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Paul Singer, Staatssekretär für Solidarische Ökonomie im brasilianischen Arbeitsministerium war zu Gast auf der «Solikon 2015» in Berlin.

Unter dem Motto «Wir können auch anders» fand vom 10. bis 13.9. in Berlin ein  internationaler Kongress zur Solidarischen Ökonomie statt, die «Solikon 2015». Mit Paul Singer sprach Gerhard Dilger in São Paulo.

Herr Singer, 1996 haben Sie zum ersten Mal den Begriff «Solidarische Ökonomie» verwendet. Wie kam es dazu?

Paul Singer: Darauf gebracht hat mich Aloízio Mercandante, heute Präsidialamtsminister in Brasilia. Ich hab ihn spontan übernommen, wir wollten den Kapitalismus durch die Solidarität der Betroffenen überwinden. Auslöser war die große Krise der Linken 1991, als die Sowjetunion wieder kapitalistisch wurde. Viele in der Arbeiterpartei PT meinten: «Der Sozialismus ist vorbei!» Aber ich sagte: Ach wo, jetzt brauchen wir den demokratischen Sozialismus, von unten und freiheitlich. 1996 war für uns klar, dass die Solidarische Ökonomie der Weg ist.

Aber in Brasilien gab es das schon länger …

Genau, in den 1980ern hat die Caritas die Solidarische Ökonomie hergebracht. Das war die Zeit, als ganz Lateinamerika nach der Verfünffachung des Erdölpreises in die Finanzkrise taumelte. In Brasilien herrschte noch das Militärregime (1964 bis 1985), und dann haben die Militärs dieselbe Haushaltspolitik gemacht wie Präsidentin Dilma Rousseff heute, also radikale Kürzungen, ein Horror. Allein in der brasilianischen Industrie gingen sechs Millionen Arbeitsplätze verloren.

Und wie hat die Caritas darauf reagiert?

Sie hat die Arbeitslosen in vielen Genossenschaften organisiert, mit der Hilfe von Misereor und anderen kirchlichen Gebern. Für mich war das der Weg zum demokratischen Sozialismus, der Selbstorganisierung der Arbeiter*innen. 1996 haben wir von der PT das für São Paulo vorgeschlagen – als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit.

Das war auch die Hochzeit der Landlosenbewegung MST.

Ja, nicht umsonst sind die MST-Siedlungen als Kooperativen organisiert. Als wir die Solidarische Ökonomie entwickelten, haben wir alle Prinzipien des Genossenschaftswesens übernommen: offene Türen, ein Mitglied, eine Stimme, alles wird gemeinsam beschlossen, niemand kommandiert die anderen herum.

Und dann gibt es die Bewegung der Belegschaftsübernahmen, in Argentinien ab der Finanzkrise von 2002, aber auch in Brasilien …

Ja, hier hat das mit linken Gewerkschafter*innen angefangen. Es wurden viele Genossenschaften gegründet, um Fabrikschließungen zu verhindern, in der Regel hat das geklappt. In Argentinien noch besser …

Und in Europa?

Da kämpft eine große Bewegung um solche Fabriken. Am 31. Juli hat das französische Parlament ein neues Gesetz zur Solidarischen Ökonomie verabschiedet, mit unerhört guten Bestimmungen: Die Belegschaften müssen vom Fabrikbesitzen regelmäßig über den Gang der Geschäfte informiert werden, darüber, ob es Pläne gibt, in ein anderes Land zu gehen, ob ein Verkauf ansteht. Auch in Italien gibt es ein neues Gesetz, das Belegschaftsübernahmen erleichtert mit technischen und finanziellen Hilfen.

2003 hat Sie der damalige Präsident Lula zum Staatssekretär für Solidarische Ökonomie im Arbeitsministerium berufen. Welche Bilanz ziehen Sie?

22 Ministerien unterstützen heute solche Initiativen, das war wohl der größte Fortschritt. Zum Beispiel gleich zu Anfang das Gesundheitsministerium. Schon damals war die Bewegung stark, Psychiatrien zu schließen, und es hieß: „Was machen wir mit diesen Verrückten?“ Sie haben schließlich einen Mindestlohn bekommen, das Gesundheitsministerium ist eingestiegen, und heute haben wir landesweit 660 dieser Genossenschaften mit „Verrückten“. Es ist faszinierend, vor Kurzem habe ich von einer gehört, die heißt «Verrückt nach dir»!

Wie viele Betriebe der Solidarischen Ökonomie gibt es in Brasilien?

Zwischen 20.000 und 30.000. Es ist schwer, verlässliche Zahlen zu bekommen, es gibt viele Neugründungen, aber auch viele, die nicht mehr funktionieren. Wir gehen von insgesamt drei Millionen Menschen aus und von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Und Ihr Sekretariat greift Ihnen unter die Arme?

Ja, aber nicht nur finanziell, die MST-Kooperativen wollen vor allem technische und politische Weiterbildung. Ebenso die Müllsammlergenossenschaften, das sind sehr schlecht ausgebildete Menschen, oft Analphabet*innen. Wir arbeiten mit denen zusammen, die ganz unten sind.

Also Solidarische Ökonomie als Sozialpolitik.

Ja.

Wo bleibt da der antikapitalistische Horizont?

Die 21 Jahre Militärdiktatur waren eine große Lektion für mich. Wir können nicht den Kapitalismus abschaffen, solange das nicht die Mehrheit der Bevölkerung will.

Sind die Genossenschaften nicht zu sehr vom Staat abhängig? Was würde denn bei einem Regierungswechsel passieren?

Schwer zu sagen. Aber kann sein, dass ich schon vorher gehen muss. Das hat man mir ausrichten lassen, denn die Präsidentin braucht die Stimmen der Demokratischen Arbeitspartei PDT, und die wollen jetzt sämtliche Posten im Arbeitsministerium besetzen. Meine Leute haben mir gesagt, wenn ich entlassen werde, dann treten sie auch zurück. Wir könnten die Früchte unserer zwölfjährigen Arbeit verlieren!

Und Dilma Rousseff könnte das tatsächlich zulassen? Ohne die Stimmen aus dieser Szene wäre sie doch im Oktober 2014 gar nicht wiedergewählt worden!

Rousseffs Sparkurs ist auf der ganzen Linie gescheitert. Die Steuereinnahmen sind gesunken, der Bildungs- und der Gesundheitsetat werden gekürzt.

Auch Ihrer?

Ja, 60 Prozent unseres Budgets dürfen wir nicht ausgeben.

Warum ist Ihre Parteifreundin von ihrer nachfrageorientierten Politik umgeschwenkt?

Ich weiß es nicht. Nach ihrer Wiederwahl hat sie eine 180-Grad-Wende hingelegt, ohne jede Erklärung, gespenstisch. Es gibt keine Auslandsschulden, die das nötig gemacht hätten. Das Land ist in eine tiefe Krise gestürzt. Rousseff selbst glaubt wohl, Brasilien könne dadurch wachsen, das Vertrauen der Investoren wiedergewinnen.

Wie die Sozialdemokraten in Europa?

Ja, genau, leider. Auch sie hat sich dieser Logik unterworfen.