
Ob er Verzweiflung kannte in seiner langen Zeit als Ermöglicher der Kultur? Wenn ja, dann hat Hilmar Hoffmann sie über Jahrzehnte verborgen, nicht gezeigt. Aber der Kulturpolitiker, dessen 100. Geburtstag am 25. August 2025 zu feiern ist, wurde im Laufe seines Lebens immer mehr zum skeptischen Realisten. Im Interview mit mir analysierte er vor zehn Jahren die gesellschaftliche Situation in Deutschland so: «Heute leben wir in einer verunsicherten Gesellschaft. Überall sehen die Menschen Krieg, Vertreibung, Terrorismus. Das löst natürlich Ängste aus und den Wunsch nach Orientierung. Wir müssen deshalb den Wertekanon des demokratischen und sozialen Rechtsstaates aufrechterhalten».
Nicht allein ein Privileg begüterter Schichten
Diese Analyse ist gegenwärtig, also zehn Jahre später, aktueller denn je. So wie die zentralen Postulate des Sozialdemokraten heute eine bestürzende Aktualität besitzen. «Kultur für alle», diese Forderung, 1979 in einem Buch formuliert, die über Jahrzehnte in der Kulturpolitik nachwirkte, ist bis heute nicht erfüllt. Hoffmann drängte darauf, dass Kultur in der kapitalistischen Gesellschaft nicht allein ein Privileg begüterter Schichten sein dürfe. Die kulturellen Einrichtungen in Deutschland sollten sich auch für arme Menschen aus sogenannten «bildungsfernen Schichten» öffnen. Dafür kämpfte der Politiker schon als Kulturdezernent in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Ruhrgebiets-Stadt Oberhausen. Später, von 1970 bis 1990, als Verantwortlicher für Kultur in Frankfurt am Main, der fünftgrößten deutschen Stadt. Und am Ende dann im Weltmaßstab, als Präsident des Goethe-Institutes, von 1993 bis 2002.
Claus-Jürgen Göpfert, geboren 1955, ist Journalist und Auor. Zuletzt erschien von ihm: Zeitung im Kampf. 80 Jahre «Frankfurter Rundschau» oder: Niedergang des linksliberalen Journalismus? (Hamburg 2025).
Obwohl er 50 Bücher schrieb, darunter wichtige filmwissenschaftliche Arbeiten, obwohl er etwa 2000 Essays, Aufsätze, öffentliche Reden und Interviews verfasste, liegt die Bedeutung des gebürtigen Bremers nicht in der Theorie. Sondern eindeutig in seiner Praxis als Kulturpolitiker, in all den Ideen, die er verwirklichte, den Institutionen, die er gründete, den Museen, Bibliotheken, Ausstellungen, die er ins Leben rief.
Mit seinem Geburtsjahr 1925 gehörte Hoffmann zur «Generation Hitlerjugend» – so lautete denn auch der Titel seines letzten Buches, das er sich als über 90 Jahre alter und kranker Mann noch abgerungen hat. Im Gegensatz zu anderen Politikern und Kulturmenschen dieser Altersstufe verleugnete er später seine anfängliche Begeisterung als junger Nationalsozialist nicht. Als 18-jähriger zählte der Fallschirmjäger im Juni 1944 zu einer Einheit, die in der französischen Normandie die Invasion alliierter Truppen stoppen sollte. Er überlebte nur, weil er rasch in US-Gefangenschaft geriet. Und musste viele tote deutsche Soldaten bergen: «In sengender Sonne, bei Wind und Wetter tagelang der Verwesung ausgesetzt, empfingen uns, über der riesigen Schädelstätte verteilt, stark ausdünstende Leichname». Diese Erfahrung veränderte ihn nachhaltig – sein Leben lang setzte sich der Politiker fortan mit deutscher Schuld auseinander, arbeitete für die Versöhnung mit den Völkern, die unter nationalsozialistischem Terror besonders gelitten hatten.
