Der 46. Anlauf
Am 31. Oktober 2016 hat die libanesische Nationalversammlung als 17. Präsidenten der Libanesischen Republik den ehemaligen Armeegeneral Michel Aoun für eine sechsjährige Amtszeit gewählt. Der Wahl war ein 2,5 jähriges Präsidentschaftsvakuum vorangegangen, das seit Ende der Amtszeit des letzten Präsident Michel Sulayman im Mai 2014 entstanden war. Seither hat der Parlamentssprecher Nabih Berri die Präsidentschaftswahl 45 Mal verschoben, da die verschiedenen politischen Lager keinen Einheitskandidaten finden konnten.
Die 2,5 Jahre dauernde Präsidentenvakanz ist gleichzeitig Folge, wie Ausdruck und Ursache der politischen Kultur und gegenwärtigen Krise im Libanon: Das politische Konkordanzsystem sieht nicht nur eine Aufteilung der politischen Ämter nach Religionsgemeinschaft vor, sondern auch, dass politische Entscheidungen möglichst mit Konsens getroffen werden. Allerdings sind politische Gruppierungen und Parteien seit einem Jahrzehnt in die beiden Lager: 8. März und 14. März aufgeteilt, deren politische Orientierung sich vor allem in der außenpolitischen Ausrichtung des Libanons ausdrückt. Seit Ausbruch des Krieges in Syrien und der gegenwärtigen weltpolitischen Polarisierung im Hinblick auf diesen Konflikt, ist es auch im Libanon wieder schwerer geworden, einen politischen Konsens zu finden. Dementsprechend hatte die «8. März Koalition», die der Politik des Asad Regimes, des Irans und Russlands nahe steht, die Präsidentschaftswahlen bis zum 31. Oktober boykottiert.
Der fehlende Präsident hat zudem die libanesische Staatskrise verschärft: Der Staatsapparat und die Regierung sind seit 2,5 Jahren in ihrer Entscheidungsgewalt gelähmt, was auch zu willkürlichen Entscheidungen geführte. Die Parlamentsabgeordneten haben zuletzt im August 2014 Parlamentswahlen abgesagt und ihre Mandatszeit eigenmächtig bis Juni 2017 verlängert. Gründe seien die terroristische Bedrohung sowie die gefährliche Sicherheitslage im Libanon. Eine solche Eigenverlängerung hätte nur von einem Präsidenten verhindert werden können. Gleichzeitig wurde jede Art von Regierungs- und Handlungsunfähigkeit mit dem Fehlen eines Präsidenten gerechtfertigt. Beispielhaft kann man dies an der seit über an einem Jahr andauernden «Müllkrise» erkennen, in der es der Regierung nicht gelang, eine nachhaltige Lösung für die Müllentsorgung im Land zu finden. Der Müll lagert seit Monaten in temporären Deponien, wird verbrannt, ins Meer geleitet oder einfach in die freie Natur geworfen.
Diese Lähmung des Staatsapparates erscheint umso absurder als der Libanon seit Ausbruch des Syrienkonflikts nicht nur mit ca. 1,5 Millionen Flüchtlingen zu einem Land mit der höchsten Flüchtlingsrate der Welt geworden ist, sondern auch, dass sich die Polarisierungen innerhalb des Syrienkonflikts immer wieder in den politischen Grabenkämpfen im Libanon wiederspiegeln. Dementsprechend werden auch ein «Überschwappen» des benachbarten Konflikts und ein erneuter libanesischer Bürgerkrieg immer wieder befürchtet. Ein fehlender Präsident scheint hier das i-Tüpfelchen eines paradoxerweisegleichermaßen funktionierenden wie chronisch gescheiterten Staates in einer krisengeschüttelten Region zu sein.
Die 2,5 Jahre andauernde Lähmung wurde nur durch die kürzlich erreichte Einigung zwischen Michel Aoun und Saad Al Hariri gelöst. Hariri, Anführer der stärksten Partei im libanesischen Parlament «Tayyar Al Mustaqbal» («Zukunftsbewegung») und ein politischer Rivale Aouns, hatte der Kandidatur des Letzteren nicht zugestimmt. Die letztendliche Einigung der beiden wird als politischer Schachzug gewertet, durch den sie ihren Einfluss durch politische Ämter behaupten wollen: Aoun als Präsident und Hariri als erneuter Premierminister. Hariri will sich durch diesen Zug vor allem aus seiner politischen Isolation befreien.
