Interview | Parteien / Wahlanalysen - Rosalux International - UK / Irland «Wir sollten Kontroversen erzeugen, statt sie zu fürchten»

Oliver Eagleton im Gespräch mit James Schneider über den Aufbau einer britischen Linkspartei

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Jeremy Corbyn und Zarah Sultana (Mitte) während der Bahnstreiks an der Streikpostenkette vor dem Bahnhof London Euston, 18. August 2022.
Jeremy Corbyn und Zarah Sultana (Mitte) während der Bahnstreiks an der Streikpostenkette vor dem Bahnhof London Euston, 18. August 2022. Damals waren sie noch Mitglieder der Labour-Partei. Foto: picture alliance / empics | Stefan Rousseau

In den vergangenen Monaten haben verschiedene Gruppen der britischen Linken über die Gründung einer neuen landesweiten politischen Partei diskutiert. Umfragen deuten darauf hin, dass eine neue linke Partei mit 15 Prozent genauso viele Stimmen wie die regierende Labour-Partei erzielen könnte. Ende Juli kündigten die prominente sozialistische Unterhaus-Abgeordnete Zarah Sultana und der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn für diesen Herbst eine Gründungskonferenz an, auf der politische Leitlinien und Führungsmodelle einer neuen Linkspartei beschlossen werden sollen. Seitdem haben Hunderttausende ihr Interesse an einer solchen Formation bekundet.

Einer der Organisator*innen dieses Projekts ist James Schneider. Er war Mitbegründer der Kampagnenplattform «Momentum», die sich 2015 zum Ziel setzte, breite Unterstützung für Corbyns Führung der Labour-Partei zu schaffen; ein Jahr später übernahm er die strategische Kommunikationsleitung der Partei. 2022 hat Schneider mit Our Bloc: How We Win einen Entwurf für die Zukunft der britischen Linken veröffentlicht; aktuell arbeitet er als Kommunikationsdirektor für die Progressive International. Oliver Eagleton sprach mit ihm über zentrale Fragen beim Aufbau einer Partei.
 

Oliver Eagleton: Beginnen wir mit einer groben Einschätzung dessen, was eine neue linke Partei in der politischen Landschaft der 2020er Jahre erreichen könnte – insbesondere in einem Land wie Großbritannien. Hier dürfte sie mit einer Reihe von Hindernissen zu kämpfen haben, darunter der Einfluss der etablierten Medien, das undemokratische Westminster-System und die Zersplitterung der Kräfte links der Labour-Partei.

James Schneider war Berater des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Derzeit arbeitet er als Kommunikationsdirektor für die Progressive International.

James Schneider: Die Partei sollte sich verschiedene Formen des «politischen Aufbaus» zum Ziel setzen. Zunächst geht es um den Aufbau einer «Einheit von unten», also darum, Wählergruppen, die zusammengenommen derzeit eine soziologische Mehrheit bilden, für eine politische Mehrheit zu gewinnen. In Großbritannien sind dies die vermögensarme Arbeiterklasse, akademische Absteiger*innen und ethnische Minderheiten. Die meisten Debatten über Wählergruppen sind rein wahltaktisch geprägt: «Wie können wir ein paar Sitze mehr gewinnen?» usw. Doch es ist zweitrangig, ob man fünfzig, hundert oder zweihundert Abgeordnete im Parlament hat, wenn diese Mandate nicht Teil eines umfassenderen sozialen Projekts sind.

Ein weiterer Ansatzpunkt besteht darin, reale Macht von unten, also eine Art «Volksmacht», aufzubauen, indem strukturierte Organisationen geschaffen werden. Mittels solcher Organisationen können Menschen verschiedene Lebensbereiche demokratisch gestalten. Sie können Zugeständnisse von Kapital und Staat erkämpfen oder darüber hinausgehen, indem sie bestimmte Ressourcen der Warenlogik entziehen oder selbstverwaltete Räume schaffen. So können gemeinsam politische Entscheidungen getroffen und zugleich die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass diese Politik auch von oben umgesetzt wird. Traditionell wurde diese Rolle von der britischen Arbeiterbewegung und den Genossenschaften übernommen. In anderen Ländern gibt es vielfältigere Traditionen der Bildung von «Volksmacht», beispielsweise durch Mietervereinigungen, landwirtschaftliche Kollektive, Schuldnerverbände oder Landbesetzungen.

Das führt uns zum dritten Punkt, der Form des politischen Aufbaus einer populären Alternative. Die Verbindung der «Einheit von unten» mit realpolitischer «Macht von unten» zeigt, dass eine alternative Gesellschaftsorganisation möglich ist, während gleichzeitig ein mehrheitsfähiges Regierungsprogramm aufgebaut wird, das die Bedürfnisse der Menschen kurz- bis mittelfristig erfüllt. Verfolgen wir diese dreigleisige Strategie, werden wir die Entstehung eines neuen populären Protagonismus erleben, der die Kämpfe und den Einfluss in der gesamten Gesellschaft vorantreibt.