Wer die Triebfedern seiner Arbeit verstehen will, muss auch vom Residential University College Wilton Park wissen. Als ich 2015 ein Buch über sein Leben schrieb, erinnerte sich Hoffmann an die Wochen, die er 1948 dort im englischen Buckinghamshire verbracht hatte. Der 23-jährige gehörte zu insgesamt 4500 jungen Deutschen, die in England zu Führungskräften eines künftigen, demokratischen Deutschlands ausgebildet wurden. Das war eine Idee des britischen Kriegspremiers Winston Churchill gewesen. Absolventen von Wilton Park waren auch der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt oder der spätere Soziologe Ralf Dahrendorf, ebenso Iring Fetscher, der als Politologe reüssieren sollte. Unterrichtet wurden die jungen Männer etwa vom Philosophen Bertrand Russell, dessen Bücher Hoffmann intensiv las. Nach seiner Rückkehr aus England wurde Hoffmann 1949 von der britischen Besatzungsmacht zum Gründungsdirektor des British Information Centre «Die Brücke» in Oberhausen ernannt.
Vorbild Schiller: «Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit»
Es war für ihn der Beginn einer lebenslangen kulturellen Bildungsarbeit. Er lud Philosophen wie Theodor W. Adorno, Autoren wie Günter Grass und Heinrich Böll ein, er veranstaltete Kurse zu Literatur, Bildender Kunst und Film. Es war der Versuch, Kultur und Kulturgeschichte zu vermitteln, von denen die Menschen in Deutschland in den Jahren der Nazi-Herrschaft abgeschnitten waren. Hoffmann berief sich dabei ausdrücklich auf Friedrich Schiller, dessen Werke und Schriften er damals erstmals las und die ihn lebenslang begleiteten. Besonders galt das für Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, aus denen der Politiker gerne das Postulat zitierte: «Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie, will sie ihre Vorschrift empfangen».
In seinen eigenen Schriften beklagte Hoffmann später immer wieder, dass der klassische bürgerliche Bildungskanon in den Schulen sehr vernachlässigt werde, dass es auch an musischer Bildung mangele. 1983 schon sagte er in einem Interview: «Und insofern bleibt ja das große Bedauern darüber, dass mit der musisch-kulturellen Bildung Ästhetik – jedenfalls in der Grundschule – weitgehend ausgeklammert wurde».
Hoffmann ging konsequent seinen Weg. 1952 wurde er mit 27 Jahren Direktor der Volkshochschule Oberhausen, der jüngste Leiter einer solchen Bildungsstätte. 1954 gründete er die Westdeutschen Kurzfilmtage, die ab 1959 nur noch Kurzfilmtage hießen. Unter diesem Namen führte er sie zur Weltgeltung – die heute noch besteht. Schon bald schlug das Festival kulturelle Brücken nach Osteuropa, insbesondere in die Länder, in denen der Terror der nationalsozialistischen Besatzung besonders gewütet hatte: Polen, UdSSR, Tschechoslowakei. In Oberhausen zeigten Regisseure, die später berühmt wurden, ihre ersten Filme: Roman Polanski, Istvan Szabo, auch Künstler aus der DDR. Es war eine Politik der Aussöhnung, lange vor der Ostpolitik des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt in den 70er Jahren. Bald gab es harte Auseinandersetzungen mit der Bonner CDU-Bundesregierung. 1962 gelang Hoffmann ein Coup: Die jungen deutschen Filmemacher präsentierten auf seine Einladung ihr «Oberhausener Manifest» gegen «Opas Kino» – dabei waren Edgar Reitz, Alexander Kluge und Peter Schamoni.
1965 stieg Hoffmann zum Kulturdezernenten von Oberhausen auf, erreichte jetzt aber Grenzen seiner Wirksamkeit, politisch wie finanziell. Er wollte mehr. 1970 im Spätsommer ein konspiratives Treffen mit dem Oberbürgermeister von Frankfurt am Walter Möller, in der Altstadt von Düsseldorf. Die beiden Sozialdemokraten sprachen offen über ihre Ziele. Möller wollte die Lebenswirklichkeit und das schlechte Image der Stadt Frankfurt verbessern. Die herrschende SPD im Frankfurter Rathaus war dem Finanzkapital weit entgegengekommen, hatte ihm erlaubt, die bundesdeutsche Hauptstadt der Banken zu formen, zu Lasten alter Wohnquartiere wie des Westends, mit hoher Belastung durch Auto- und Flugverkehr schon damals.
