News | Geschichte Das Fanal aus den Schweizer Bergen

Die sozialistische Antikriegskonferenz von Zimmerwald (5. - 8. September 1915)

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Titelseite des ersten Bulletins der Internationalen Sozialistischen Kommission, 21. September 1915 (Ausschnitt)Schweizerische Nationalbibliothek, Bern

Ein Jahr nach dem Beginn des Weltkriegs, von dem man noch nicht wissen konnte, dass er bald als «erster» gekennzeichnet werden würde, schien kein Ausweg aus seinem Horror möglich. Noch in den letzten Tagen vor dem Kriegsausbruch am 1. September 1914 hatten große Massendemonstrationen stattgefunden, organisiert von den Gewerkschaften und vor allem von den sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien. Doch die Arbeiterbewegung, die kein materielles Interesse an einer Kriegsbeteiligung hatte, erwies sich in ihrer überwiegenden Führungsmehrheit als unwillig und unfähig, der von den herrschenden Kreisen in Gang gesetzten nationalistischen Welle entgegenzutreten. Diese Führungen proklamierten den «Burgfrieden» mit den Regierungen. Und dies, obwohl noch zwei Jahre zuvor, auf dem Kongress der sozialdemokratischen Zweiten Internationale 1913 in Basel, der Kampf für den Frieden erneut feierlich als Aufgabe und Selbstverpflichtung bestätigt worden war.

Erste Stimmen gegen den Krieg

Dieser Zusammenbruch der Zweiten Internationale und insbesondere ihrer wichtigsten Parteien, allen voran die SPD, ist schon oft geschildert und analysiert worden. Das soll hier deshalb nicht das Thema sein. Doch auch wenn die übrig gebliebenen Minderheiten der sozialistischen Antikriegsopposition in den einzelnen Ländern, die sich der chauvinistischen Welle entgegenzustemmen versuchten, zunächst ganz isoliert waren, gab es sie. Karl Liebknechts Nein zu weiteren Kriegskrediten bei der Abstimmung im Reichstag im Dezember 1914 wurde das erste, auch international wahrgenommene Fanal. Und es entstanden die ersten länderübergreifenden Kontakte zwischen einzelnen miteinander bekannten Oppositionellen und auch zwischen einzelnen Parteien aus den neutral gebliebenen Staaten. Dabei spielte insbesondere die Schweiz eine Rolle. Dort war die sozialdemokratische Partei gegen die Unterstützung des Kriegs und das Land bot, da es zu keiner Kriegsseite gehörte, Kontaktmöglichkeiten in beide Kriegslager hin. Zudem war es aufgrund seiner liberalen Asylpolitik die zwangsläufige Heimat vieler Flüchtlinge insbesondere aus dem russischen Reich. So konnten sich bereits im März und April 1915 in der Schweizer Hauptstadt Bern Vertreter der zur Opposition tendierenden sozialdemokratischen Frauen- und dann der Jugendinternationale treffen.

Reiner Tosstorff ist apl. Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Arbeitsgebiete sind spanische Sozialgeschichte und Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung (Kommunismusgeschichte, internationale Gewerkschaftsbewegung). 

38 Oppositionelle treffen sich in der Schweiz

Aufbauend auf all diesen Kontakten und Begegnungen gelang es dem führenden Schweizer Sozialdemokraten Robert Grimm schließlich, unter strenger Geheimhaltung in dem Dorf Zimmerwald bei Bern insgesamt achtunddreißig Teilnehmer zu einer Konferenz zusammenzuführen: Delegierte einzelner kriegsablehnender Parteien oder auch mancher Oppositionsgruppen in Parteien sowie Einzelpersönlichkeiten. Sie repräsentierten elf Länder und ein politisch breites Spektrum innerhalb der Antikriegslinken. Bei Übereinstimmung in der Ablehnung des Krieges und beim Festhalten am Klassenkampf vertraten sie ein durchaus politisch breites Spektrum an unterschiedlichen Vorgehensweisen im Antikriegskampf. Zu den zehn deutschen VertreterInnen gehörten unter anderem Georg Ledebour und Adolph Hoffmann für die Minderheit innerhalb der SPD-Reichstagsfraktion (die im Jahr darauf ausgeschlossen wurde). Die Gruppe Internationale (um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, bald Spartakusgruppe genannt) war durch Ernst Meyer und Bertha Thalheimer vertreten. Karl Liebknecht selbst hatte, da er bereits zur Armee eingezogen worden war, nicht kommen können und begrüßte die Konferenz deshalb durch einen Brief. Mit Lenin und Sinowjew einerseits sowie Martow und Axelrod andererseits waren jeweils die führenden Persönlichkeiten der bolschewistischen und der menschewistischen Strömung der russischen Sozialdemokratie vertreten. Dazu kamen Trotzki, der zwischen beiden stand und die in Paris erscheinende fraktionsunabhängige Zeitung Nasche Slowo vertrat, sowie VertreterInnen zahlreicher «nationaler» Gruppen aus dem russischen Reich. Zur italienischen Delegation gehörte Angelica Balabanoff, die schon zuvor maßgeblichen Anteil an den Bemühungen ihrer Partei um die internationalen Kontakte gehabt hatte. Weitere Anwesende kamen aus Skandinavien, den Niederlanden und Rumänien und Bulgarien. Die Delegierten der britischen Independent Labour Party mussten ihre Teilnahme absagen, da ihnen die Pässe verweigert worden waren. Die französische Delegation wies insofern eine Besonderheit auf, weil das Land durch zwei Angehörige der Minderheit im französischen Gewerkschaftsbund CGT (Confédération Generale du Travail) vertreten war. Das war insofern neu, als die Syndikalisten bislang die Zweite Internationale – als Zusammenschluss von Politikern – boykottiert hatten. Nun aber gab es im Zeichen des Antikriegskampfs eine Umgruppierung, denn die syndikalistische Minderheit arbeitete in Paris auch eng mit dem russischen Emigrantenkreis um Nasche Slowo zusammen. Aus den beiden Kriegsteilnehmern Österreich-Ungarn und Belgien gab es dagegen überhaupt keine Teilnehmer.