«Schützengräben der Volksmacht»

Ein Blick nach Kolumbien zeigt, wie das aussehen kann. Dieses Land war historisch gesehen einer der wichtigsten Vorposten des US-Imperialismus auf dem Kontinent und wurde von einer konservativen Kompradoren-Elite beherrscht. Dennoch befindet sich das Öl des Landes seit mehr als siebzig Jahren in öffentlicher Hand. Grund dafür war ein unbefristeter Streik der Ölarbeiter im Jahr 1948, der den Staat zur Gründung einer verstaatlichten Ölgesellschaft zwang. Der anhaltende Druck der Bevölkerung verhindert bis heute eine Privatisierung. In jüngerer Zeit, im Jahr 2010, wurde eine Institution namens «Volkskongress» gegründet, um unterschiedliche soziale Bewegungen und regionale Kämpfe zusammenzubringen: städtische, bäuerliche und indigene. Eine der Initiativen war die Einrichtung bäuerlich kontrollierter Nahrungsmittelproduktionsgebiete, die Kleinbauern und -bäuerinnen mit der armen Stadtbevölkerung verbanden. Schließlich zwang der Druck dieser Bewegung die Regierung, die sich ausweitenden Gebiete anzuerkennen und zu unterstützen. Die Akivist*innen bezeichnen diese Gebiete als «Schützengräben der Volksmacht». Diese Strategie, Politik von unten zu betreiben, war ein entscheidender Faktor für den Wahlsieg der ersten linken Regierung Kolumbiens im Jahr 2022 unter der Führung von Gustavo Petro.

Unsere Partei muss demnach ein Instrument zur Herstellung einer «Einheit von unten» sein, ein Katalysator für die breite Selbstorganisation der Bevölkerung und ein Werkzeug zur massenhaften Mobilisierung für eine gesellschaftliche Alternative. Unser langfristiges Ziel, das weit über die politischen Möglichkeiten für die 2020er Jahre hinausweist, sollte die Schaffung einer Gesellschaft sein, die die grundlegende Würde jedes Menschen anerkennt. Dieses Prinzip mag vielen selbstverständlich erscheinen, doch die Makrostrukturen unseres globalen Systems stehen ihm diametral entgegen. Die heutige Ordnung beruht auf einer Trias aus Kapital, Nation und Staat. An ihre Stelle muss ein anderes System treten, das auf drei ineinandergreifenden Logiken basiert: der sozialen, der internationalen und der demokratischen. Diese drei Logiken eröffnen neue Lebensformen jenseits von Ausbeutung, imperialer Abhängigkeit und Kontrolle von oben. Das bedeutet konkret, die Wirtschaft zu vergesellschaften, die Position Großbritanniens in der Kette imperialer Beziehungen und der globalen Arbeitsteilung neu zu bestimmen sowie den Staat zu demokratisieren. Ohne diese Transformationen gibt es keinen Weg in eine nachhaltige ökologische Zukunft. In diesem Land gab es bisher keine Bewegung, die versucht hätte, einen solchen Wandel mit einer Politik für die Massen zu erreichen. Keine der kleinen linken Gruppen hat diesen Anspruch verfolgt. Auch unter Jeremy Corbyns Führung der Labour-Partei wurde ein derartiges Ziel nicht formuliert. Notwendig ist daher eine breite Volkspartei, flankiert von einem Netz von Organisationen, die in jeder Hinsicht Macht aufbauen können: sozial, kulturell, politisch und industriell.

Können Sie näher erläutern, wie diese Strategie mit den praktischen Gegebenheiten der heutigen britischen Politik umgehen würde?

Die von mir beschriebenen sozialen Gruppen – vermögenslose Arbeiter*innen, akademische Absteiger*innen und ethnische Minderheiten – würden am meisten von einer Bewegung profitieren, die den gegenwärtigen Zustand der Dinge überwinden will. Selbstverständlich sollte eine linke Partei auch versuchen, über diese Gruppen hinaus Unterstützung zu gewinnen. Da es sowohl progressive Elemente außerhalb als auch reaktionäre Elemente innerhalb dieser Gruppen gibt, ist dieser Prozess nicht vorhersehbar oder linear. Dies sind jedoch die drei Hauptakteure, auf die sich eine «Einheit von unten» stützen kann. Das hängt zum einen mit der globalen Stellung Großbritanniens als entwickelter Wirtschaft im kapitalistischen Zentrum zusammen, und zum anderen mit spezifischen historischen Faktoren. Die von New Labour in den Bereichen Hochschulbildung, Wohnungsbau und Industrie durchgesetzte Politik schuf beispielsweise die Kategorie der akademischen Absteiger*innen (durchaus ironischerweise, da sich New Labour selbst teilweise aus einer Schicht beruflich aufstrebender Akademiker*innen speiste). Die Politik des Establishments – insbesondere der aktuellen Labour-Regierung – hat dazu geführt, dass die Interessen dieser Wählergruppen sich zunehmend überschneiden. Die etablierten Parteien haben dafür gesorgt, dass Menschen mit wenig Vermögen sowie jüngere Akademiker*innen gleichermaßen verarmen. Die Schuld dafür wird auf rassistisch diskriminierte Menschen abgewälzt, selbst wenn sie keiner dieser Gruppen angehören. Dadurch entsteht eine gemeinsame Erfahrung, die den Boden für einen Bruch mit der bestehenden Ordnung bereitet.

