News | International / Transnational - Krieg / Frieden - Nordafrika «Die Konflikte werden nicht bearbeitet»

Interview mit Dr. Katja Hermann, Leiterin des Regionalbüros Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Katja Hermann,

Frau Hermann,  seit etwa drei Wochen kämpfen Palästinenser und Israelis offen gegeneinander auf den Straßen in Israel und der Westbank, täglich werden Menschen schwer verletzt und getötet. Wie konnte es zu so viel Gewalt kommen?

Die Eskalation kommt alles andere als überraschend, sondern war zu erwarten. Die tagtägliche Gewalt, der die Palästinenser unter Besatzung ausgesetzt sind, die zunehmende Brutalität der Siedler, die Kriege gegen Gaza, die Auseinandersetzungen um die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, die das Fass letztlich zum Überlaufen gebracht haben. Aufgestaute Frustrationen, Perspektivlosigkeit, eine schwache Regierung, die im vergleichsweise illustren Ramallah mehr mit sich selbst als mit den Interessen der Menschen beschäftigt ist – da war es klar, dass das nicht länger gut gehen konnte. Die Welt hat sich an den Konflikt gewöhnt und angesichts des Auseinanderfallens der gesamten arabischen Region spielt er keine große Rolle mehr. Ganz anders ist das natürlich in den Palästinensischen Gebieten, in denen sich der enorme Frust jetzt Bahn bricht - mit messerstechenden Jugendlichen und wütenden Demonstranten.

Wie würden Sie die Stimmung im Moment in Jerusalem beschreiben?

Die Stimmung in Jerusalem ist sehr angespannt. Dies gilt vor allem für den arabischen Teil der Stadt. Dort sind viele Schulen geschlossen und die Straßen menschenleer. Die Nachrichten von den zahlreichen Angriffen und Erschießungen, die in den letzten Tagen vor allem über die sozialen Medien verbreitet wurden, haben Angst, ja beinahe Hysterie ausgelöst. Dazu kursieren Gerüchte, dass Ost-Jerusalem in den nächsten Tagen ganz abgeriegelt werden soll. Der Bürgermeister der Stadt hat Israelis, die einen Waffenschein haben, aufgefordert, diese bei sich zu tragen, das ist alles andere als deeskalierend. Auf allen Seiten liegen die Nerven blank, das macht es so gefährlich. In einer solchen Situation gibt es keinen sicheren Ort und die Menschen bleiben lieber zu Hause.

Schon im Sommer 2014 sprachen viele von der «Dritten Intifada» – was verstehen Sie unter diesem Begriff?

Sobald es auf palästinensischer Seite zu Gewalt kommt, wird überall, auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung, reflexartig von einer «Dritten Intifada» gesprochen und darüber diskutiert, ob diese nun schon angefangen hat oder nicht. Im palästinensischen Kontext bezeichnet der Begriff „Intifada“ einen mehr oder weniger organisierten Volksaufstand und davon kann derzeit (noch) keine Rede sein. Die palästinensischen Jugendlichen, die in diesen Tagen Israelis angreifen, sind nicht organisiert. Das Gleiche gilt für die Demonstranten an den Sperranlagen und Checkpoints. Wenn wir aber bedenken, wie unterschiedlich die Erste und die Zweite Intifada waren, merken wir schnell, dass solch semantische Diskussionen nicht hilfreich sind und wir uns besser mit den Hintergründen der Gewalt auseinandersetzen und der Frage nachgehen sollten, was genau palästinensische Jugendliche bewegt, jetzt mit Steinen zu werfen und Messer als Waffen einzusetzen.

Wie beurteilen Sie die Messerattacken von palästinensischen Zivilisten gegen israelische Soldaten und Polizisten?

