News | Mexiko / Mittelamerika / Kuba «Die Angst hat sich in Hass verwandelt»

Die costa-ricanische Abgeordnete Rocío Alfaro Molina über den Rechtsruck in ihrem Land

Rocío Alfaro Molina ist Abgeordnete im Parlament von Costa Rica. Sie vertritt das linke Parteienbündnis Frente Amplio.  Lucia Fernández/Katherine Rodríguez

Costa Rica wurde aufgrund seiner politischen Stabilität und seines relativen Wohlstands lange Zeit eine Ausnahmerolle in Lateinamerika zugeschrieben. Mit Blick auf die politische Rechtsentwicklung zeigen sich jedoch auch in dem mittelamerikanischen Land Parallelen zum Rest der Region. Auf der “Good Night Far Right”-Konferenz im März 2025 in Berlin sprachen wir mit der linken Abgeordneten Rocío Alfaro Molina (Frente Amplio) über die gesellschaftlichen Hintergründe des Rechtsrucks und wie die costa-ricanische Linke darauf reagiert.

Autoritäre und rechte Bewegungen sind gegenwärtig weltweit auf dem Vormarsch. Welche Beobachtungen machen Sie diesbezüglich in Lateinamerika? Gibt es lokale Besonderheiten innerhalb des globalen Rechtsrucks?

Mir scheint, dass sich in Lateinamerika ein Modell entwickelt hat, das sich vom klassischen Neoliberalismus zu einem autoritären Neoliberalismus gewandelt hat, der tendenziell faschistoide Züge annimmt. Es handelt sich um ein Modell, das sich ausbreitet und das zunächst in einigen Ländern experimentell erprobt wurde - zum Beispiel in Brasilien unter Bolsonaro oder auch in El Salvador unter Bukele. Und auch innerhalb dieses autoritären Neoliberalismus können wir eine Radikalisierung beobachten.
Einen großen Einfluss übt dabei natürlich Javier Milei mit seiner aggressiven Politik der Entstaatlichung und der Abschaffung von Programmen der öffentlichen Daseinsvorsorge oder zur Förderung von benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Argentinien aus. Aber auch Donald Trump und seine unilateral durchgesetzte Handelspolitik und sein Politikstil, dem es allem voran um die Ausübung reiner und harter Macht geht, wird hier seine Nachahmer finden. Diese Politik ist inzwischen richtungsweisend für viele Regierungen, die früher lediglich neoliberale Regierungen waren.

Können Sie derartige Entwicklungen auch in Costa Rica beobachten?

Hierzulande war das politische Klima über Jahre von einer Politik geprägt, die man alles in allem als ‚gemäßigte Mitte-rechts-Politik‘ bezeichnen könnte: eine moderate Rechte, die Arbeitsrechte und Menschenrechte respektierte und nach und nach auch Fortschritte bei Frauenrechten sowie beim Schutz von Migrant*innen und ethnischen Minderheiten machte. Das war lange unser Markenzeichen: ein Land ohne Armee, das die Mittel, die andere Länder ins Militär stecken, in Bildung investiert.
Es war ein lebenswertes Land – mit Armut, ja, aber in einem deutlich geringeren Ausmaß als im regionalen Vergleich. Doch in jüngster Zeit erleben wir eine wachsende soziale und damit auch politische Polarisierung. Warum? Weil die Mittelschichten zunehmend verschwinden. Reichtum, Zugang zu Technologie – all das konzentriert sich in einem Ausmaß in den Händen weniger wie nie zuvor. Währenddessen verarmt ein immer größerer Teil der Bevölkerung, wird verletzlicher. Viele Berufstätige erreichen nicht mehr den Lebensstandard, der ihnen einst mit ihrer Ausbildung versprochen wurde. Viele hoch qualifizierte Leute verlassen derzeit das Land. 