Der Niedergang des Gemeinschaftslebens

Das Potenzial ist also vorhanden. Was fehlt, sind die dafür notwendigen Kräfte. Mit Blick auf die reale Macht der Menschen, auf die «Volksmacht», beginnen wir auf einem sehr niedrigen Niveau. Das öffentliche Gemeinschaftsleben ist in Großbritannien, wie in weiten Teilen des Globalen Nordens, bis auf einen Rest ausgelöscht worden. Das Vereinsleben der Arbeiterklasse wurde zerschlagen; nicht nur die Gewerkschaften und Genossenschaften, sondern auch die Bibliotheken, Kneipen, Clubs, Bands und Sportmannschaften. Immer weniger Menschen erinnern sich noch an die frühere politische Kultur. Der stärkste Ausdruck politischer Macht ist die Arbeiterbewegung. In den letzten fünfzig Jahren hat sie vor allem Niederlagen erlitten, was naturgemäß eine defensive Haltung erzeugt. Wie können wir diese überwinden? 

Nun, die Macht des Volkes basiert immer auf Masse. Es gibt Gründe, warum die Fabrik als Ort linker Organisierung entscheidend war, und dasselbe gilt für das Arbeiterviertel als Ort, an dem Menschen natürlicherweise zusammenkommen. In Großbritannien schlägt sich dies aufgrund des Mehrheitswahlrechts direkt in der Wahlstrategie nieder [im Mehrheitswahlrecht werden nur jene Kandidat*innen gewählt, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten – d. Red.]. Ich bin kein Verfechter dieses Systems, aber wir müssen vorläufig damit umgehen. Das Mehrheitswahlrecht zwingt uns unter anderem dazu, unsere Politik mit Blick auf demographische Faktoren auszurichten, das heißt wir müssen unser Projekt dort verankern, wo diese drei gesellschaftlichen Gruppen die große Mehrheit bilden.

Ein Blick auf die Wahl im letzten Jahr verdeutlicht das: Fünf unabhängige Kandidat*innen links von der Labour-Partei errangen Sitze im Parlament. Dies war ein vergleichsweise kleiner, aber gleichwohl historischer Erfolg, denn seit dem Zweiten Weltkrieg sind bis dahin überhaupt nur drei unabhängige Kandidat*innen links von der Labour-Partei ins Unterhaus gewählt worden. In Islington North besiegte Corbyn seinen Labour-Herausforderer mit einem überwältigenden Vorsprung. Das war ein einzigartiger Wahlsieg, denn Corbyn ist ein landesweit bekannter Kandidat, allerdings mit weitreichenden Implikationen. Denn seine Kampagne mobilisierte die letzten verbliebenen sozialen Einflüsse, gerade weil die Menschen diese als Ausdruck ihres eigenen gesellschaftlichen Lebens verstanden. Jede Gartengruppe, jede Kirche, jede Moschee und jede Gewerkschaftsgruppe in der Gegend erkannte, dass Corbyn sie politisch vertrat. Deshalb stimmten sie für ihn – weitgehend unabhängig davon, was sie über einzelne politische Positionen dachten.

Auch die vier anderen Unabhängigen haben vor allem aufgrund ihres realen sozialen Einflusses in ihren Gemeinden gewonnen, der zum Großteil in den Moscheen verwurzelt ist – wenngleich selbstverständlich auch viele Nicht-Muslim*innen und nicht praktizierende Muslim*innen sie unterstützten. Menschen besuchen ihre Moschee jede Woche. Die Moscheen sind ein Ort der Gemeinschaft, der Fürsorge und der moralischen Orientierung. Und obwohl diese unabhängigen Kandidat*innen die ersten gewesen wären, die zugegeben hätten, dass sie politisch unerfahren waren – dass sie über keine ausgefeilten Kampagnen, keine hochmoderne Kommunikation und kein umfassendes politisches Programm verfügten –, wurden sie dennoch, aufgrund der Identifikation mit diesem Machtzentrum der Gemeinde, zum Sieg getragen. Ihre klare Haltung gegenüber dem Völkermord in Gaza und anderen Themen verstärkte diesen Effekt. Deshalb reagierte das Establishment mit solchem Entsetzen. Dabei ging es nicht nur um Islamophobie, sondern auch um die erschreckende Erkenntnis, dass Strukturen, die eigentlich dazu dienen, diese Kräfte zu neutralisieren, von unten durchbrochen werden können.

Wenn Ihr Ziel darin besteht, eine Art verbindliches Bindeglied zwischen einer politischen Partei und breiteren Formen des Vereinslebens zu schaffen, dann müssen wir vielleicht zwischen Bewegungen und Institutionen unterscheiden. Erstere können flüchtig und formlos bleiben und es möglicherweise nicht schaffen, dauerhafte Formen einer Macht von unten, einer «Volksmacht», zu etablieren, wenn keine Institution vorhanden ist. Geht es um Themen wie den Völkermord im Gazastreifen, können Bewegungen Menschen als politische Subjekte aktivieren, während Institutionen diese Politisierung in politische Macht übersetzen und Parteien sich diese Macht zunutze machen, um den Staat zu prägen oder zu übernehmen. Das bringt mich zu meiner Frage: Wenn die institutionelle Kultur der britischen Arbeiterklasse im vergangenen halben Jahrhundert weitgehend zerstört wurde und nur noch isolierte Enklaven übriggeblieben sind, fehlt uns dann nicht ein entscheidendes Glied in dieser Abfolge? Wie sollte eine neue linke Partei dieses Problem angehen?

