Im Sommer 1972 erscheint in 50.000er Auflage ein „Katalog sozialistischer Literatur“. Produziert wird er von zwei linken Buchläden in Göttingen und Braunschweig und vom Verband des linken Buchhandels (VLB), dessen „Sekretariat“ sich zu diesem Zeitpunkt in Bremen befindet. Der Katalog enthält 3000 Einträge zu Publikationen aus etablierten, aus linken und teilweise auch Untergrundverlagen. Auflage und Umfang des Katalogs zeigen die Dimension der Lesebewegungen im „Markt für Marx“ jener Jahre an.
Aus den Aufbrüchen der 1968er Jahre heraus entstehen damals bundesweit unzählige linke Verlage und Buchläden. Mit Klassikern des Marxismus, Schlüsseltexten der Studenten- und Frauenbewegung und später dann der Literatur neuer sozialer Bewegungen prägen sie in den 1970er Jahren die politische Kultur der alten Bundesrepublik Deutschland mit.
Der 1970 gegründete Verband des linken Buchhandels (VLB) vereinigt in seinen Hochphasen bis zu 200 parteiunabhängige, kollektiv betriebene Verlage, Druckereien, Vertriebe und Auslieferungen. Er bildet ein eigenes politisch-literarisches Feld und einen kleinen, eigenständigen ökonomischen Sektor. Dieses Netzwerk war Anlaufpunkt radikaler Linker und unverzichtbarer Bestandteil der Infrastruktur des linken, dann auch des alternativen Milieus.
Der 1976 geborene Sonneberg war in Potsdam selbst Teil des Buchladenkollektivs „Sputnik“, bevor er den linken Buchhandel in der alten Bundesrepublik erforschte. In seinem Buch blickt er zurück auf die Entstehung des linken Buchhandels, seinen politischen Charakter, seine Bedeutung für die undogmatische Linke und seinen späteren Wandel. Er bearbeitet noch drei weitere, damit verwobene Bereiche: das Phänomen der Raubdrucke; dann linke Verlage und ihre Geschichte und drittens die Bemühungen linker AutorInnen und MitarbeiterInnen „bürgerlicher“ Verlage um Mitbestimmung und Kollektivität.
Sonnenberg skizziert kurz das Verhältnis der Arbeiterbewegung zu ihren Verlagen und Buchläden, um dann die Zeit vor und nach 1968 und dort besonders die Verlage der Neuen Linken vorzustellen. Die ersten linken Buchläden entstehen 1968 aus Büchertischen an Universitäten, die sich damals nicht unwesentlich durch den Verkauf von Raubdrucken finanzieren. Diese dienten dazu, die verschütteten Traditionen der Linken anhand ihrer Texte, etwa der verschiedenen Spielarten des Marxismus, oder der Psychoanalyse, vor allem der Weimarer Zeit wieder auszugraben und jene sich wieder anzueignen. Damals beginnt die erste, eher dogmatische Phase des VLB 1970-1973, die unter dem Obertitel „Organisation statt Emanzipation“ bzw. sogar „Emanzipation durch Organisation“ stehen könnte. Der dann die zweite, bis 1980/81 dauernde, klassische und auch bekanntere Phase der weiteren „Entmischung“ folgt, in der bei vielen Linken Authentizität, Bedürfnisse und Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen. In jenen Jahren gibt es dann auch die ersten Frauen-, Schwulen- und alternativen Kinderbuchläden. Sonnenberg erzählt die Entwicklung des Verbandes, zeichnet seine Debatten und die einzelner, prägnanter Buchläden und Verlage nach. Von 1974 bis 1977 kann er mindestens 12 bundesweite Treffen des VLB nachweisen, an dem im Mai 1977 nehmen 150 Personen teil! Der VLB entschläft dann, das letzte (bekannte) Treffen findet im November 1980 statt, und das obwohl sich 1981 auf der VLB-Einkaufstüte 131 Adressen befinden. Es gibt anschließend einige Versuche einer regionalen Vernetzung statt und dann, so Sonnenberg, entschläft der VLB sanft und die Phase des klassischen linken Buchhandels ist zu Ende, da er sein Alleinstellungsmerkmal verloren habe.
Verlage und Bücher sind Mittel zur Produktion widerständigen Wissens und Buchläden Orte des Kulturtransfers. Gleichzeitig sind Bücher eine Handelsware, ihre Produktion und vor allem ihr Vertrieb findet im realen Kapitalismus statt. Die ökonomischen Faktor en führen immer wieder zu Widersprüchen und Problemen. Das zeigt sich, und das arbeitet Sonneberg heraus, immer wieder. So haben linke Verlage das Interesse ihre Bücher auch im normalen Buchhandel unterzubringen, während linke Buchläden schnell aus ökonomischen Gründen auch Reiseführer, Krimis, Kunst- und Gartenbücher anbieten (müssen). Weitere Streitpunkte sind der Umgang mit Raubdrucken von Titeln aus linken Verlagen und die Phase der Etablierung selbstverwalteter Strukturen im linken Buchhandel – wobei deren Höhepunkt erst in den 198er Jahren liegen dürfte, die Sonnenberg nicht mehr untersucht. Interessant ist auch, welchen Beschwernissen eine überregionale wirtschaftliche Kooperation unterliegt, sie scheitert, so Sonnenberg, im Grunde. So war der VLB eher eine Interessenorganisation und ein Schutzverband gegen die phasenweise starke staatliche Repression.
Sonnenberg hat einen Meilenstein in der Forschung zu den neuen sozialen Bewegungen vorgelegt. Er schreibt weder eine Verfallsgeschichte („alles wurde immer unpolitischer“), noch verfolgt er eine nostalgische Herangehensweise („Früher war vieles besser“); die dann meist nur die andere Seite der Verfallsgeschichte ist.
Auch wenn seine Arbeit den Entstehungszusammenhang einer Dissertation nicht verleugnen kann, ist sie sehr ansprechend und lebendig geschrieben und wunderbar zu lesen. Wieder einmal fällt auf, dass viele der benutzten Quellen aus privaten Sammlungen und freien Archiven stammen, hier ist vor allem das Trikont-Archiv der 2010 verstorbenen Christine Dombrowsky zu nennen, das sich nun im nichtstaatlichen Archiv der Münchner Arbeiterbewegung befindet. Der Band enthält ein nach Namen der Einrichtung sortiertes umfangreiches Register mit Buchläden, Verlagen und Vertrieben, über das auch eine indirekte Suche nach Orten möglich ist.
Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren; Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 568 Seiten, 44 EUR
Uwe Sonnenberg war Promotionsstipendiat der RLS. Er hat u.a. in CONTRASTE. Monatszeitung für Selbstorganisation (Nr. 307 April 2010, Seite 4 und 5) über seine Forschungen berichtet: AGITATION UND AUFKLÄRUNG Zur Geschichte linker Buchläden nach »1968« (abgefragt am 8. Mai 2016).