Nach dieser Einigung war der Ausgang der Sitzung am 31. Oktober nicht sonderlich überraschend. An ihrem Ende stand ein 81 Jahre alter libanesischer Präsident, der eine wenig mitreißende Antrittsrede vom Papier ablas. Die Sitzung selber glich allerdings in vielem einer Komödie und/oder einem traurigen Schauspiel. Nachdem Aoun im ersten Wahlgang nicht die notwendige Stimmzahl erhalten hatte, wurde der Wahlgang wiederholt. Ein zweiter und dritter Wahlgang wurden dann für nicht gültig erklärt, weil sich beide Male anstelle von 127 Stimmzetteln 128 Zettel in der Urne befanden. Im vierten Wahlgang wurde Michel Aoun mit 83 Stimmen gewählt. Unter anderem gab es auch 36 Enthaltungen (weiße Stimmzettel). Im ersten Wahlgang wurde außerdem eine Stimme für den libanesischen Popstar Myriam Klink, im letzten Wahlgang eine Stimme für die Roman- und Filmfigur Alexis Sorbas abgegeben. Beide Stimmen, sowie sechs weitere wurden für ungültig erklärt.
Befreiungskrieg, Exil und Parlament: Wer ist Michel Aoun?
Seine Anhänger nennen Michel Aoun gerne «den General», anspielend auf die frühere Laufbahn des Politikers in der libanesischen Armee, die bereits in den 1960er Jahren unter dem damaligen Präsidenten Fouad Chehab begonnen hatte. Während des überwiegend auf konfessioneller Ebene ausgetragenen Bürgerkriegs errang Aoun einigen Ruhm durch den Aufbau einer Brigade, die sich aus Mitgliedern verschiedener Konfessionen zusammensetzte. Im Jahr 1984, im Zuge des Wiederaufbaus und der Reform der Armee nach der israelischen Invasion 1982, wurde Aoun vom damaligen Präsidenten Amin Gemayal und dem Verteidigungsminister zum Kommandeur der libanesischen Armee ernannt. Im Zuge einer erneuten Regierungskrise im Jahre 1988 ernannte Amin Gemayel am Ende seiner Amtszeit Michel Aoun zum Premierminister - ein Posten, der nach dem libanesischen Proporzsystem einem Sunniten zusteht. Nicht nur stand damit ein Maronit (eine der christlichen Gruppen im Nahen Osten, denen das Präsidentenamt im Libanon zusteht) an Stelle eines Sunniten auf diesem Posten, durch die Nichtbesetzung der Nachfolge Gemayels wurde Aoun damit de facto zum einzig legitimen Staatsoberhaupt.
In der Folge kämpfte Aoun vor allem an zwei Fronten und dies mit verbitterter Brutalität: zum einen gegen die syrische Armee, die seit 1976 Teile des Libanons besetzt hielt, zum anderen gegen die «Lebanese Forces», einer christlichen Miliz unter Samir Geagea, mit der er um die Autorität in den christlichen Gebieten konkurrierte. Dieser von ihm genannte «Befreiungskrieg» zeichnete sich nicht nur durch außergewöhnliche Brutalität von allen Beteiligten aus, er zog sich auch noch in die Länge, als sich die anderen Konfliktparteien im Oktober 1989 auf das «Abkommen von Taef» und damit ein Ende des Bürgerkriegs geeinigt hatten. Aoun und seine Anhänger lehnten das Abkommen ab und verharrten vor ihrem Hauptquartier, dem Präsidentenpalast in Baabda, aus. Nach massivem Bombardement der syrischen Armee musste Aoun schließlich im Oktober 1990 kapitulieren und floh nach Frankreich ins Exil.
In seiner 15-jährigen Exilzeit blieb der ehemalige General vor allem bei seinen Anhängern in lebhafter Erinnerung. Nicht nur wurde seine Rückkehr sehnlichst erwartet, er meldete sich auch weiterhin zum politischen Tagesgeschehen regelmäßig zu Wort. Aus dem Exil heraus wurde Aoun zum erbitterten Gegner der syrischen Besatzung seines Landes.
Im Zuge der Massenproteste nach der Ermordung des ehemaligen Premierministers Rafik Hariri 2005 und dem Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon kehrte Aoun nach 15 Jahren Exil in den Libanon zurück. Er gründete eine neue Partei, die Freie Patriotische Bewegung («al-Tayyar al-Watani al-Horr»), deren Programmatik sich anfänglich vor allem in dem Versuch äußerte, einen Spagat zu wagen zwischen überkonfessionellen Themen und einem neuen christlichen Führungsanspruch. Für die anstehenden Parlamentswahlen 2005 ging Aoun zum ersten Mal eine überraschende Allianz mit pro-syrischen Kräften ein. Dennoch wurde die FPB in den Wahlen stärkste christliche Kraft. Nach der Wahl setzte Aoun seinen pro-syrischen Kurs fort: Er ging ausgerechnet ein Bündnis mit der schiitischen Hisbollah ein, einem engen Verbündeten des syrischen Regimes im Libanon und verschaffte sich durch diese starke Allianz wachsenden Einfluss auf die libanesische Politik. Im Zuge dieses Bündnisses brachte Aoun zum ersten Mal seinen Wunsch ein, libanesischer Staatspräsident zu werden und hoffte bei diesem Unterfangen auf die Unterstützung der Hisbollah.