Wir müssen mehr Institutionen aufbauen. Das ist für mich die wichtigste strategische Aufgabe der Partei, die jedoch zugleich am ehesten übersehen wird. Wir müssen nicht nur die bestehenden Ausdrucksformen der Macht von unten stärken, sondern auch neue schaffen. Im Vereinigten Königreich gibt es 8,6 Millionen Mieterhaushalte. Die Zahl der Mitglieder von Mietervereinigungen beträgt jedoch nur etwa 20.000, und bei der letzten Wahl haben lediglich 38 Prozent der Mieter*innen ihre Stimme abgegeben. Wenn wir mit Corbyns Labour-Partei von Tür zu Tür gegangen und Mieter*innen organisiert hätten – wie viele starke Persönlichkeiten gäbe es dann heute in der Mieterorganisierung? Wie hätte sich dadurch das Bewusstsein der Labour-Linken verändert – weg vom Abfeiern einer parlamentarischen Partei auf Twitter und hin zum Aufbau eigener, starker Institutionen? 

Bande der Solidarität und der Gemeinsamkeit

Man könnte die gleichen Fragen auch zu einer Reihe anderer Themen stellen. Bei 600.000 Labour-Mitgliedern, von denen 450.000 der Linken angehören, hätten wir beschließen können, dass die politische Priorität darin liegt, sich rund um bestimmte Themen zu organisieren. Hätten wir auch nur zehn Prozent dieser Mitglieder mobilisiert, wäre es möglich gewesen, neue basisdemokratische Organisationen aufzubauen wie beispielsweise Lebensmittelkooperativen. Wir hätten Kampagnen für einen Klimastreik aufbauen oder versuchen können, Versorgungsunternehmen durch Massenboykotte in öffentliches Eigentum zu überführen. Es mangelt nicht an Möglichkeiten, aber es steht mir nicht zu, festzulegen, welche davon in den kommenden Jahren Priorität haben sollten. Solche Entscheidungen müssen demokratisch innerhalb einer nationalen politischen Partei getroffen werden.

Wenn die neue Partei ihre Energie damit vergeudet, eine perfekte Sozialpolitik für eine imaginäre, links-technokratische Zukunft auszuarbeiten, in der wir die Regierung stellen, wird sie nirgendwo hinkommen. Wenn sie sich lediglich als eine Art Labour-Partei 2.0 versteht, mit einem besseren politischen Programm als dem gegenwärtigen, aber ohne Möglichkeiten echter Beteiligung der Bevölkerung, wird sie von Gegenkräften zerschlagen werden. Während der Corbyn-Ära waren wir in einer Situation gefangen, in der die Labour-Mitglieder häufig darauf warteten, dass eine Handvoll Personen an der Spitze Entscheidungen trafen, anstatt selbst zu handeln und Führungsverantwortung zu übernehmen. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. 

Man sollte sich vor Augen führen, wie lebendig politische Zusammenkünfte jenseits der Grenzen von Europa und Nordamerika ablaufen können. Sie sind partizipativ, dynamisch und fest in der Populärkultur verwurzelt – mit Musik, Essen und sogar Tanz. Die Menschen kommen, weil sie dazugehören wollen. Es gibt viele verschiedene Formen der Beteiligung. Das liegt daran, dass ihr Ziel darin besteht, Bande der Solidarität und der Gemeinsamkeit zu stärken, damit die Menschen hinausgehen und sich am Aufbau der Macht von unten, der «Volksmacht», beteiligen.

Wir sollten Kontroversen erzeugen, statt sie zu fürchten.

Wie sollte die neue Partei, die Sie sich vorstellen, eine solche, nicht traditionell britische politische Kultur schaffen?

Dem heutigen britischen Establishment fehlt es an einer Geschichte, die es erzählen kann: Es behauptet, dass im Grunde alles in Ordnung sei und man über seine Probleme den Mund halten solle. Der reaktionäre Block hingegen stellt alles infrage: Man bekommt keinen Termin beim staatlichen Gesundheitsdienst (NHS), Wohnraum ist unerschwinglich, die Löhne sind gesunken – und die Schuld dafür tragen angeblich Muslim*innen, Migrant*innen und Minderheiten. Wenn dies die einzigen beiden verfügbaren Narrative sind, dann wird sich vermutlich letzteres durchsetzen, da es zumindest einige bestehende Missstände anspricht.

Die Wahrheit ist jedoch, dass der Angriff auf Minderheiten selbst eine Minderheitenposition darstellt. In Großbritannien mag es eine bestimmte Art von allgegenwärtigem Rassismus geben, doch die meisten Menschen denken nicht ständig darüber nach, wie sehr sie Ausländer*innen hassen. Es gibt also eine klare Chance für ein anderes Narrativ. Was wir anbieten sollten, ist «Klassenkampf mit einem Lächeln». Wir sollten alle Schönfärbereien der politisch-medialen Klasse zurückweisen, denn sie wird von der Öffentlichkeit zu Recht verachtet. Wir sollten Kontroversen erzeugen, statt sie zu fürchten. Dieser kommunikative Stil wird oft als linker Populismus bezeichnet. Es geht aber darum, eine klare Konfliktlinie zu ziehen: Wir stehen geschlossen, während unsere Gegner*innen auf der anderen Seite gespalten sind. Die Linie ist eindeutig: Banker*innen und Milliardär*innen sind die Ursache unserer Probleme. Sie führen einen Krieg gegen uns, also ziehen wir in den Krieg gegen sie. Wir sollten versuchen, das Medien-Establishment mit einem kämpferischen, aber zugleich heiteren Politikstil zu verblüffen und zu empören. Wir sollten Versammlungen veranstalten, wie ich sie zuvor beschrieben habe: mit Musik, Essen und Diskussionsrunden. Die Leute sollten mit konkreten Handlungsmöglichkeiten nach Hause gehen, die sie direkt umsetzen können. Das bedeutet natürlich auch, dass die Partei vor allem außerhalb von Westminster präsent sein muss. Sie darf nicht mit Typen in Anzügen assoziiert werden, die ihre Zeit damit verbringen, unaufrichtig in die Kameras zu murmeln.