Scharfe inhaltliche Debatten

Nachdem die deutsche und die französische Delegation mit einer gemeinsamen Erklärung ein deutliches Zeichen gegen den Krieg und die damit einhergehende nationalistische Verhetzung gesetzt hatten, war die Beendigung des Kriegs das zentrale Thema der Diskussionen. Einig war man sich darüber, dass er aus dem kapitalistischen Konkurrenzbestreben entstanden war und er um die imperialistische Neuaufteilung der Welt geführt wurde. Aber bei der Diskussion um die Methoden des Antikriegskampfes prallten gegensätzliche Vorstellungen aufeinander. Die Mehrheit von etwa zwanzig Delegierten stellte die Forderung nach der Herstellung des Friedens in den Vordergrund. Sie lehnte einen offenen Bruch mit dem «Sozialpatriotismus», der Verteidigung des Burgfriedens und der Unterstützung der kriegführenden Regierungen, und somit auch mit der inzwischen gänzlich inaktiven Führung der Zweiten Internationale, dem Internationalen Sozialistischen Büro, ab.

Dagegen stand eine linke Minderheit, die von den Bolschewiki angeführt wurde und zu der etwa sechs bis acht Delegierte tendierten. Sie forderte, die Zweite Internationale für bankrott zu erklären und sich von ihr zu trennen. Gegen den Burgfrieden müsse der revolutionäre Klassenkampf gesetzt werden, der allein den Krieg beenden könne. Dazwischen stand ein um Vermittlung bemühtes «Zentrum», angeführt von Trotzki und Balabanoff. Sie stimmten in der Denunziation der sozialdemokratischen Kriegsunterstützer und dem Beharren auf einem revolutionären Antikriegskampf mit der Linken überein. Doch verzichteten sie zunächst darauf, den organisatorischen Bruch mit den sozialdemokratischen Massenparteien zu fordern. Von Trotzki stammte auch der Entwurf zum dann verabschiedeten Manifest, das in aufrüttelnden Worten zum Kampf gegen den Krieg aufrief.

Zur Fortführung der Sammlung der Antikriegslinken bestimmte die Konferenz schließlich noch die Einsetzung einer Internationalen Sozialistischen Kommission (ISK). Unter Leitung ihrer Sekretärin Angelica Balabanoff begann man mit der Herausgabe eines Bulletins, das als erstes die Materialien der Konferenz international verbreitete. In den kriegführenden Ländern allerdings bemühte sich die allgegenwärtige Zensur, jede Art von Berichterstattung zu unterbinden. Schlimmer noch, auch die Leitungen der wichtigsten sozialdemokratischen Parteien beteiligten sich daran, indem sie die Konferenz denunzierten und jede Information darüber zu verhindern suchten.

Der Fortgang der Zimmerwalder Bewegung

Die Diskussion über die Ergebnisse von Zimmerwald wurde heftig fortgeführt. Die Konferenz hatte zwar ein Fanal gesetzt, doch die politischen und strategischen Differenzen, die auf ihr zum Ausdruck gekommen waren, verstärkten sich eher noch. Die Zimmerwalder Linke bemühte sich, mit einem eigenen Organ (Der Vorbote) als eigenständige Tendenz aufzutreten, von dem jedoch nur zwei Nummern erscheinen konnten. Im Jahre 1916 (vom 24. bis 30. April) gab es eine erneute Konferenz in der Schweiz, in Kienthal. Doch eine wirkliche Änderung der Lage stellte erst der Ausbruch der russischen Revolution im März 1917 dar, die schließlich in der Machteroberung der Bolschewiki im November mündete. Im Jahr darauf, angesichts des unaufhaltsamen Vormarschs der Alliierten im Westen, setzten dann die Revolutionen in Deutschland und Österreich-Ungarn dem Weltkrieg ein Ende.

Die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung, die sich aus dem Gegensatz von Kriegsunterstützung und Kriegsablehnung ab 1914 ergeben hatte, konnte nun trotz verschiedener Bemühungen und scheiternder internationaler Treffen nicht mehr geheilt werden. Das gegensätzliche Verhalten in der revolutionären Welle ab 1917 wurde nun ausschlaggebend: Revolutionärer Sturz des Kapitalismus oder seine Aufrechterhaltung mit einigen Reformen, dies war nun der grundlegende Dissens. Von nun an sollten sich zwei gegensätzliche Internationalen, die der Sozialdemokratie und die der Kommunisten, gegenüberstehen.

Zimmerwald allerdings liefert gerade auch heute angesichts von Aufrüstung und Krieg eine Lehre: Statt auf diplomatische Verhandlungen und Manöver zu vertrauen, ist die wichtigste Aufgabe einer Linken die Organisierung einer Antikriegsbewegung von unten her.

Zum Weiterlesen

Bernard Degen, Julia Richers (Hrsg.): Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe. Zürich 2015

https://www.zimmerwald1915.ch/

Zimmerwalder Manifest im Wortlaut

Bearbeitete Fassung eines Ausschnitts aus dem Beitrag des Verf. über die Zimmerwalder Bewegung in Bernd Hüttner (Hg.): Verzögerter Widerstand. Die Arbeiterbewegung und der erste Weltkrieg, Berlin 2015 (RLS-Manuskripte Neue Folge Nr. 14), online unter https://www.rosalux.de/publikation/id/3894/.