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Presse release | Die Einheit wird zur Utopie

Langzeitstudie: Junge Ostdeutsche sehr kapitalismuskritisch (Neues Deutschland, 20.4.2005)

Immer mehr junge Ostdeutsche sind vom Kapitalismus enttäuscht. Auch die deutsche Einheit wird für sie zur Utopie. Das zeigt eine Langzeitstudie mit heute 32-Jährigen, die gravierende soziale Ängste offenbart.

Wann wird die deutsche Einheit vollzogen sein? Diese Frage hat der Leipziger Soziologe Peter Förster jungen Ostdeutschen vorgelegt, und zwar in regelmäßigen Abständen seit dem Ende der DDR. Zunächst hatten die Befragten einen Zeitraum von sechs Jahren bis zum wirtschaftlichen Zusammenwachsen und von acht Jahren bis zur inneren Einheit angegeben. Diese Termine sind ebenso verstrichen, wie die Zuversicht geschwunden ist. Inzwischen 32 Jahre alt, erwarten Försters Probanten gleiche Lebensverhältnisse für das Jahr 2025, die politische Einheit gar erst für 2028. Die Einheit, so Förster, wird für junge Ostdeutsche »mehr und mehr zur Utopie«.
Die Einschätzung stammt aus einem spannenden Forschungsprojekt, das »Sächsische Längsschnittstudie« heißt und bemerkenswerte Einsichten darüber offenbart, wie Ostdeutsche, die zum Zeitpunkt des Endes der DDR die Schule abgeschlossen hatten, in der neuen Gesellschaft angekommen sind. Seit 1987 befragt Förster, zunächst im Auftrag des Zentralinsituts für Jugendforschung und nach dessen Abwicklung mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung, eine an Schulen der Bezirke Leipzig und Karl-Marx-Stadt zufällig ausgewählte Gruppe im Jahr 1973 geborener Jugendlichen. An der mittlerweile 19. Fragerunde im Jahr 2005 nahmen 390 Probanten teil, die inzwischen 32 Jahre alt und, so Förster, repräsentativ für ihre Altersgenossen in ganz Ostdeutschland sind.

Der Bericht zeigt, dass junge Ostdeutsche zwar noch immer überwiegend froh über die politische Wende in der DDR sind. Auch werde das vereinigte Deutschland als eine Selbstverständlichkeit begriffen. Zugleich konstatiert Förster aber zunehmende Distanz zum jetzigen Gesellschaftssystem. Der Kapitalismus werde »mehrheitlich skeptisch oder kritisch betrachtet«, heißt es, »in jüngster Zeit sogar mit deutlich zunehmender Tendenz«. Wesentlicher Grund sind eigene Erfahrungen sozialer Unsicherheit. Die »Grunderfahrung Arbeitslosigkeit«, von der Förster spricht, haben zwei Drittel der Befragten gemacht, 35 Prozent sogar mehrfach. Arbeitslosigkeit, heißt es in der Studie, gehe »wie ein Riss durch die gesamte Population« und präge politische Einstellungen. Jeder vierte Befragte hat Angst vor den Folgen von Hartz IV; sehr hoch ist schon in dieser Altersgruppe auch die Sorge vor Altersarmut. Folglich sehen sich unter den 390 jungen Menschen, von denen 87 im Westen leben, nur 44 Prozent als Gewinner der Einheit; bei den Frauen liegt die Quote gar nur bei 32 Prozent.

Unterschiedliche soziale Absicherung ist, so Förster, wesentlicher Grund für eine fortbestehende »emotionale Verbundenheit mit der DDR« und die »zunehmende Tendenz der Identifikation mit sozialistischen Idealen«. Es gebe zwar keine »ideologische Verklärung« der DDR. In sozialer Hinsicht schneide das untergegangene System aber »von Jahr zu Jahr besser ab«. Zugleich hält die Mehrzahl der Befragten den Sozialismus für eine gute Idee, die nur schlecht verwirklicht wurde; fast die Hälfte plädiert für reformsozialistische Alternativen zum jetzigen System. Viele Teilnehmer der Befragung »wollen den gegenwärtigen Kapitalismus wieder loswerden«, schreibt Förster, der dafür nicht nur eigene schlechte Erfahrungen verantwortlich macht, sondern auch Quellen, die »weit in ihre zu DDR-Zeiten erfahrene Sozialisation zurück reichen«.
In politischem Engagement schlagen sich die negativen Urteile über das jetzige System und die Sympathie für alternative Konzepte freilich nur selten nieder. Die Zahl der jungen Ostdeutschen, die keiner etablierten Partei vertrauen, hat sich der Studie zufolge »drastisch auf drei Viertel erhöht«; die Bereitschaft zu gesellschaftlicher Partizipation »geht gegen Null«. Und auf noch ein »sehr ernstes Signal« weist die Untersuchung hin: Ein Ende des Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen ist womöglich weit entfernt. »Immer weniger der 32-Jährigen«, schreibt Förster, »verbinden ihre Zukunft mit Ostdeutschland.«