Der Machtmensch liebte das Machtpoker
Statt «Bankfurt» und «Krankfurt» setzte Möller 1970 auf die Kultur, um Symbole zu schaffen, mit denen sich das Bürgertum identifizieren konnte. Das alte, im Zweiten Weltkrieg zerstörte Opernhaus sollte wiederaufgebaut werden. Neue Museen sollten entstehen, aber auch ein Netz von Bürgerhäusern und Stadtteilbibliotheken. Und einen besonderen Wunsch äußerte der OB noch: Neue Brunnen, die das Stadtbild verschönern. Der Machtmensch Hoffmann begriff sofort, dass dies seine Chance war, eigene politische Ziele umzusetzen. Er hatte gelernt, ein Netzwerk zu knüpfen: «Macht-Poker, das ist die Würze der Politik», sagte er mir gegenüber einmal. Und fügte hinzu: «Um als Sieger vom Platz zu gehen, brauchst Du ein Netzwerk. Du musst die richtigen Leute für Dich gewinnen». Am 12. November 1970 wurde er zum Frankfurter Kulturdezernenten gewählt. Er blieb zwanzig Jahre im Amt, bis 1990. In dieser Zeit entfaltete er seine größte politische Wirkmacht.
Und das, obwohl sein politischer Unterstützer Oberbürgermeister Walter Möller, schon am 17. November 1971, im Alter von nur 71 Jahren, starb. Möllers Nachfolger, der neue SPD-OB Rudi Arndt, verfolgte andere politische Ziele. Er zielte auf den Ausbau der sozialen Infrastruktur. Wohnungen und Kindertagesstätten. Mit ihm konnte Hoffmann keine Museen bauen. Wohl aber Stadtteilbibliotheken und Bürgerhäuser. Zum ersten Mal in Deutschland gab es einen Bibliotheks-Entwicklungsplan, es entstanden zwölf neue Bibliotheks-Dependancen und eine zentrale Musikbibliothek. Das Netz der Bürgerhäuser wuchs von sechzehn im Jahre 1970 auf 47 im Jahre 1990. Außerdem wurde 1971 das erste Kommunale Kino in Deutschland eröffnet, Vorbild für viele Häuser.
Oper und Schauspiel erlebten in Frankfurt eine künstlerische Blütezeit mit Regisseuren und Aufführungen, die Theatergeschichte schrieben. Peter Palitzsch und Hans Neuenfels, Luc Bondy, Christof Nel, Frank-Patrick Steckel und andere schufen kapitalismuskritische Inszenierungen, verstörten das bürgerliche Publikum, holten neue Menschen ins Theater. Hoffmann führte ein Mitbestimmungsmodell ein, löste die Macht des Generalintendanten ab. 1974 engagierte er den berühmtesten deutschen Filmregisseur seiner Generation, Rainer Werner Fassbinder, als Intendant ans Theater am Turm (TAT) – scheiterte aber damit.
Zehn neue Museen – und viele Bürgerhäuser
Ironischerweise konnte der sozialdemokratische Kulturdezernent seine Museums-Pläne erst umsetzen, nachdem die SPD bei der Kommunalwahl 1977 abgestürzt war und ihre absolute Mehrheit an die CDU verloren hatte. Der neue CDU-Oberbürgermeister Walter Wallmann beließ den Sozialdemokraten Hoffmann im Amt – auf den Rat von Wallmanns Büroleiter Alexander Gauland hin, der 40 Jahre später zu einer Führungsfigur der rechtsextremen AfD werden sollte. Tatsächlich sollten der konservative Wallmann und der liberale Hoffmann fast zehn Jahre lang gut zusammenarbeiten. Auch Wallmann setzte auf die Kultur und auf repräsentative Bauwerke, die Objekte der Identifikation für ein bürgerliches Publikum werden sollten. Im Resultat wurden zehn neue Museen und Kulturinstitutionen gebaut: Die Museen für Architektur und für Film, das Jüdische Museum, das Haus für Vor- und Frühgeschichte, das Museum für Moderne Kunst, das Ikonenmuseum, das Museum Judengasse, das Haus für Kunsthandwerk, die Kunsthalle Portikus und das städtische Literaturhaus. Außerdem erweiterte man das Städel-Kunstmuseum und Liebieghaus für Skulpturen. Es war eine einmalige Kraftanstrengung in Deutschland, die Frankfurt in den Rang einer europäischen Kulturstadt katapultierte.