Mein Traum ist eine Partei, die die gleiche Wirkung hat wie «Turn the Page», der erste Song auf dem Debütalbum «Original Pirate Material» von The Streets. Etwas, das man so noch nie gehört hat, aber sofort wiedererkennt: unverkennbar britisch, verwurzelt im Alltag – aus den Pubs auf die Straßen. Ein Sound, oder in unserem Fall: eine Politik, die Kulturen und Traditionen mühelos miteinander verbindet, die in Klasse und Gemeinschaft verankert ist, aber mit Selbstbewusstsein und Stil in die Zukunft blickt. Wir müssen diese Art des «national-popularen» Diskurses neu beleben. Theoretisch gesprochen, beruht die Wirksamkeit einer solchen Politik darauf, dass sie das progressive Potenzial der «nationalen» Dimension im Dreiklang von Kapital, Nation und Staat freisetzt. Vor einigen Wochen erschien auf Sidecar ein kurzer, anregender Artikel von Dylan Riley mit dem Titel «Lenin in America». Darin argumentiert er in Anlehnung an Gramsci, dass Lenin heute eine «produktive und kreative Beziehung zu der konkreten national-demokratischen revolutionären politischen Kultur, in der man sich bewegt», anstreben würde. Genau in diese Richtung muss die britische Linke denken.

Die Bedeutung der «Macht von unten»

Sie haben Kolumbien als Vorbild genannt. Doch lassen Sie uns einen Moment über die historischen und kontextuellen Unterschiede nachdenken. Dort gab es einen Staat, der von den beiden großen Parteien, den Liberalen und den Konservativen, dominiert wurde. Diese haben jahrzehntelang mit den USA zusammengearbeitet, um das Land in einem Zustand peripherer Abhängigkeit zu halten und die Bevölkerung von der Macht auszuschließen. Dadurch waren viele soziale Schichten weitgehend von Prozessen wirtschaftlicher Akkumulation und politischer Teilhabe ausgeschlossen. Dies trug zur Entstehung bestimmter autonomer Kampftraditionen bei: etwa Guerillabewegungen, die weite Teile des Landes kontrollierten, Kampagnen gegen den Rohstoffabbau oder Gruppen, die indigene Territorien verteidigten. Präsident Gustavo Petro gelang es, viele dieser Kräfte in seinem Wahlprojekt zu vereinen und die Außenseiter*innen – die «Niemande», wie sie liebevoll genannt wurden – ins Zentrum der Politik zu holen. 

In Großbritannien hingegen ist das langjährige Problem weniger die Ausgrenzung der Bevölkerung als vielmehr ihre Assimilation. Die Labour-Partei war traditionell ein Instrument, um die Arbeiterklasse in den Staat zu integrieren und sie mit dem Imperialismus zu versöhnen. Das Ergebnis ist, dass unsere Kultur des politischen Kampfes weniger aktiv ist, unsere Versammlungen langweiliger sind und die organische Basis für diese Art von Massenpolitik viel schwächer ist.

Die Corbyn-Führung hat diese Bedingungen nüchtern eingeschätzt. Ihr Ziel war es nicht, «die Basis» zu stärken und zu hoffen, dass sie die Bewegung zum Sieg tragen werde. Vielmehr ging es darum, eine politische Krisensituation zu nutzen, die Staatsmacht zu ergreifen und ein Programm nicht-reformistischer Reformen umzusetzen. Ein solches Programm sollte wiederum breitere Bevölkerungsschichten mobilisieren, indem es Arbeiter*innen, Mieter*innen, Migrant*innen usw. stärkt. Dieser Ansatz, bei dem die Politik von oben der Politik von unten vorausgeht, war nicht einfach ein strategischer Fehler. Er spiegelte vielmehr die spezifische historische Situation und die damit verbundenen politischen Möglichkeiten wider. Man könnte argumentieren, dass genau diese Bedingungen auch die Entwicklung des Plans für eine neue linke Partei geprägt haben: Auch hier war es eine relativ kleine Gruppe politischer Akteur*innen, die – nicht zu Unrecht – darauf setzt, über Wahlerfolge breitere gesellschaftliche Kämpfe anzustoßen.

Ihre Analyse ist im Wesentlichen richtig und hilft zu verstehen, warum das vorherrschende Bewusstsein der britischen Linken stark auf Wahlen fixiert ist. Ich bin nicht gegen Wahlerfolge oder Regierungsbeteiligung. Ich halte das für unerlässlich. Aber es gibt zwei Gründe, warum dies von Anfang an mit den anderen Prozessen des politischen Aufbaus kombiniert werden kann und muss. Erstens war die Eingliederung der britischen Arbeiterklasse – sowohl durch die Labour-Partei als auch durch die Gewerkschaften während der korporatistischen Phase – nie vollständig: Es gab immer Volksaufstände und Orte des Widerstands. Es gibt also radikale Traditionen, auf die wir uns stützen können.