Auch im Parlament zeigt sich diese Spaltung deutlich. Es herrscht eine starke Polarisierung. Man könnte das auch hoffnungsvoll und optimistisch sehen, weil die Linke stärker wird. Aber auch die Rechte radikalisiert sich und wird stärker. Bei der vergangenen Wahl 2022 konnten – mit Ausnahme unserer Partei - allein die rechtsgerichteten Parteien einen Zuwachs verzeichnen. Und mit dem Wahlsieg des amtierenden Präsidenten Rodrigo Chaves sehen wir, dass sich auch hierzulande die Bedingungen herausgebildet haben, die es einer Figur mit autoritären Zügen ermöglicht haben, an die Macht zu kommen.  Er verkörpert eine Rechte, die in Wirklichkeit gar keine richtige Partei ist. Es handelt sich eher um eine lose Kraft, die sich die Namen verschiedener Parteien ‚ausleiht‘, je nachdem, wie es gerade opportun ist. Hinter dieser Konstruktion stehen in Wahrheit große Kapitalinteressen und auch Netzwerke des organisierten Verbrechens.

Woher kam dieser abrupte Wandel?

Wenn man genauer hinschaut, handelt es sich eigentlich um eine längerfristige Entwicklung: Das zeigt sich etwa an den neupfingstlichen Kirchen, die in den letzten Jahren zunehmend Einfluss auf die Politik geübt haben. Sie treten im Alltag zwar oft solidarisch auf, doch ihre spirituelle Haltung ist auf individuelle Erlösung ausgerichtet – es geht nicht um Gemeinschaft, um kollektive Verantwortung oder darum, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen, wie es der Vision der lateinamerikanischen Befreiungstheologie entsprach.
Es ist vielmehr eine Spiritualität des ‚Rette sich, wer kann‘, geprägt von Individualismus. Und das trägt ebenfalls zur Polarisierung bei - denn auch diese religiösen Formen nähren sich von der Angst, die viele Menschen derzeit empfinden, und sie sind leider auch sehr effektiv darin, Hass gegen andere, gegen das Anderssein zu fördern. Und auch die vergangenen Regierungen haben neoliberale Maßnahmen getroffen - etwa durch Angriffe auf Arbeitsrechte und Frauenrechte -, die autoritären Tendenzen den Boden bereitet haben. 

Wir haben es mit einem tiefgreifenden Wandel in der politischen Kultur zu tun. Es geht dabei nicht nur um die Person des Präsidenten, sondern auch um die Akzeptanz, die er in bestimmten, zuvor ausgeschlossenen oder verunsicherten Bevölkerungsgruppen genießt. Diese Angst hat sich in letzter Zeit in Hass gewandelt und sie haben dafür ihre Sündenböcke gefunden: Migrant*innen, Frauen, die LGBTQ+-Gemeinschaft, Gewerkschaften, ethnische Minderheiten – in unserem Fall vor allem die indigene Bevölkerung, die als ‚unproduktiv‘ diffamiert wird. 

Warum sind diese ausgeschlossenen, verängstigten Bevölkerungsgruppenbereit, eine Politik mitzutragen, die ihnen doch eigentlich selbst schadet?

Es gibt viele Menschen, die den Institutionen nicht mehr vertrauen, weil diese Institutionen ihnen nicht helfen, ihre Lebensqualität zu verbessern. Angesichts wirtschaftlicher Unsicherheit, wachsender Armut und sozialer Ausgrenzung entwickelt sich bei vielen der Wunsch, alles zu zerstören. Sie fühlen sich nicht als Teil der Gesellschaft - also wollen sie das Ganze niederreißen. Dahinter steht oft die Vorstellung: ‚Ich selbst habe keinerlei soziale Sicherheit oder Rechte und bin trotzdem irgendwie zurechtgekommen - warum also sollten andere Rechte haben?‘
Und so findet eine tiefgreifende Umdeutung statt: Rechte werden nicht mehr als etwas verstanden, wofür man kämpft, sondern als Privilegien. Stattdessen richtet sich der Kampf nun gegen diejenigen, die Rechte haben - weil sie als privilegiert gelten. Das hat massive Auswirkungen. Zum Beispiel auf junge Menschen, die keinen Zugang zur Sozialversicherung haben, informell arbeiten, ohne staatliche Absicherung. Anstatt sich zu organisieren, etwa in Gewerkschaften, und für ihre Rechte zu kämpfen, werfen sie denjenigen, die noch Rechte haben, vor, diese auszunutzen, als wäre es ein Missbrauch, abgesichert zu sein. Oder auch wenn Frauen ihre Rechte einfordern, heißt es dann plötzlich: ‚Was wollt ihr denn noch? Ihr habt doch schon alles!‘ 
Und dann kommt ein Präsident, der genau diese Ressentiments aufgreift und legitimiert. Und so wächst diese feindliche Haltung gegen soziale Rechte immer weiter - wie ein Lauffeuer. Sie bildet die Grundlage für die extrem rechte Politik. 

