Am 6. Mai 2018 finden in Tunesien erstmals Kommunalwahlen statt. Eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Nordafrika unterstützte Kartographie-Initiative schafft für Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich aktiv an der Diskussion um eine gerechte Verteilung von Grundgütern wie beispielsweise Wasser oder aber um das Recht auf eine gesunde Umwelt zu beteiligen und somit zu einer progressiven Stadtteilpolitik beizutragen.
Ivesa Lübben, Leiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis über das Projekt «Citizen Cartography».
«Der Staat garantiert das Recht auf Information und auf Zugang zu Information», heißt es im Artikel 32 der neuen tunesischen, post-revolutionären Verfassung. Aber immer noch klaffen Schluchten zwischen Verfassung und Alltagsrealität. Beispiel: Das Recht auf Wasser (Artikel 44) und auf eine gesunde Umwelt (Artikel 45). Zehntausende von Tunesier*innen müssen mehr als einen Kilometer zur nächsten Wasserquelle laufen. Leitungswasser ist oft ungenießbar und im Sommer wird immer wieder der Wasserhahn abgedreht. In Kasserine und Kairouane mussten zwischenzeitlich Schulen aufgrund von Hepatitis A geschlossen werden. Die Ursache war verseuchtes Leitungswasser.
Damit lokale Initiativen und soziale Bewegungen über Verteilung und Qualität des Wassers diskutieren können, brauchen sie Informationen, die die staatlichen Wasserwerke SONADE (Société nationale d’explotation et de distribution de l’eaux) verweigern. Das Projekt Citizen Cartography versucht diese Lücke zu schließen. Projektmitarbeiter*innen sammeln Daten. Unter Berufung auf die neue Verfassung bestehen sie gegenüber Behörden auf Auskunftsplicht.
Die Daten werden mit einer Open-Source-Software aufbereitet und in Form von Landkarten und Schaubildern präsentiert. Dadurch werden Korrelationen zwischen umweltschädlichen Industrien und Krankheiten sichtbar gemacht oder die ungleiche Einkommensverteilung zwischen der reichen Küstenregionen im Osten und dem marginalisierten Landesinneren sichtbar gemacht.
Das Projekt ist ein Work in-Progress. Lokale Initiativen können ihre eigenen Daten einspeisen. Zu diesem Zweck werden Workshops in verschiedenen Landesteilen organisiert. Es sind die lokalen Aktivist*innen, die die Themen vorgeben.
Ras Jebel ist eine Kleinstadt an der Nordküste Tunesiens. Früher emigrierten viele junge Menschen nach Frankreich, weil es keine Arbeit gab. Heute ziehen Leute aus dem Umland hierher, die in den Textilfabriken von Lee Cooper Jeans nähen.
Die Teilnehmer*innen an dem Kartographie-Seminar haben einen großen Stadtplan über einen Tisch ausgebreitet und vergleichen ihn mit älteren Satellitenbildern ihrer Stadt. Wo wohnen die Neuhinzugezogenen und die Alteingesessenen? Neue Stadtteile wurden wild und ungeplant auf Äcker gebaut. Warum bestehen keine Beziehungen zwischen den Alteingesessenen und den Neuhinzugezogenen, nicht mal unter den jungen Leuten? Trotz der neuen Textilfabriken finden die Alteingesessenen keine Arbeit, die ihren Qualifikationen entsprechen würde. Die Teilnehmer*innen versuchen ihre Fragen anhand statistischer Daten zu beantworten: Wie hoch sind die Löhne in den Textilfabriken? Wieviele Menschen arbeiten im informellen Sektor und wie sind diese sozial abgesichert? Wie hat sich der Arbeitsmarkt verändert? Wo ist das alte Kunsthandwerk geblieben? Es droht zu verschwinden, da sich die Produktion nicht mehr rentiert. Welche ökologischen Folgen haben die neuen Fabriken? Schwermetalle dringen ins Trinkwasser und den Boden. In Ras Jebel ist die Krebsrate höher als im Landesdurchschnitt. Die Quellen für die Umweltverschmutzung werden lokalisiert und in den Karten markiert. Daran entspinnen sich Diskussionen: Wie kann man gegen die Umweltverschmutzung vorgehen? Welche Umweltgesetze bräuchte man? Wären Kooperativen eine Lösung zur Rettung des traditionellen Kunsthandwerkes?
Etwa 500 km weiter südlich liegt Gabes. Schon Strabo beschrieb die Schönheit der Oase am Meer – die einzige ihrer Art – an der viele Zugvögel auf dem Weg von Europa ins südliche Afrika Rast machten. Gabes war mit seinen Palmenhainen und Obstgärten, in denen Granatäpfel, Aprikosen und Pfirsiche und Zitrusfrüchte wuchsen, «das Paradies auf Erden», sagen die Einheimischen.
Heute liegt in Gabes der permanente Geruch verfaulter Eier in der Luft. Seit Anfang der 1970er Jahre verarbeitet die staatliche GCT (Groupe Chimique Tunisienne) Phosphat zu Düngemittel. In den letzten Jahren haben sich andere Chemie-Fabriken niedergelassen. Die CGT lehnt jede Verantwortung für die Umweltschäden ab. «Wir sind mit einer Mauer des Schweigens konfrontiert», sagt einer der Teilnehmer*innen des Cartography-Seminars. Und eine andere fügt hinzu: «Sie fabrizieren nicht nur chemische Produktion und Umweltschäden, sondern auch Informationen und eine Pseudo-Zivilgesellschaft, die Falschinformationen verbreitet, z.B. über die Wassermengen die Industrie den Aquiferen entzieht oder über die Lagerung gefährlicher Substanzen, wie Kadmium.» Die Teilnehmer*innen des Workshops erstellen interaktive Landkarten, auf denen die Standorte der umweltschädigenden Produktionsanlagen eingezeichnet sind, und Schaubilder über die Produktionskreisläufe: Die Fabriken blasen Schwefelgase in die Luft. Auf den Feldern von Gabes haben Umweltschützer*innen Rückstände von Kadmium und Ätznatron nachgewiesen. Die Küsten sind durch radioaktivhaltigen Phosphorschlamm verunreinigt, der die einstmals reichen Fischbestände dezimiert hat.
Am 6. Mai 2018 finden in Tunesien erstmals Kommunalwahlen statt. Die Aktivist*innen des Kartographie-Projektes hoffen, dass viele progressive Kommunalräte und lokale Initiativen die Karten und Statistiken als Instrument partizipativer Kommunalpolitik für eine sozial gerechte Stadtentwicklung nutzen.
Wissen ist Voraussetzung für Partizipation. Wissen ist ein Grundrecht. Statistische Daten sind ein Gemeingut. Das ist die Botschaft des Projektes.
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