Zweitens erleben wir heute das Auslaufen einer jahrzehntelangen kapitalistischen Offensive, die genau darauf abzielte, diesen Widerstand zu brechen. Dies wurde teilweise durch Assimilation erreicht, vor allem aber durch brutale Gewalt: durch die gewaltsame Ausgrenzung der Massen im Globalen Norden und Süden. Britischen Bergarbeiter*innen wurden die Schädel eingeschlagen, argentinische Linke aus Hubschraubern ins Meer geworfen. Heute erleben wir, wie diese Offensive ins Stocken gerät, nicht weil äußere Kräfte sie besiegt hätten, sondern aufgrund ihrer eigenen inneren Grenzen: der Unfähigkeit der USA, die souveräne Entwicklung Chinas einzudämmen, insbesondere nach 2008; und der zunehmende Druck auf die Ressourcen, während die ökologische Krise an Fahrt gewinnt. Dies eröffnet eine wichtige Chance für eine linke Partei.

In diesem Kontext können wir aber nicht einfach den «Corbynismus» wiederholen. Wir stehen nicht an der Spitze einer Regierungspartei und haben auch keine Chance, diese Rolle in absehbarer Zukunft zu übernehmen. Daher ist eine rein wahltaktische Strategie, die ohnehin bereits gescheitert ist, heute noch weniger realistisch. Die Zahl derjenigen, die sich zwischen 2015 und 2019 überhaupt der von Ihnen beschriebenen Strategie bewusst waren, ist ebenfalls äußerst begrenzt. Nur eine Handvoll Mitglieder des Schattenkabinetts und hochrangige Berater*innen hätten es so formuliert. Die Logik des parlamentarischen Sozialismus blieb weitgehend intakt. Ich denke, wir brauchen einen grundlegenden Wandel unserer strategischen Vision, um einen Konsens innerhalb der Linken zu schaffen, der die Bedeutung der Macht von unten anerkennt.

Wenn Sie ein negatives Beispiel suchen, können Sie sich die Grünen ansehen, deren Ansatz darin besteht, Kandidat*innen in öffentliche Ämter wählen zu lassen, um sich dort für progressive Politik einzusetzen. Nach ihren eigenen Maßstäben waren sie recht erfolgreich: Sie stellten einen Abgeordneten zwischen 2019 und 2024, seitdem vier weitere sowie zahlreiche Kommunalpolitiker*innen. Aber welchen Einfluss hatten sie auf das gesellschaftliche Bewusstsein? Praktisch keinen. Extinction Rebellion oder Fridays for Future haben einen ungleich stärkeren Einfluss auf die Massenpolitik im Umweltbereich. Der rechnerische Ansatz der Grünen – je mehr gewählte Vertreter*innen, desto besser – ist zweihundert Jahre alt und stammt aus der Zeit der liberalen Revolutionen, als politische Debatten in neu gegründeten Parlamenten und Versammlungen stattfanden, in denen Zahlen tatsächlich Macht bedeuteten. Für die 2020er Jahre ist er jedoch völlig ungeeignet. Der lautstärkste Sprecher der Partei ist nicht einmal Abgeordneter. Dennoch hören wir immer wieder Behauptungen wie «Gemeinsam mit den Grünen könnte eine linke Partei das Machtgleichgewicht in Westminster halten». Das ist derselbe selbstbetrügerische Unsinn, den einige in der Socialist Campaign Group seit Jahren verbreiten: «Wenn wir nur in der Labour-Partei bleiben und den Kopf einziehen, können wir vielleicht das machtpolitische Gleichgewicht aufrechterhalten.» Hat das jemals funktioniert?

Es handelt sich um ein liberales Volksfrontmodell, das die Linke implizit dazu verpflichtet, eine Labour-Regierung zu stützen. Dies kommt jedoch einem moralischen wie politischen Selbstmord gleich. Doch bleiben wir einen Moment bei den Lehren aus dem Corbynismus: Die meisten Menschen haben erkannt, dass das Fehlen einer starken sozialen Basis einer der Hauptgründe für seine Niederlage war. Denn mit einer solchen Basis wäre es leichter gewesen, sich gegen die Verleumdungskampagnen und die politische Sabotage zu wehren, denen das Projekt ausgesetzt war. Nach 2019 machten sich viele dieser Menschen daran, «die Basis aufzubauen» – losgelöst von jeglicher größeren nationalen Infrastruktur. Dies führte zu einer Reihe unterschiedlicher Initiativen: Hier wurde eine Gemeindegewerkschaft gegründet, dort eine Gruppe für direkte Aktionen. Doch sie wurden von der damaligen Regierung größtenteils ignoriert oder unterdrückt.

Mittlerweile ist allgemein anerkannt, dass eine Synthese von Wahlkampforganisation und Basisarbeit notwendig ist, ganz wie Sie sagen. Aber es gibt noch keinen Konsens darüber, wie diese aussehen soll. Es wurde viel darüber diskutiert, ob diese neue Organisation von Anfang an eine Partei sein oder zunächst als Wahlbündnis starten solle. Befürworter*innen der zweiten Option argumentieren, dass die zersplitterte Situation der britischen Linken und des britischen zivilgesellschaftlichen Lebens insgesamt eine koalitionsartige Struktur erfordert, die lokale Kämpfe einbezieht und lokale Führungspersönlichkeiten unterstützt, auch wenn diese sich nicht explizit mit «der Linken» identifizieren, solange sie unsere Politik im Großen und Ganzen teilen. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass eine lose Koalition die Zersplitterung der Linken institutionalisiert, anstatt sie zu überwinden. Wie positionieren Sie sich in dieser Frage?