Was kann die Linke dagegen tun?

Ich habe den Eindruck, dass die Linke lange Zeit gewissermaßen eine konservative Position einnahm: Sie war bedacht, das, was wir errungen haben, zu verteidigen und gegen den Neoliberalismus zu schützen, aber es ging nicht mehr wirklich um eine Ausweitung unserer Rechte.  Nun erleben wir, dass selbst diese Rechte jederzeit verloren gehen können und dass wir über diese rein defensive Haltung hinausgehen müssen.
Wenn die Regierung etwa die Rechte von Arbeitnehmer*innen angreift, schlagen wir nun stattdessen vor, bestehende Arbeitsrechte zu stärken und sogar noch weiter auszubauen: mit Initiativen zur Arbeitszeitverkürzung, zur Verlängerung des Urlaubs, mit Vorschlägen zu einer faireren Neuberechnung des Mindestlohns oder zum Schutz prekär Beschäftigter und von Arbeiter*innen digitaler Dienstleistungsplattformen. Wenn die Leute merken, dass sie aus einer solchen Politik tatsächlich einen Nutzen ziehen können, eröffnet das neue Perspektiven: Dann geht es nicht mehr darum, denen die Rechte zu neiden, die sie noch haben, sondern darum, die Rechte für alle auszuweiten. Es geht darum, die soziale Sicherheit zu schützen und Vorschläge zu machen, wie man diese Absicherung wirklich universell gestalten kann. In unserer Partei führen wir gerade eine große Mitgliederkampagne über soziale Netzwerke durch. Wir sagen: Wenn du dieselben Sorgen, dieselben Werte, dieselben Hoffnungen teilst: schließ dich uns an. Und gerade erleben wir einen großen Zulauf junger Menschen, vor allem junger Frauen, aber auch Männer, die sich der Partei anschließen. Und das halten wir für entscheidend, denn jede Veränderung braucht viele engagierte Menschen, damit sie wirklich Bestand haben kann.
Manchmal hilft es auch, den rechtlichen Rahmen den wir haben, voll auszuschöpfen. Zumindest in Costa Rica hatten wir Erfolg damit. Wenn zum Beispiel eine Bildungsministerin den Sexual- und Aufklärungsunterricht abschafft - was eindeutig gegen die Rechte der Jugendlichen, insbesondere der Mädchen, verstößt, Gewalt fördert und den Schutz vor sexuellem Missbrauch schwächt - dann ziehen wir vor das Verfassungsgericht. Denn hier geht es um das Recht auf Bildung, auf Gesundheit, auf Leben, auf Schutz durch den Staat, vor allem für Minderjährige. Und wir konnten mit rechtlichen Mitteln erreichen, dass diese Maßnahmen gestoppt wurden.

Wie blicken Sie auf die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr?

Wir als linke Kraft haben klein angefangen, als Minderheit. Doch mittlerweile gelten wir als aktiv, glaubwürdig und die Leute schätzen unsere konkreten Vorschläge. 
Als linke Partei stehen wir traditionell mit einem Bein im Parlament und mit dem anderen auf der Straße. Wir arbeiten eng mit sozialen Bewegungen zusammen. Jetzt, ein Jahr vor den nächsten Wahlen, bauen wir Allianzen auf – mit ökologischen, feministischen, gewerkschaftlichen Bewegungen, mit der LGBTQ+-Community und mit kommunalen Organisationen. Diese organisierte Basis der Bevölkerung steht weiterhin für eine solidarische Gesellschaftsvision. Es gibt aber auch soziale Gruppen, die sich mit der extremen Rechten verbünden – vor allem neupfingstliche Kirchen und Teile der Unternehmerschaft. Das ist die Spannungsdynamik, in der wir uns derzeit befinden. Wir hoffen, dass unsere Bündnispolitik mit den sozialen Bewegungen Wirkung zeigt. Was bei den kommenden Wahlen herauskommt, wird sich zeigen – unser Ziel ist es zumindest, in die Stichwahl zu kommen. Und dann sehen wir weiter.