Kommentar | Ungleiches Erbe - Rosa-Luxemburg-Stiftung 35 Jahre Rosa-Luxemburg-Stiftung

Ein Rückblick auf die Ursprünge

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Effi Böhlke,

Bürogebäude am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin-Friedrichshain, langjähriger Stiftungssitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Vor dem Einzug in den Neubau der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2020 war das Bürogebäude am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin-Friedrichshain langjähriger Stiftungssitz.

Abschied heisst doch auch weitergehn
Tränen hat die Trauer, aber auch das Glück
Komm gut an, nicht zurück
Wandersmann, komm gut an, geh…

[1]

Diese Zeilen aus dem Song «Wandersmann» der DDR-Rockband Renft beschreiben den Aufbruch im Abschied sehr gut – ein Bild, das auch für die Gründungsgeschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Jahr 1990 passt.

Schauen wir also 35 Jahre zurück.

Effi Böhlke ist Referentin der Geschäftsführung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Wir befinden uns in der sogenannten Wendezeit: Am 9. November 1989 wird in einem spektakulären Vorgang die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland geöffnet – man spricht fortan vom «Fall der Mauer». Nach Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und Einigungsvertrag, der die politische Vereinigung beider deutscher Teilstaaten bzw. den Beitritt der DDR zum politischen System der Bundesrepublik beinhaltet, erfolgt am 3. Oktober 1990 der später «Wiedervereinigung» genannte symbolische Akt.

Diese Umbruchsprozesse auf politischer Ebene werden begleitet von der Delegitimierung und schließlich Zerschlagung von Strukturen und Institutionen auf quasi allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens der DDR, von der Wirtschaft[2] über die Politik bis hin zu den kulturellen und Wissenschaftseinrichtungen, darunter den Akademien, Fach- und Hochschulen sowie Universitäten. 

An letzteren werden Evaluationskommissionen[3] eingesetzt, die die DDR-Wissenschaftler*innen nach verschiedenen Kriterien bewerten. Im Ergebnis werden die meisten von ihnen negativ evaluiert und in Konsequenz entlassen, die Institute werden umstrukturiert und den Strukturen des Wissenschaftssystems der alten Bundesrepublik entsprechend neugeordnet. Die überwiegende Mehrheit der neuen Kolleg*innen, v.a. die neuen Professor*innen, kommen nun aus Westdeutschland.[4]

Wenn man so will: 

Tabula rasa – neue Chancen, die sich den oftmals als «Glücksritter aus dem Westen» genannten neuen Professor*innen bieten, Ende, Aus hingegen für die Mehrheit der etablierten ostdeutschen Wissenschaftler*innen, deren Wissensformen und -inhalte delegitimiert und entwertet werden – ganz analog zu Mark der DDR –, und denen die Fähigkeit und das Recht abgesprochen wird, jüngere Generationen zu bilden und zu erziehen. 

Und dennoch: Vor dem Hintergrund der Umstrukturierung einer ganzen Gesellschaft suchen Wissenschaftler*innen aus den abgewickelten Institutionen und Instituten nach Wegen, ihre Vorstellungen von linker Analyse sozialer Prozesse und politischer Bildung umzusetzen – und natürlich auch nach existenzieller Absicherung. Sie lassen sich trotz der schwierigen Umstände nicht entmutigen, ganz nach dem oben zitierten Song von Renft:

Abschied heisst doch auch weitergehn
Tränen hat die Trauer, aber auch das Glück

Und tatsächlich wird noch im Wendejahr 1990, kurz nach dem sogenannten Beitritt der DDR zur BRD, der Verein «Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.» gegründet. Dieser Verein hat seinen Sitz zunächst in der Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain und besteht aus einer kleinen Gruppe von hauptsächlich durch ABM-Mittel[5] finanzierten Personen rund um Evelin Wittich, der langjährigen Geschäftsführerin, die mit viel Geschick und politischem Spürsinn dafür sorgt, dass das zarte Pflänzchen die vielen Aufs und Abs der sozialen Umbrüche durchsteht und nicht geknickt wird. 

Zu Beginn der 1990er Jahre trägt der Verein noch nicht den Namen Rosa Luxemburgs; den erhält er erst 1999. 

