
Kapitalismus ist überall, auch in der Sprache. Das zeigt sich an dem Wort Gratismentalität. Das wertet nicht nur Menschen in Armut ab, sondern sagt auch sehr viel über den Leistungsbegriff aus. Schließlich versteckt sich dahinter die neoliberale Behauptung, dass Menschen ohne Steuerzahlungen keinen vergleichbaren Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten und deshalb etwas durch Steuern Finanziertes gratis erhalten. Das verschiebt Probleme also auf Individuen anstatt Strukturen verantwortlich zu machen.
Ähnlich ist es mit der Wortgruppe „Preise steigen“, fast wie aus Zauberhand. Die sprachliche Illusion, dass Preise von alleine steigen, erweckt den Eindruck einer Natürlichkeit, was den Gedanken des staatlichen Eingreifens unmöglich macht. In der Realität werden Preise jedoch von jemandem erhöht. Tatsächlich können gezielte staatliche Eingriffe in den Markt sogar sehr hilfreich sein. Doch um die Mechanismen und Sprache des Kapitalismus zu verstehen, benötigt es ein Bewusstsein.
Für diese Entlarvung haben sich Simon Sahner und Daniel Stähr, ein Geistes- und Kulturwissenschaftler und ein Ökonom, zusammengesetzt. Sie beschreiben in ihrem Buch, dass Sprache Realität schafft und damit eben auch den Kapitalismus erhält. Das geschieht vielfältig durch Metaphern wie „der kranke Mann Europas“ oder „Rettungsschirm“, Redewendungen, Phrasen, Mythen wie „vom Tellerwäscher zum Millionär“, Erzählungen und einzelne Begriffe.
Ein Muster, das sich im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte zum festen Bestandteil unseres Denkens, Erzählens und Sprechens entwickelt hat. Damit dringt die Wirtschaftsform tief in unser Privatleben, unsere Beziehungen und unseren Alltag ein.
„Die Metaphern der Sprache des
Kapitalismus legen sich wie ein Schleier
vor unsere Augen und verstellen den
Blick auf die eigentlich entscheidende
Frage: Wo sind die fundamentalen
Schwachstellen unseres
Wirtschaftssystems, und wie müssten
wir es grundlegend verändern?” (S. 59)
All dem gehen die Autoren nach und wollen die Sprache des Kapitalismus gleichzeitig aufbrechen und verändern, um damit an einer Säule des Kapitalismus zu sägen. Dafür verwenden die Autoren viele unterschiedliche Beispiele aus dem Leben. Nicht nur aus der Politik, sondern auch aus der Popkultur: Filme wie The Wolf of Wall Street, Apocalypse Now oder American Psycho werden analysiert. Eine abwechslungsreiche Gestaltung, die Zugang ermöglicht. Zugänglich ist auch die einfach gehaltene Sprache und die vielen wirtschaftlichen Basics, die erklärt werden. Selten hatte ich so ein Interesse an ökonomischer Theorie und ganz eindeutig hatten auch die Autoren selbst sehr viel Spaß an dem abwechslungsreichen Projekt.
Da ist es nicht verwunderlich, dass das Sachbuch mit dem Wirtschaftsbuchpreis des Jahres 2024 ausgezeichnet wurde.
„Ein Verständnis der Sprache des
Kapitalismus trägt daher direkt dazu bei,
den Kapitalismus zu hinterfragen. Nur so
können wir Alternativen entwerfen und
den Kapitalismus überwinden, der nicht
nur sehr vielen Menschen sehr viel Leid
zugefügt hat und weiterhin zufügt,
sondern auch im Angesicht der
Klimakatastrophe nicht mehr in der
aktuellen Form fortbestehen kann, wenn
die Chance erhalten werden soll, dass
weiterhin große Teile des Planeten
dauerhaft bewohnbar bleiben.” (S. 258)
Der erste Schritt etwas zu verändern, ist etwas zu begreifen. Indem Mechanismen hinterfragt werden und Strukturen neu gedacht werden, wird der Sprache des Kapitalismus Macht entzogen. Ein sehr spannendes Werkzeug in einem ebenso spannenden Buch, welches sich rasant lesen lässt. Auch von Menschen, die normalerweise wenig Interesse an wirtschaftslastigen Texten haben.