Hoffmann stieg zum erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Kulturpolitiker auf. Natürlich erreichte er das alles nicht allein, sondern nur mit einem Netzwerk von Unterstützern. Und er beging schwere Fehler und erlebte heftige Niederlagen. Nur Beispiele: Ein Rückschlag war 1982 die von Wallmann durchgesetzte Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt an den Schriftsteller Ernst Jünger, der vielen Kritikern als Wegbereiter des Nationalsozialismus galt. Hoffmann führte einen politischen Eiertanz auf, enthielt sich in der Jury schließlich der Stimme.
Keine Premiere für Fassbinders «Der Müll, die Stadt und der Tod»
1985 scheiterte der Versuch, das Theaterstück «Der Müll, die Stadt und der Tod» von Rainer Werner Fassbinder am Schauspiel Frankfurt uraufzuführen. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde sprachen von Antisemitismus und besetzten die Bühne. Dem Kulturdezernenten Hoffmann gelang es nicht, eine Premiere durchzusetzen – bis heute ist das Stück in Deutschland nicht gezeigt worden, wohl aber in anderen Ländern. Oder das Jahr 1987: Die Stadtwerke Frankfurt wollten ausgerechnet auf den Fundamenten des alten jüdischen Ghettos am Börneplatz ein modernes Bürohaus errichten. Angehörige der Jüdischen Gemeinde, aber auch andere Menschen besetzten den Bauplatz. Der faule Kompromiss, dem Hoffmann schließlich zustimmte: Neben dem Büroklotz wurde ein kleines Museum Judengasse geschaffen, das Teile des Ghettos zeigt. Gegen Ende seiner Amtszeit wuchs die Kritik an Hoffmanns Projekten, auch weil sie teuer waren: Ein städtisches Literaturhaus mit immenser Miete hatte ebenso wenig dauerhaft Bestand wie eine Frankfurter Kunstmesse, die mit großen Subventionen aus dem Boden gestampft worden war.
Kultur in der SPD ohne Stellenwert
Von 1993 bis 2002 stand der Sozialdemokrat an der Spitze des weltweit agierenden Goethe-Institutes. Doch dort blieben ihm Erfolge wie auf der kommunalen Ebene versagt. Vom CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl erfuhr Hoffmann noch Unterstützung. Es gelang ihm, zwölf neue Goethe-Institute zu eröffnen. Besonders wichtig war die Gründung des Hauses im palästinensischen Ramallah 1998, das heute als deutsch-französisches Kulturinstitut für die palästinensischen Gebiete noch immer besteht. Doch ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung mit Kanzler Gerhard Schröder (SPD) an der Spitze zwang Hoffmann einen harten Sparkurs auf, wollte 22 Institute schließen. Nur die Hälfte konnte der Präsident am Ende retten. 2002 resignierte Hoffmann, ging in Ruhestand. Er beklagte sich bitter darüber, dass die Kultur in der SPD kaum noch Stellenwert besitze.
Heute bleibt die Forderung Hoffmanns nach einer Kultur für alle mehr denn je unerfüllt. In Deutschland wächst die soziale Kluft zwischen Arm und Reich und soziale Barrieren verhindern noch immer, dass Menschen kulturelle Institutionen besuchen. Der Kampf um die Freiheit der Kultur ist wichtiger denn je, gerade in einer Zeit, in der die rechtsextreme AfD ganz offen die Arbeit von Theatern angreift. Oder in den USA Präsident Donald Trump Kultureinrichtungen seinen politischen und ästhetischen Vorstellungen unterwerfen will.
Zum Weiterlesen
Claus-Jürgen Göpfert, Der Kulturpolitiker, Hilmar Hoffmann Leben und Werk, Deutsches Filmmuseum, ISBN 978-3-88799-088-6
Roland Burgard, Das Museumsufer Frankfurt, Architekten und Bauten, Birkhäuser Verlag, ISBN 978-3-0356-1881-5
Hilmar Hoffmann, Generation Hitlerjugend, Reflexionen über eine Verführung, Axel Dielmann Verlag, ISBN 978-3-86638-229-9