Um seinem Ziel näher zu kommen, musste Michel Aoun in den letzten zehn Jahren noch einige weitere Bündnisse eingehen. Im Juni 2015 versöhnte er sich mit seinem politischen Rivalen und Erzfeind aus Bürgerkriegstagen Samir Geagea, dem Vorsitzenden der «Lebanese Forces». Als ihn auch dieses Bündnis dem Präsidentenstuhl nicht näher brachte, gaben Aoun und Hariri im Oktober dieses Jahres die Unterstützung Hariris für Aouns Präsidentschaft bekannt. Hariri nannte den Deal «keine Schlichtung, sondern eine Aufopferung». Obwohl ein Aoun-Hariri Deal schon früher immer wieder Gesprächsthema war, überraschte seine plötzliche Bekanntgabe wohl die meisten.
In den letzten Jahren hat sich Aoun damit zu einem eher unkontrollierbaren, aber hartnäckigen Machtpolitiker entwickelt, der bereit ist, im Wettlauf um die Macht seine politische Couleur seinen Ansprüchen anzupassen. Mit 81 Jahren ist er damit nun an seine wohl letzte Ziellinie gekommen.
Der neue Präsident: Hoffnungen und Herausforderungen
Nach einem 2,5 Jahre dauernden Vakuum scheint die Wahl eines Präsidenten auf den ersten Blick ein Meilenstein, der das Land zumindest ein Stück weit aus Stagnation und politischer Lähmung holen kann. Dennoch rief die Wahl Aouns sowohl im Libanon als auch weltweit viel Kritik und Skepsis hervor. In der europäischen Presse wurde sowohl vor als auch nach der Wahl vor allem die Nähe des neugewählten Präsidenten zur Hisbollah und damit zum syrischen und iranischen Regime kritisch betrachtet. Diese Einschätzung ist insofern richtig, als der Einfluss der Hisbollah mit einem Staatspräsidenten auf ihrer Seite noch einmal gestiegen ist. Dies hat auf kurze wie auch lange Sicht auch Einfluss auf die Situation der Partei als Kriegspartner des syrischen Regimes in Syrien und damit auf die Stellung des syrischen Regimes in Damaskus. Darüber hinaus muss die Wahl auch in anderer Hinsicht kritisch bewertet werden. Vor allem zwei weitere Faktoren sind entscheidend bei der Wahlanalyse, die die politische Lage wenigstens im Libanon beeinflussen werden und das Land vor neue Herausforderungen stellen wird – trotz eines besetzten Präsidentenamtes:
Die Wahl Aouns zum Präsidenten und die Zustimmung von Saad Al Hariri kann vor allem auch als eine endgültige Niederlage der «Allianz des 14. März» betrachtet werden, sowohl als politisches Projekt als auch als Allianz verschiedener politischer Parteien und Gruppierungen. Mit seiner Unterstützung Aouns versucht Saad Al Hariri sich aus der innen- und außenpolitischen Isolation zu befreien. Innenpolitisch vor allem, weil das «14. März-Projekt» schon lange am kränkeln war, aber auch, weil die Future Bewegung an Anhängern verliert, nicht zuletzt in den letzten Kommunalwahlen im Mai 2016. Außenpolitisch, weil der ehemalige außenpolitische Verbündete der Bewegung, Saudi-Arabien, die Partei kaum mehr unterstützt. Hariris Zugeständnis an Aoun ist demnach ein Eingeständnis der eigenen Niederlage, und gleichzeitig ein Versuch, wenigstens noch ein Stück des libanesischen Politikkuchens abzubekommen.
Für Aoun bedeuten die verschiedenen Bündnisse, die er im Laufe seines langen Wahlkampfes eingegangen ist, dass er versuchen muss, gegenüber jedem Bündnispartner seine politischen Versprechen einzuhalten. Dies wird keine leichte Aufgabe bei Bündnispartnern, deren politische Agenda so unterschiedlich ist wie die von Saad Al Hariri, Samir Geagea und Hassan Nasrallah. Letzterer hat bereits angekündigt, dass er Saad Al Hariri als Premierminister nicht zustimmen wird.