Ich persönlich lehne die Ausübung von Gewalt grundsätzlich ab. Gleichzeitig halte ich es für wichtig nachzuvollziehen und zu verstehen, wie es zu dieser Gewalt kommt. Die Messerattacken werden hauptsächlich von sehr jungen Palästinensern durchgeführt. Sie gehören zu einer Generation, die nichts anderes kennt als die Besatzung. Diese Palästinenser sind ungefähr so alt wie der Oslo-Friedensprozess, der Anfang der 1990er Jahre begann und schon seit Jahren gescheitert ist. Sie sind aufgewachsen mit dem Versprechen, dass sie in ihrem eigenen Staat leben werden, in Freiheit, Würde und Sicherheit. Nichts von all dem ist bis heute passiert. Die junge Generation ist davon am allermeisten betroffen. Sie greifen zum Messer, weil sie zutiefst verzweifelt und ohne Hoffnung sind. Weder ihre Eltern und Lehrer noch ihre politische Führung oder internationale Experten sind in der Lage, ihnen glaubhaft irgendwelche Perspektiven zu vermitteln. So gefährlich diese Messerattacken sind, die Reaktion seitens Israel ist aus meiner Sicht inakzeptabel. Allein in den letzten zwei Wochen sind 25 Angreifer und mutmaßliche Angreifer erschossen worden, die meisten waren zwischen 17 und 25 Jahren alt. Einige Vorfälle, die gefilmt wurden, zeigen deutlich, dass von den Angreifern zur Zeit der Erschießung keine akute Gefahr ausgegangen ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen, warum keine anderen Möglichkeiten gewählt werden, um diesen Attentätern beizukommen.  

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet mit Partner-Organisationen in Jerusalem, der Westbank und dem Gazastreifen. Können deren Mitarbeiter derzeit problemlos mit Ihnen arbeiten? Wie sieht  das genau aus?

Angesichts der derzeitigen Situation ist es an den meisten Orten nicht möglich, ungestört zu arbeiten, das gilt für unsere Partnerorganisationen, aber auch für mein Team. Die erste Herausforderung ist, überhaupt zur Arbeit zu kommen,  da viele Checkpoints sowohl im Inneren des Westjordanlandes als auch zwischen dem Westjordanland und Jerusalem aufgrund von Demonstrationen und Straßenschlachten geschlossen oder nicht passierbar sind. Der Gazastreifen ist komplett abgeriegelt. Dazu kommt die permanente Flut von schlechten Nachrichten, die auf die Kollegen einprasselt und die sie verarbeiten müssen, was Zeit und Kraft in Anspruch nimmt. Veranstaltungen werden verschoben, weil die Referenten nicht anreisen können oder weil es nicht vertretbar ist, in solchen Zeiten, Filme zu zeigen und Ausstellungen zu eröffnen. Hier herrscht derzeit ein Angstgefühl darüber, nicht zu wissen, wie sich die Lage nun weiter entwickelt. Es ist diese permanente Unsicherheit und dazu die Erinnerungen an die letzte Intifada, die alle lähmt und einen normalen Arbeitsalltag gerade unmöglich macht.  

Mahmoud Abbas hat kürzlich die Osloer Abkommen von 1993 bzw. 1995 aufgekündigt vor den Vereinten Nationen. Was bedeutet das vor dem Hintergrund der Eskalationen?

Mahmoud Abbas steht mit dem Rücken zur Wand. Er hat jahrelang politische Verhandlungen mit Israel geführt, selbst dann noch, als die Mehrheit der Palästinenser und auch der internationalen Beobachter den Verhandlungsprozess längst für gescheitert erklärt hat. Mahmoud Abbas hat kaum noch Rückhalt in der palästinensischen Gesellschaft, aber auch Israel hat seine Bemühungen über all die Jahre nicht goutiert. Ob er  tatsächlich die Osloer Abkommen aufgekündigt hat, wird hierzulande kontrovers diskutiert. Ich würde eher sagen, dass er gedroht hat, sich nicht mehr an die Abkommen zu halten, solange Israel das nicht tut. Das mag spitzfindig sein, lässt ihm aber einen gewissen Spielraum. Auf jeden Fall war seine Rede ein deutliches Signal, dass seine und die Geduld der Palästinenser zu Ende ist. Es ist gut möglich, dass seine Worte von einem Teil der palästinensischen Gesellschaft und insbesondere von der jungen Generation als eine Aufforderung zur Eskalation verstanden worden sind.  Allerdings hat sich Mahmoud Abbas schnell bemüht, die Lage zu beruhigen. Dass ihm das bislang nicht gelungen ist, zeigt, dass er keinen wirklichen Einfluss mehr auf die palästinensische Straße und auf die Entwicklungen im Land hat. Es zeigt aber auch, dass er bislang nicht bereit ist, seine eigenen Sicherheitskräfte gegen die Jugendlichen einzusetzen, um sie von den Checkpoints und Grenzzäunen abzuhalten.

Was muss passieren, damit die Gewaltspirale ein Ende hat?