Und er erhält auch noch keine finanzielle Förderung aus Mitteln des Bundes; dazu kommt es erst im Jahr 2000, und auch erst nach einem langen politisch-juristischen Kampf.

Dennoch: Der Verein gliedert sich peu à peu ein in das System der parteinahen Stiftungen der Bundesrepublik Deutschland und ist bis dato das jüngste Glied unter denselben.

Ein solches System gab es in der DDR nicht – es ist auch tatsächlich ein Unikat und hat sich als Resultat der politischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem II. Weltkrieg herausgebildet: Mit seiner pluralistischen Struktur der politischen Bildung sollte es dem Kampf gegen die Indoktrination durch eine totalitäre Ideologie dienen.[6] Älteste Stiftung und im Übrigen die Einzige, die bereits vor dem II. Weltkrieg geründet worden war, ist die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES); sie feierte in diesem Jahr ihr 100jähriges Bestehen. 

Das heißt: In dieser Umbruchszeit des Anfangs der 1990er Jahre gibt es, auch für Menschen aus der nun nicht mehr existenten DDR, nicht nur Abbruch und Ende, sondern auch Aufbruch und das Entstehen von Neuem – allerdings auf der Basis von hohem Engagement, Eigeninitiative – und Durchhaltevermögen!

Ungleiches Erbe

Wie steht es nun aber, um auf den Titel des Dossiers zurückzukommen, mit dem «ERBE Ostdeutschland» bzw. der DDR?

Wie bereits erwähnt, stand der Verein «Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.» an seinen Anfängen so gut wie mittellos da. Die Protagonisten kamen aus «abgewickelten», also nicht mehr existenten Institutionen, waren arbeitslos oder wurden durch ABM-Maßnahmen finanziert. Erbschaften größeren Umfangs konnte kaum jemand aufweisen und in den Verein[7] einbringen (zumal die Mark der DDR im Prozess der Währungsunion um die Hälfte entwertet wurde). 

Also: Gar kein Erbe?

Das ist differenzierter zu betrachten bzw.: Der Begriff des Erbes muss hier ausgeweitet werden. Arbeitet man an dieser Stelle mit dem Habitus- bzw. Kapital-Begriff von Pierre Bourdieu,[8] dann kann man meines Erachtens behaupten: Zwar verfügte die Gründergeneration des Vereins «Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.» nicht über ökonomisches Kapitel, jedoch über umfangreiches kulturelles und Bildungskapital ostdeutscher Prägung, das ihre Sichtweise auf die Gesellschaft formte und das sie in die politische Bildungsarbeit einbrachte. Und insofern war der Verein in den 1990er Jahren eine in jeglicher Hinsicht ostdeutsche Institution. Dieses kulturelle Kapital zeigte sich etwa in der Themenwahl: 

Zum einen war das die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit der Protagonist*innen in der DDR, bei der vor allem die «Verabschiedung vom Stalinismus als System» im Zentrum stand.[9]

Zum anderen ging es um die Analyse der sowohl in Ost- und Gesamtdeutschland als auch in Europa ablaufenden dramatischen Umbrüche im Land selbst, aber auch darüber hinaus: Ende der DDR, Ende der Sowjetunion und damit des sogenannten Sozialistischen Weltsystems und die vielfältigen Ursachen dieses Endes; der Abzug der sowjetischen Truppen vom Territorium der DDR, eine Politik der Zerschlagung der Infrastruktur der DDR durch die «Treuhandanstalt» und anders.

Schließlich hatte man auch schon damals den aufkeimenden Rechtsradikalismus und die zunehmende Fremdenfeindlichkeit im Visier.

Gesamtdeutsche Institution

Im Laufe ihres nun 35jährigen Bestehens hat sich unsere Stiftung stark gewandelt. Seit 1999 heißt sie Rosa-Luxemburg-Stiftung, seit dem Jahr 2000 erhält sie Zuwendungen aus Mitteln des Bundes. Mit dem Aufwuchs der nahestehenden Partei und dem Zuwachs an Stimmanteilen bei den Bundestagswahlen ist die Stiftung stark gewachsen: Bestand sie Anfang der 1990er Jahre aus einem kleinen Kreis ABM-finanzierter Kolleg*innen, so sind das Anfang der 2020er Jahre insgesamt um die 300 festangestellte Beschäftige.