Diese Aufrechnung der Gewinner und Verlierer der Präsidentenwahl zeigt, wer der wahre Verlierer der Wahl Aouns zum Präsidenten ist. Die erfolgreiche Wahl ist das Ergebnis mehrerer politischer Tauschgeschäfte um Ämter, Vorteile und Einfluss – Tauschgeschäfte, die innerhalb als auch außerhalb des Libanons geschlossen wurden. Wahre politische Programme, Ideen und Strategien, wie man das Land vor allem aus seiner sozioökonomischen Krise herausholen kann, haben hier keine oder eine geringe Rolle gespielt. Dies wurde auch an Michel Aouns Antrittsrede deutlich, in dem es vor allem um die Schwerpunkte Sicherheit, Terrorbekämpfung sowie die notwendige Rückkehr der syrischen Flüchtlinge nach Syrien geht. Eine soziale Agenda für die libanesische Bevölkerung, aber auch für die syrischen und palästinensischen Flüchtlinge hat keine Rolle spielt.
Angst, Kapitulation und Humor – erste Reaktionen der libanesischen Bevölkerung
Eine entsprechende Ernüchterung zeigt sich deshalb auch innerhalb der Bevölkerung Beiruts. Auch wenn die Straßen Beiruts am Wahltag selber in ein einheitliches Orange gefärbt waren – die Farbe der Freien Patriotischen Bewegung, deren Anhänger*innen in Scharen auf die Straßen zogen, um ihren General zu feiern – sehen die meisten Libanes*innen in der Wahl des Präsidenten bestenfalls keine nennenswerten Veränderung für ihr Leben. «Der Müll stapelt sich auf den Straßen und unsere Politiker diskutieren, wer Präsident werden soll, anstatt eine Lösung für dieses Problem zu finden», rechtfertigten viele Libanes*innen bereits vor der Wahl ihre Gleichgültigkeit.
Jenseits von Gleichgültigkeit hat die Wahl von Michel Aoun, dem 81-jährigen General, der nun endlich seinen Präsidententraum erfüllen konnte, bei den meisten jungen und politisch aktiven Libanes*innen vor allem eine Mischung aus Skepsis, Angst, Kapitulation, Verachtung und Galgenhumor hervorgerufen.
Skepsis und Angst, vor allem, weil neue politische Bündnisse und damit neue Machtverhältnisse in einem Land, dessen politisches Gleichgewicht quasi nur von diesen Bündnissen abhängt, immer auch eine Gefahr für die Zukunft des Landes und seines delikaten Equilibriums darstellen: «Dies könnte zu einem neuen Bürgerkrieg führen, die Pfründe werden neu verteilt, es gibt Verlierer und die werden sich mit dieser Niederlage nicht zufriedengeben», begründet ein junger Libanese seine Sorge um die Zukunft nach der Wahl.
Kapitulation und Verachtung kommen zum Einen deswegen auf, weil die Realisierbarkeit der Wahl an ein klares politisches Tauschgeschäft gebunden war. Verachtenswert ist für viele aber auch die Tatsache, dass mit Michel Aoun nicht nur ein politisches Chamäleon an die Macht gekommen ist, sondern auch, dass dieses Chamäleon wie der Großteil libanesischer Politiker eine brutale Vergangenheit im libanesischen Bürgerkrieg aufzuweisen hat, auf deren Aufarbeitung viele Libanes*innen bis heute warten. Und nicht zuletzt angesichts der chaotischen Zustände, in der die Wahl am 31. Oktober stattgefunden hat. «Während der syrischen Besatzung hat die Opposition die Namen der Ermordeten auf den Wahlzettel der Präsidentschaftswahl geschrieben. Heute schreiben unsere Politiker die Namen von Frauen darauf, um sich lustig zu machen. Zweifellos könnten diese Frauen mehr verwirklichen als diese Geistermänner, die keine klaren Positionen vertreten. Schande über euch und es lebe Myriam Klink!», kommentiert eine junge Libanesin auf Facebook die Wahl.
Wie so oft in ausweglosen Situationen, helfen sich auch die Libanes*innen mit Humor und Ironie, um ihrer Meinung über die Präsidentschaftswahl Ausdruck zu verleihen. Der libanesische Satiriker Karl Sharro witzelte zur Vergangenheit Aouns und seinem langen Wahlkampf sowie der Absurdität libanesischer Geschichte und Politik nach der Wahl auf Facebook:
«Michel Aoun ist jetzt der gewählte Präsident des Libanons nach einem Wahlkampf, der im Jahre 1988 anfing und zwei Kriege, Jahre des Exils und parlamentarischen Erfolg beinhaltete.»