Ich bin mit keiner der beiden Positionen einverstanden, zumindest nicht in ihrer extremen Form. Bei der einen besteht die Gefahr, dass wir einen aufgewärmten Labourismus mit besserer Politik, aber einer ähnlichen Parteiform bekommen, dessen oberste Priorität darin besteht, Kandidat*innen für Kommunalwahlen zu stellen. Bei der anderen droht, dass wir am Ende einen losen Zusammenschluss von Unabhängigen haben, der keine Regierungsvision für echte Veränderungen bietet. Keine dieser beiden Optionen kann echte gesellschaftliche Macht aufbauen.

In meinem nach der Niederlage von 2019 geschriebenen Buch habe ich mich für einen Zusammenschluss bestehender Bewegungen, strukturierter Organisationen und linker Kräfte ausgesprochen. Dieser Zusammenschluss könnte ein Grundstein für ein ehrgeizigeres Projekt sein. Auch heute ist es noch denkbar, dass eine föderale Organisation diese Rolle übernimmt und die Grundlagen für die zuvor beschriebenen politischen Strukturen legt. Allerdings bräuchte man dafür nach wie vor eine gemeinsame Entscheidungsstruktur, um eine größere Organisation aufbauen zu können, sei sie föderal, konföderativ oder zentralistisch. Die Entscheidung für eine Koalition anstelle einer Partei würde nichts daran ändern, dass die Menschen sich zunächst zusammenfinden und auf die Grundzüge einigen müssen, was bislang nicht gelungen ist. Es gibt jedoch keinen Grund, warum eine Partei nicht unterschiedliche Positionen, verschiedene Tendenzen und einen internen Pluralismus respektieren könnte. Bestehende lokale politische Instanzen sollten mit einem hohen Grad an Autonomie weiterbestehen können, sofern dies gewünscht ist. Dies sind zweitrangige Fragen, die sich klären lassen, sobald wir die richtigen Entscheidungsstrukturen eingerichtet haben.

Der Weg nach vorn

Mein bevorzugtes Modell wäre eine Organisationsform, in der wir die Strategie den Mitgliedern und die Taktik der Führungsebene anvertrauen. Wichtige strategische Fragen – wie die Priorisierung einer bestimmten Art des Aufbaus sozialer Macht, die Verteilung der Ressourcen auf die Aktivist*innen im ganzen Land, das Angebot politischer Bildung und Skillsharing sowie die Ausgestaltung des politischen Programms – würden gemeinsam entschieden werden. Die Taktik, also die konkrete Umsetzung dieser strategischen Ziele, könnte dann weitgehend von den Aktiven beziehungsweise Politiker*innen an der Basis festgelegt werden. 

Damit ein solches Modell funktioniert, bräuchte es ein kollektives Führungssystem. Das könnte etwa folgendermaßen aussehen: Eine Führungsgruppe von zwölf oder fünfzehn Personen würde mit einem Strategieentwurf und vielleicht auch einem politischen Programm antreten, die sie den Mitgliedern vorlegen, welche dann mit übertragbaren Einzelstimmen für ihre bevorzugte Strategie und die damit verbundenen Kandidat*innen stimmen. Daraus würde ein nationaler Ausschuss hervorgehen, der sich aus Führungskräften unterschiedlicher Gruppierungen zusammensetzt; dieser Ausschuss würde dann verschiedene Vorschläge zusammenfassen und der Mitgliederversammlung vorlegen, die diese annehmen, modifizieren oder ablehnen kann. Der Ausschuss würde auch Personen für verschiedene landesweite Ämter wählen: unsere*n Hauptsprecher*in, eine*n leitende*n Organizer*in, eine Kontaktperson zu progressiven Bewegungen, eine*n Geschäftsführer*in der Partei usw. Auf diese Weise gäbe es weiterhin erkennbare Führungspositionen, die jedoch nicht nur nach Popularität vergeben würden. Stattdessen würde eine Schicht von Führungskräften entstehen, die sowohl in der Lage ist, agile, taktische Entscheidungen zu treffen, als auch ein aktives Engagement der Basis zu fördern, indem sie die Strategie zu einer gemeinsamen Aufgabe macht.

Wäre eine linke Partei bereits früher gegründet worden, hätte sie eine Reihe politischer Chancen nutzen können. Auf Ebene der Führungsriegen hätte sie Keir Starmers Entscheidung vom vergangenen Juli, sieben Abgeordnete, darunter Sultana, aus der Parlamentsfraktion auszuschließen, offensiv nutzen und womöglich weitere Abgeordnete dazu bewegen können, das sinkende Schiff zu verlassen. An der Basis hätte sie eine gemeinsame Antwort der Linken auf die von Starmer und Nigel Farage angeheizte Welle rassistischer Gewalt organisieren können. Warum hat es Ihrer Meinung nach so lange gedauert, bis das Projekt an die Öffentlichkeit getreten ist?

