Das unweit von Bremen gelegene Worpswede und Ahrenshoop an der Ostsee (nordöstlich von Rostock) dürften wohl die bekanntesten Künstlerkolonien sein. Blickt man über das Deutsche Reich hinaus, kommen noch Barbizon (südwestlich von Paris), das als erste Künstlerkolonie angesehen wird, und der Monte Veritá (bei Ascona im Tessin/Schweiz) als sehr bekannte hinzu.
Künstlerkolonien, von denen es wohl an die drei Dutzend allein in Deutschland gab, sind ein Phänomen vor allem der beiden Jahrzehnte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. KünstlerInnen entfliehen damals den Akademien (und den Städten allgemein) und lassen sich in vergleichsweise abgelegenen Dörfern nieder. Dies geschieht entweder auf Dauer, in dem sie dort ihren Wohnsitz nehmen, gar Häuser bauen, oder sich über längere Zeiträume temporär, meist im Sommer, dort aufhalten. An etlichen Orten (etwa Dachau, Schwaan und Ahrenshoop) gibt es zudem die Möglichkeit privaten Malunterricht zu nehmen, was vor allem von Frauen wahrgenommen wird und mit zur Bildung von Künstlergemeinschaften führt.
Diese MalerInnen nehmen nun die Landschaft anders und neu wahr, bilden sie nicht (mehr) nur ab, sondern versuchen ihr inneres Erleben vor der Landschaft in ihren Bildern auszudrücken. Sie idealisieren (dadurch) aber auch das „Landleben“.
Fokus der Publikation „Aufbruch ins Freie“ sind die Künstlerkolonien, ihre Themen und Bild-Motive. Der Aufenthalt auf dem Land veränderte auch die Kunstauffassung: Nun wurde en plein air (also direkt in der Natur) statt im Atelier gemalt, nicht aus der Erinnerung oder dem Skizzenbuch sondern sozusagen live, und auch die Motive wurden andere. Die Landschaft und die „einfachen Leute“ treten in den Mittelpunkt. Die Publikation ist begleitend zu einer Ausstellung erschienen und enthält sehr viele großformatige Abbildungen in guter Qualität. Sie nennt zwar Themen wie „Ökologie“, Tourismus oder auch die Geschlechterproblematik als solche, die von den Künstlerkolonien zeitlich weit früher als von der Mehrheitsgesellschaft diskutiert wurden – prinzipiell hat die Publikation aber weniger einen soziologischen Blick, sondern konzentriert sich auf Themen wie Landschaft, Orte, Bäume, Jahreszeiten, Menschen.
Rainer Maria Rilke schreibt kritisch über die Menschen um und in Worpswede. Er fragt: „Und was wollen die Maler unter diesen Menschen? Darauf ist zu sagen, daß sie nicht unter ihnen leben, sondern ihnen gleichsam gegenüberstehen, wie sie den Bäumen gegenüberstehen und allen den Dingen, die umflutet von der feuchten, tonigen Luft, wachsen und sich bewegen.
Sie kommen von fernher. Sie drücken diese Menschen, die nicht ihresgleichen sind, in die Landschaft hinein; und das ist keine Gewaltsamkeit. (…) Sie wollen das Beste erreichen und sie sind Kinder geworden. Sie sehen alles in einem Atem, Menschen und Dinge. Wie die eigentümliche farbige Luft dieser hohen Himmel keinen Unterschied macht und alles, was in ihr aufsteht und ruht, mit derselben Güte umgiebt, so üben sie eine gewisse naive Gerechtigkeit, indem sie, ohne nachzudenken, Menschen und Dinge, in stillem Nebeneinander, als Erscheinungen derselben Atmosphäre und als Träger von Farben, die sie leuchten macht, empfinden. Sie tun niemandem Unrecht damit.
Sie helfen diesen Leuten nicht, sie belehren sie nicht, sie bessern sie nicht damit. Sie tragen nichts in ihr Leben hinein, das nach wie vor ein Leben in Elend und Dunkel bleibt, aber sie holen aus der Tiefe dieses Lebens eine Wahrheit heraus, an der sie selbst wachsen, oder, um nicht zu viel zu sagen, eine Wahrscheinlichkeit, die man lieben kann.“
In diesem Zitat drückt sich die ganze Widersprüchlichkeit der Künstlerkolonien aus, deswegen wird es hier so umfangreich dokumentiert. Diese Widersprüchlichkeit wird in dem Ausstellungsband nur gestreift(1). So erneuerten die Kolonien sicherlich die Kunst, und bieten auch Frauen Freiräume, die jene sonst in der Kunst nicht hatten. Ihre Umgebung nahmen die Angehörigen der Kolonien vor allem als Kulisse und Projektionsfläche ihrer inneren Empfindungen wahr. Sie malten die Bauern oder Fischerinnen, soziale Tatsachen oder Strukturen, also ob und wie lange z.B. deren Kinder zur Schule gingen, war für sie kein Thema. Ihr Blick war ein ästhetischer, gelegentlich bis hin zur Weltfremdheit, was aber wiederum die Qualität und Aussagekraft ihrer Kunst nicht zwangsläufig beeinträchtigt.
Die Ausstellung auf Schloss Achberg (bei Lindau am Bodensee) ist noch bis 18. Oktober 2015 zu sehen.
Doris Blübaum/Maximilian Eiden (Hrsg.): Aufbruch ins Freie? – Künstlerkolonien in Deutschland um 1900, 128 Seiten, Ravensburg 2015, ISBN 978-3-944685-03-8
(1) Das wissenschaftliche Standardwerk zu Künstlerkolonien ist Klaus Pese (Konzeption): Künstlerkolonien in Europa – im Zeichen der Ebene und des Himmels. Ausstellungskatalog, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2001, als voluminöses Resultat eines umfangreichen Forschungs- und Ausstellungsprojektes des Germanischen Nationalmuseums.