Die aktuelle Gewaltspirale wird irgendwann ein Ende haben, das kann in ein paar Tagen oder in einigen Monaten sein. Aber das alleine reicht nicht. Was gebraucht wird, ist die Erarbeitung einer gerechten und nachhaltigen Lösung des Konfliktes, umgehend, ansonsten wird es immer wieder zu neuen Gewalteskalationen kommen. Ein Blick auf den Gazastreifen zeigt das sehr deutlich: die dortigen Konflikte werden nicht bearbeitet, sondern mit militärischen Interventionen nieder gebombt, mit verheerenden Auswirkungen für die Zivilbevölkerung. Eine Folge ist, dass die Abstände zwischen den Kriegen mittlerweile immer kürzer werden. Ich glaube nicht, dass Israelis und Palästinenser alleine in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen, sondern dass dies nur über Vermittlung, über eine Drittpartei gehen kann, über einen fairen und beidseitig anerkannten Mediator. Das macht wiederum nur Sinn, wenn man aus Oslo die Lehre zieht, dass Verhandlungen in asymmetrischen Konflikten nicht ohne klar vereinbarte und nachgehaltene Monitoring- und Sanktionsmechanismen funktionieren. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist insofern asymmetrisch, dass er von zwei sehr ungleichen Konfliktparteien gekennzeichnet ist.  

Ist die israelische Gesellschaft eine rassistische Gesellschaft?

Das ist eine heikle Frage und ich möchte hier ungern vereinfachen und eine ganze Gesellschaft über einen Kamm scheren. Ich glaube aber, dass die Besatzung und auch die strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Minderheit innerhalb Israels von einem politischen System getragen werden, das in hohem Maße auf Rassismus basiert und dass der Entmenschlichung der Palästinenser das Wort redet. Das geht so weit, dass selbst Gewaltanwendungen gegen Palästinenser geduldet werden. Die radikale Siedlerbewegung setzt diesen Rassismus auf brutalste Weise um, aber er findet sich auch in der Mitte der Gesellschaft.

Was können wir Deutschen tun, um zu einem Frieden für beide Völker beizutragen?

Aus der deutschen Geschichte zu lernen, bedeutet für mich, dass ich versuche, Formen von Entrechtung und Unterdrückung klar und deutlich zu benennen, auch im israelisch-palästinensischen Kontext. Ich glaube, dass die Solidarität mit Israel, die in Deutschland Staatsräson ist, nicht dazu führen darf, die Augen vor dem Unrecht an den Palästinensern zu verschließen. Damit macht man sich gemein mit dem menschenverachtenden System von Besatzung und Unterdrückung. Damit ist keiner Seite geholfen, auch nicht der israelischen.

Sie leben jetzt seit drei Jahren in Jerusalem und arbeiten in Ramallah.  Wie ertragen Sie persönlich die schier ausweglose Konfliktsituation?

Momentan nimmt mich die Lage auch persönlich mit, die Sorge um die Menschen, mit denen ich arbeite und lebe, der mühsame Alltag zwischen Sicherheitsmeldungen und geschlossenen Checkpoints, die Angst um die eigenen Kinder, die viel mehr mitbekommen, als wahrscheinlich gut ist. Was mich aber besonders deprimiert, ist, kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Ich erkenne auf keiner Seite politische Visionen, Strategien oder besondere Ambitionen, um dieser Konfliktsituation ein Ende zu setzen. Dies gilt auch für die internationale Gemeinschaft: Hilfszahlungen in Milliardenhöhe wurden investiert und tausende Projektmaßnahmen umgesetzt, Bücher geschrieben und Analysen erarbeitet, aber die Besatzung hat all das weitgehend unbeschadet überstanden. Ich lerne aus der gegenwärtigen Situation, wie brüchig die Lage in den Palästinensischen Gebieten ist.  Der Checkpoint nach Ramallah, der für internationale Mitarbeiter von NGOs und Botschaften stets geöffnet war und den ich oft nutze,  hat sich über Nacht in eine Kulisse für Straßenschlachten und den Kampf um Leben verwandelt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte die Journalistin Liva Haensel. Es erschien auf dem Nahost-Blogmagazin http://www.dreiecksbeziehung.net

Zur Person:

Katja Hermann ist Islamwissenschaftlerin und Mediatorin und leitet seit 2012 das Palästina-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient sowie als Projektkoordinatorin beim Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis in Berlin tätig.

Mehr Infos: Rosa-Luxemburg-Stiftung Ramallah