Ich arbeite nun schon seit etwa einem Jahr daran und sehe mehrere strukturelle Faktoren, die eine Gründung erschweren, und zwar nicht nur für die spezifische Form einer linken Partei, für die ich mich einsetze, sondern für jede Form einer linken Partei. Wie ich bereits gesagt habe, läuft alles letztlich auf die Frage der Entscheidungsfindung hinaus. Welche Entscheidungen sind legitim? Wer kann sie treffen und wer kann sie umsetzen? Es ist ein klassisches Henne-Ei-Problem: Man kann keine Entscheidungen treffen, solange man keine Struktur hat, aber um eine Struktur zu haben, muss man Entscheidungen treffen. 

In anderen vergleichbaren Situationen wird dieses Problem auf eine von drei Arten umgangen. Die erste Möglichkeit ist das Auftreten einer überragenden Führungspersönlichkeit. Jean-Luc Mélenchon hat verkündet: «Die Parti de Gauche funktioniert nicht, ich gründe La France insoumise» – und schon war sie da. Die Menschen folgen ihm. In Großbritannien gibt es keine solche Persönlichkeit. Zwar haben wir mit Jeremy eine Art überragende Führungspersönlichkeit, eine Person, deren moralische und politische Autorität alle anderen überragt, aber er handelt nicht entsprechend. Das entspricht nicht seinem Stil.

Die zweite Möglichkeit liegt darin, eine bereits bestehende, strukturierte Organisation mit klaren Entscheidungsstrukturen zu nutzen, etwa eine Gewerkschaft oder eine politische Kampagne. In Südafrika hat die Bewegung Abahlali baseMjondolo, deren Mitglieder in informellen Hüttensiedlungen leben, 180.000 Mitglieder in 102 Siedlungen. Sie führt in vier Provinzen Landbesetzungen durch. Als ich letztes Jahr die Wahlen in Südafrika beobachtete, habe ich an ihrer Generalversammlung teilgenommen und wurde Zeuge der Diskussionen über den Aufbau einer eigenen Wahlplattform. Sie können ihre bestehenden demokratischen Mechanismen nutzen, um Entscheidungen zu treffen, anzufechten und zu kippen, und das im Rahmen eines offenen Prozesses, bei dem jeder weiß, wo er steht. Auch das fehlt in Großbritannien.

Die dritte Möglichkeit wäre eine kleine Gruppe politisch erfahrener Menschen, die eng verbunden sind und gemeinsam Entscheidungen treffen. In der Geschichte gab es viele kommunistische Parteien, die von einem Dutzend Personen gegründet wurden. Diese setzten sich an einen Tisch – und innerhalb kurzer Zeit entstanden daraus Massenbewegungen. Bei uns finden die Diskussionen jedoch zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Prioritäten statt. Ihnen fehlt diese kollektive Sichtweise.

Infolge dieser drei strukturellen Faktoren kommt ein weiterer, sehr wichtiger Faktor hinzu. Dieser ist sogar der entscheidende Faktor, obwohl er den anderen nachgelagert ist. Es handelt sich um die Frage der Persönlichkeiten. In Zeiten kollektiver Überforderung wie den heutigen rücken individuelle Probleme in den Vordergrund. Unter Bedingungen allgemeiner Lähmung wiegen sie noch schwerer. Glücklicherweise sieht es nun so aus, als würden Fortschritte erzielt. Trotz all dieser Hindernisse entsteht eine neue Partei, denn sowohl die politische Notwendigkeit als auch der Druck von außen sind überwältigend. Man kann keine neue Partei aufbauen, wenn man in den Umfragen bereits mit der Regierungspartei gleichauf liegt. Sie wird auf andere Weise entstehen.

Welche Pläne gibt es für den offiziellen Start, nachdem Corbyn und Sultana die Konferenz angekündigt haben?

Leider wurde die Partei bereits gegründet, obwohl es sie noch gar nicht gibt. Wir wurden um eine sorgfältig geplante Gründung gebracht, aber damit können wir leben. Was wir jetzt tun müssen, ist, den unvorhersehbaren menschlichen Faktor zu minimieren, indem wir eine andere Art von souveräner Autorität schaffen: ein Gremium, das die Macht besitzt, den Prozess voranzutreiben. In der Praxis übernimmt die demokratische Konferenz diese Rolle. Sie kann für die Einrichtung eines Ausschusses verantwortlich sein, dessen Entscheidungen dann echte Legitimität haben. Jedes Mitglied der Partei sollte das uneingeschränkte Recht auf Teilnahme haben. Die Konferenz muss alle zusammenbringen und hybride Möglichkeiten sowie vollständig online durchgeführte Abstimmungen ermöglichen. Es könnte eine kollektive Führungsgruppe gewählt und damit betraut werden, die Organisation im Laufe des nächsten Jahres aufzubauen. Auf dieser Grundlage könnten wir dann Strukturen und Formen entwickeln, die wichtigere Entscheidungen ermöglichen. Nichts davon wäre perfekt. Tatsächlich handelt es sich um eine suboptimale Lösung, da das Auto im Grunde genommen während der Fahrt gebaut wird. Dabei könnten alle möglichen Fehler gemacht werden, die sich dann später auswirken dürften. Aber es würde zumindest den Prozess beschleunigen. In einem von Hoffnungslosigkeit geprägten politischen Klima wäre es eine äußerst wichtige Hoffnungsquelle.

 
Bei dem Text handelt sich um die deutsche Erstveröffentlichung eines Interviews, das zuerst von der «New Left Review» unter dem Titel «Building the Party» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung von Camilla Elle und Claire Schmartz für Gegensatz Translation Collective.