News | Gabler: Antizipierte Autonomie; Hannover 2009

Zur linkskommunistischen Gruppe „Socialisme ou Barbarie“

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Bernd Hüttner,

Andrea Gabler legt mit ihrem Buch eine Geschichte der französischen Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ vor. „Socialisme ou Barbarie“ wird 1949 gegründet und löst sich 1967 auf. Sie gilt als sich jenseits von Sozialdemokratie oder verstaatlichtem Kommunismus verortende, „räte-“ oder „linkskommunistische“ Gruppe, die ihrer Zeit weit voraus ist. Ihre prominentesten Mitglieder sind der 1956 ausgetretene Claude Lefort, der 1963 ausgetretene Jean-Francois Lyotard, und natürlich Cornelius Castoriadis, der als theoretischer Kopf der Gruppe gelten kann, bis zum Schluss dabei ist und von dem heute sehr viele seiner Texte auf deutsch vorliegen.

Gabler referiert in der ersten Hälfte ihres Buches ausführlich die Entwicklung der personell immer relativ kleinen Gruppe, die Auflage ihrer gleichnamigen Zeitschrift war nie höher als 1000 Exemplare. Sie entsteht ursprünglich aus einer Kritik an trotzkistischen Organisationen. Der Trotzkismus ist in Frankreich zwar vergleichsweise groß, die stalinistische, auf Entwicklung, Wachstum und „gesunden Nationalismus“ setzende Kommunistische Partei Frankreichs hat aber in der Arbeiterbewegung die Hegemonie. Gabler erzählt die Wendungen und Abspaltungen von „Socialisme ou Barbarie“ nach: Der einschneidendste Punkt dürfte die „Abkehr vom Marxismus“ als Metatheorie der Gruppe ab ungefähr 1960 sein.

In der zweiten Hälfte des Buches beschreibt Gabler die „Arbeitsanalysen von unten“ die „Socialisme ou Barbarie“ in ihrer Zeitschrift publiziert. Vorbilder für diese in den 1950er und den beginnenden 1960er-Jahren verfassten témoigngages gab es im Grunde kaum, sie werden umgekehrt später sowohl vom italienischen Operaismus wie auch von der Industrie- und Betriebssoziologie als Referenzrahmen verwendet. Resultat der témoigngages ist – zum einen - die anschauliche Beschreibung der Entfremdung in der industriellen Produktion: Lärm, Schmutz, Hetze und Isolation. Die größten Konflikte, so der Tenor der Berichte, gibt es um die Vorgabezeiten im Akkordsystem, was auf die zentrale Bedeutung von „Zeit“ und „Lohn“ hinweist. Aus ihren Beobachtungen in der Fabrik und ihren theoretischen Debatten destilliert die Gruppe die These, dass für das Management damals die Kontrolle und Unterwerfung der ArbeiterInnen wichtiger ist, als die Effizienz oder Optimierung der Produktion.

Es geht also in einer radikal-demokratischen Perspektive nicht nur um die Menge des Produktes und die dafür notwendige Zeit und deren Entlohnung, sondern um den Inhalt und die Organisation der Arbeit selbst. Gleichzeitig ist, da sich der Kapitalismus immer mehr von einem Produktionssystem zu einem Herrschaftssystem wandle, das sich auf kompensatorische Verhaltensweisen stütze, die Fabrik kein privilegierter Ort politischer Aktivität mehr. Vielmehr gelte es, so „Socialisme ou Barbarie“ schon Anfang der 1960er Jahre, sich neuen Widersprüchen und Subjekten zuzuwenden, die Welt außerhalb der Fabrik in den Blick zu nehmen, und damit Themen und Bewegungen, die sich ab 1967/78 dann zeigen sollten, da gab es „Socialisme ou Barbarie“ aber schon nicht mehr.

Zum Schluss prüft Gabler, inwiefern die Erkenntnisse von „Socialisme ou Barbarie“ aus der fordistischen Phase des Kapitalismus heute noch aktuell sind – und kommt zum wenig überraschenden Ergebnis, dass dies sehr wohl der Fall sei. Nebenbei kritisiert sie die Postoperaisten wie Paolo Virno oder Antonio Negri dafür, dass diese keine konkrete Untersuchung der postfordistischen Arbeitsverhältnisse vornehmen würden.

Andrea Gabler: Antizipierte Autonomie. Zur Theorie und Praxis der Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ (1949-1967); 294 Seiten, Hannover 2009, Offizin-Verlag, 28,80 EUR