtigsten Einrichtungen jüdischer Kultur weltweit gehören.

Am 26. Oktober 2014 begannen die offiziellen Feierlichkeiten zur lange erwarteten Eröffnung der Dauerausstellung im Museum. Die Vorbereitungen und Arbeiten daran dauerten fast 25 Jahre, maßgeblich unter Federführung des Trägervereins für das Jüdische Historische Institut in Zusammenarbeit mit der Stadt Warschau und dem Ministerium für Kultur und Nationalerbe Polens. Finanziell fand das Projekt Unterstützung bei vielen Spendern weltweit.

Auf einer Ausstellungsfläche von 4.200 Quadratmetern wurden von den Ausstellungsmachern unter Leitung von Frau Prof. Barbara Kirshenblatt-Gimblett aus New York acht thematische Galerien entwickelt und gestaltet. In ihnen wird die tausendjährige Geschichte der polnischen Juden erzählt. Multimediapräsentationen und überaus gelungene bildliche Darstellungen entführen den Besucher in eine Welt aus Legenden und Traditionen, aus Alltag und Fest. Alles durchkreuzt durch die Linien großer Politik, schließlich durch die Tragödie von Weltkrieg und Auslöschung.

Die Ausstellung ist zugleich ein Dialog zwischen zwei Geschichtsperspektiven – der jüdischen und der polnischen, die allerdings oft genug so eng zusammengehörten, dass es schwerfällt, sie auseinanderzuhalten.

Von der ersten Galerie „Wald” gelangen wir zu den „Ersten Begegnungen”, die mit dem Jahr 960 begannen. Damals kamen die ersten Juden in das Land von König Mieszko I. Die nächste Galerie „Paradisum Judaeorum” betrifft den Zeitraum zwischen 1569 und 1648, eine Blütezeit des jüdischen Lebens und woanders nicht anzutreffender religiöser Toleranz. Die nächste Galerie „ Schtetl” führt uns ein in das jüdische städtische Milieu und meint die Zeit zwischen 1648 und 1772. Die Galerien „Herausforderungen der Moderne” und „Auf der jüdischen Straße” ziehen den Bogen bis 1939. Die beiden letzten Galerien „Auslöschung” und „Nachkriegszeit” erzählen über Zeitgeschichte und Gegenwart.

Am ersten Eröffnungstag, der den jüdischen Gemeinschaften gewidmet und vorbehalten war, treffe ich zwischen den Galerien auf Joanna Sobolewska, der Vorsitzenden des Vereins „Kinder des Holocaust”. Die Ausstellung „Polin” sei wunderbar, drückte sie mir sofort ihre Ergriffenheit aus. Doch sie denkt gleich weiter an den Beitrag, den ihr Verein zum Gelingen der Eröffnungsfeiern beitragen wird. Bereits seit einem halben Jahr ist die Ausstellung „Meine polnischen, meine jüdischen Eltern” vorbereitet. Hier wird die Geschichte erzählt der kleinen und kleinsten Kinder, die vor der Vernichtung gerettet wurden.

Joanna fragt sich dort selbst, was ihr zugestoßen, wie ihr Leben verlaufen sei. Sie hat keine Erinnerung daran, wie sie als dreijähriges Mädchen aus dem Ghetto gebracht wurde, auch nicht daran, was mit ihren jüdischen Eltern geschah. „Sie werden in Treblinka umgekommen sein, sie wussten, was da geschieht, denn andernfalls hätten sie mich mitgenommen”, sagt Joanna.

Im Hintergrund das flimmernde grüne Licht vom „Wald”, in dem es um die Ankunft und die Ansiedlung von Juden in Polen geht. Die Bilder und Klänge führen gleichsam als lebendige Metapher zurück in die jahrhundertealte Geschichte, die auch der Erzählung Joannas einen treffenden und gültigen Rahmen gibt.

Die offizielle Eröffnung fand erst zwei Tage später, am 28. Oktober 2014 statt. Die Staatspräsidenten Polens und Israels vollführten den feierlichen Akt, anwesend waren zahlreiche geladene Gäste. Darunter waren Vertreter der polnischen Regierung, der Stadt Warschau, Diplomaten, Geistliche verschiedener Reliogionsgemeinschaften und Vertreter wichtiger zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Die Geschichte Polens lasse sich ohne die Kenntnis der Geschichte der polnischen Juden gar nicht verstehen, doch auch umgekehrt lasse sich die Geschichte der Juden ohne die Geschichte Polens nicht verstehen. So Polens Präsident Bronisław Komorowski. Israels Präsident Reuwen Riwlin sprach darüber, dass Polen im Herzen eines Juden, auch dann, wenn er nicht in Polen geboren wurde, Ängste und Sehnsüchte erzeuge. Hier in Polen habe sich das Schtetl herausgebildet und es sei hier in den Ghettos der Naziokkupation untergegangen. „Mir senen do!”, „Wir sind hier!”, so erinnerte Roman Turski, Auschwitzüberlebender und Vizepräsident des Trägervereins vom Jüdischen Historischen Instituts, an das Lied des jüdischen Widerstands.

An diesem milden Oktobertag schauen die Passanten in Muranów neugierig auf die Barrieren und Hindernisse, mit denen das Museum umstellt ist, was immer zugleich signalisiert, dass allerhöchste Staatsgäste gekommen sind. Viele bleiben stehen und lauschen angespannt. Eine ältere Frau auf der heutigen Nalewki-Straße unterbricht die Zubereitung des Mittagessens, sie schiebt neugierig die Gardine beiseite. Leicht vorstellbar, dass eine ältere Frau auf der früheren Nalewski-Strasse es ihr gleich getan hätte, wenn so Außergewöhnliches die Alltagsruhe aufschreckt. Doch diese Strasse bleibt für immer verschwunden...

Das Museum ist nun ein fester Punkt in der Stadt, mit dem ein neuer architektonischer Akzent gesetzt wurde. Doch es verändert vor allem und in erster Linie den Raum der Erinnerung. Im Stadtquartier mit den Straßennahmen der einstigen jüdischen Bewohner und der jüdischen Helden wird die Erinnerung sich auch weiterhin mit dem normalen Alltagsleben reiben, es werden ganz oft und immer wieder neue Fragen gestellt werden...

Joanna Gwiazdecka ist Leiterin des RLS-Büros in Warschau