Sie hat sich aus einer zunächst ostdeutschen Gründung zu einer gesamtdeutschen Institution der politischen Bildung entwickelt, mit Büros in allen 16 Bundesländern und rund 25 Büros weltweit. Auch das Personal ist gesamtdeutsch aufgestellt: Die Kolleg*innen kommen nun nicht nur aus allen Bundesländern, sondern haben zum Teil internationale Wurzeln. Sie alle bringen ihre spezifischen Sicht-, Denk- und Handlungsweisen in die Stiftung mit ein, was zuweilen zu Spannungen, letztlich aber zu ihrer Bereicherung führt und aus ihr eine spannende Institution politischer Bildung mit vielen unterschiedlichen Aspekten macht.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist heute ein global agierender linker Thinktank, der sich den nationalen und internationalen Herausforderungen stellt und von daher in ständiger Bewegung ist.[10]

Und so wie dieser Beitrag mit einer Strophe aus dem Renft-Song «Wandersmann» überschrieben ist, so passend steht ein weiteres Zitat an seinem Ende: 

Alles ist im Fliessen, alles ist im Gehen
Sterne rasen, auch wenn wir sie stehen sehn.


[1] Der Text, der gewissermaßen eine Umkehr von Goethes «Willkommen und Abschied» ist,  findet sich auf der Website der Band.

[2] Siehe dazu u. a. die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung verantwortete Ausstellung «Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale», die in einer Zusammenschau der Zerschlagung von betrieblichen Strukturen und Biografien der in ihnen Beschäftigten einen Einblick in die wirklich dramatischen Zeiten des Anfangs der 1990er Jahre vermittelt.

[3] Diese Evaluationskommissionen setzen sich zu faktisch 100 Prozent aus westdeutschen Professor*innen und Dozent*innen zusammen. 

[4] Vgl. u. a.: Dornhof, Dorothea; Pasternack, Peer; Zimmermann, Gerd: Transformationen des Wissenschaftssystems: 1989ff. «Eine eindeutig vermachtete Situation». Über den Umbruch in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft seit 1989 und die Folgen bis heute. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14 (2022), Nr. 2, S. 133–153. DOI: doi.org/10.25969/mediarep/18938. Vgl. ebenso entsprechende Forschungsprojekte an der Universität Potsdam

[5] ABM steht für Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, ein in den 1990er Jahren in Ostdeutschland häufig verwendetes finanz- und arbeitsmarktpolitisches Instrument, mit dem allerdings auch die Arbeitslosenzahlen geschönt wurden. 

[6] Vgl. dazu die Ausführungen auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung.

[7] Ohnehin ist der Begriff «Stiftung» im Prinzip irreführend; im eigentlichen Sinne handelt es sich bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ebenso wie bei den anderen parteinahen Stiftungen, um Vereine, die sich aus Mitgliedsbeiträgen und staatlichen Mitteln finanzieren; eine Ausnahme bildet da nur die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung. 

[8] Zum Kapital- bzw. Habitusbegriff bei Pierre Bourdieu vgl. u. a.: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp 1987; ders: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg: VSA 1992; ebenso versch. Beiträge in: Effi Böhlke, Rainer Rilling (Hrsg.): Bourdieu und die Linke. Politik – Ökonomie – Kultur. Berlin: Dietz Verlag, 2007.

[9] Ganz in der Tradition des Referats von Michael Schumann auf dem Außerordentlichen Parteitages der SED/PDS Ende 1989 unter dem Titel «Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System» (S. 33ff).

[10] Mehr zum Thema findet sich in «35 Jahre Rosa-Luxemburg-Stiftung. Geschichte(n) einer Institution». Darin kommen Protagonist*innen der Gründerzeit der Stiftung, aber auch Vertreter*innen späterer Generationen zu Wort, und ein Abriss der Geschichte der Stiftung bietet historische Fakten, mit denen ihre Entwicklung von einer primär ostdeutschen zu einer gesamtdeutschen, global agierenden linken Institution nachvollzogen werden kann.