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Presse release | Ein längerer Transformationsprozess

Wie könnten die wirtschaftlichen Grundlagen eines demokratischen Sozialismus aussehen? (Dokumentation, Neues Deutschland, 10.11.2006)

Über »Sozialismus im 21. Jahrhundert – Probleme, Perspektiven in Wirtschaft und Gesellschaft« debattieren heute und morgen Wissenschaftler und Politiker aus Deutschland, Großbritannien und Lateinamerika auf einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Bildungsvereins Helle Panke. ND dokumentiert Auszüge aus einem Thesenpapier des Ökonomen Klaus Steinitz.

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Der Realsozialismus in Europa ist nicht deshalb untergegangen, weil der Sozialismus prinzipiell nicht machbar wäre, sondern als Folge der grundlegenden, strukturellen Defizite und Mängel seiner Herausbildung und Entwicklung, die noch durch die ungünstigen äußeren Bedingungen verstärkt wurden. Eine sozialistische Gesellschaft als Alternative zum Kapitalismus bleibt das Ziel der Kämpfe der sozialistischen Linke. Die Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative nimmt weiter zu angesichts der Zuspitzung aller entscheidenden Widersprüche im gegenwärtigen entfesselten Finanzmarktkapitalismus und der Unfähigkeit des Kapitalismus, Wege zu ihrer grundsätzlichen Lösung zu gehen.
Die sozialistische Bewegung steht dabei vor einem Grundproblem: Ein Demokratischer Sozialismus kann nur in und aus der Gesellschaft entstehen, als ein Projekt, das breite gesellschaftliche Unterstützung erhält. Dies ist aber wesentlich davon abhängig, dass es gelingt, Mehrheiten durch überzeugende Darstellung der Vorzüge des Demokratischen Sozialismus, insbesondere bei der Lösung der tiefen sozialen, ökologischen und entwicklungspolitischen Widersprüche von heute zu gewinnen.
Dies ist vor allem aus zwei Gründen schwierig. Einmal wegen des Scheiterns des bisherigen Sozialismusversuchs und der Diskreditierung der sozialistischen Idee in den staatssozialistischen Ländern vor allem durch die Entstellungen des emanzipativen, demokratischen Charakters einer sozialistischen Gesellschaft. Zum anderen wegen der Unmöglichkeit, die Art und Weise der Entstehung und Herausbildung sowie der Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft gegenwärtig konkret vorauszusagen.
Der Versuch, heute ein Modell zu entwerfen, nach dem die Gesellschaft und dabei speziell die Wirtschaft funktionieren soll, muss scheitern. Dazu kann unser heutiges Wissen nicht ausreichen. Viele Fragen werden nur in einem widerspruchsvollen Lernprozess in der Praxis, der den Erfahrungsschatz bereichert und zu neuen Einsichten und Erkenntnissen führt, zu beantworten sein. (...) Es können und sollten jedoch wichtige Elemente einer sozialistischen Alternative ausgearbeitet und öffentlich erörtert werden. Hierzu gibt es in den Diskussionen der Linken international und in der Bundesrepublik viele nützliche, weiterführende und anregende Beiträge. Meines Erachtens könnten diese Elemente in drei Gruppen zusammengefasst werden: (1) Ziele und Werte des Demokratischen Sozialismus, (2) Wege seiner Herausbildung und (3) grundlegende Bedingungen für die Verwirklichung seiner Ziele und Werte sowie Grundzüge seiner Funktionsweise. (...)
Im gültigen Programm der Linkspartei.PDS vom Oktober 2003 wird der Sozialismus als Einheit von Ziel, Weg und Werte charakterisiert: »Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel – eine Gesellschaft, in der die freie Entwitzlung einer und eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist. Sozialismus ist für uns eine Bewegung gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, gegen die patriarchale Unterdrückung, gegen die Ausplünderung der Natur, für die Bewahrung und Entwicklung der menschlichen Kultur, für die Durchsetzung der Menschenrechte, für eine Gesellschaft, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Angelegenheiten demokratisch regeln.
Sozialismus ist für uns ein Wertesystem, in dem die Freiheit, Gleichheit und Solidarität , Emanzipation, Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und Frieden untrennbar miteinander verbunden sind.«
Die Charakterisierung der Ziele einer sozialistischen Gesellschaft bleibt unvollständig, wenn nicht ergänzt wird, dass hierzu auch eine effiziente und rationell organisierte wirtschaftliche Tätigkeit zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und zum Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung gehört. (...)
Für die Wege zur Herausbildung eines Demokratischen Sozialismus sind in Übereinstimmung mit den Erfahrungen des Realsozialismus folgende Grundforderungen besonders wichtig:
(1) Die Herausbildung des Sozialismus nicht im Ergebnis einer gewaltsamen, revolutionären Umwälzung (zumindest in den entwickelten Industriestaaten), sondern als friedlicher längerer Transformationsprozess gestützt auf tiefgreifende Veränderungen in den politischen Kräfteverhältnissen. Hier sind noch viele Fragen offen und Gegenstand von Auseinandersetzungen in der Linken, u.a.: Wie kann der Widerstand des wirtschaftlich und politisch mächtigen Großkapitals, insbesondere der internationalen Finanzmärkte und der global players, gegen sozialistische Reformschritte überwunden werden? Wie sollen die internationale Verflechtung der Wirtschaft, die Globalisierung wichtiger wirtschaftlicher Prozesse sowie die Zugehörigkeit der Länder zu regionalen Wirtschaftsblöcken mit weit in die Nationalstaaten hineinreichenden politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verpflichtungen berücksichtigt werden? Eine sozialistische Alternative wird zumindest in Europa nur im Rahmen eines internationalen, mehrere Länder erfassenden demokratischen Prozesses der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse Chancen haben.
(2) Demokratisch legitimierte, von Mehrheiten unterstützte Schritte müssen in allen Etappen einer sozialistischen Entwicklung Grundlage für sozialistischer Veränderungen sein. »Demokratischer Sozialismus entsteht in der Gesellschaft und aus ihr heraus – oder überhaupt nicht. (...) Er ist ein Prozess, der nur im breiten gesellschaftlichen Diskurs und durch gemeinsames Handeln der Beteiligten Gestalt annehmen kann.« (Programm der PDS 2003) Die Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft, darin eingeschlossen ihrer ökonomischen Grundlagen: sozialistische Eigentumsverhältnisse; eine neuen Art gesellschaftlicher, demokratischer Regulierung der Wirtschaft; qualitative Veränderungen in der Produktions- und Lebensweise – neuer Entwicklungspfad sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit, eine Umorientierung wissenschaftlich-technischer Innovationen auf die Lösung sozialer und umweltpolitischer Probleme, selbstbestimmte, emanzipierte Arbeit, sozial gerechte Verteilungsverhältnisse –, erfolgen nicht mit einem Akt oder mit einigen wenigen Umwälzungen, sondern als schrittweiser, langfristiger Prozess, vor allem als Such- und Lernprozess mit Korrekturen. »Demokratischer Sozialismus ist für viele von uns ein emanzipatorischer und transformatorisches Prozess, der in der heutigen Gesellschaft beginnt und zugleich über sie hinausweist.« (Programmatische Eckpunkte, September 2006)
Die Ergebnisse dieser Such- und Lernprozesse müssen sehr eng mit der Demokratisierung, mit öffentlichen, transparenten Diskussionen und einer sachlichen, kompetenten Auswertung und Weiterentwicklung konkreter Erfahrungen verknüpft werden. Nur eine umfassende Demokratisierung und eine hohe Transparenz der Entscheidungsprozesse kann Fehlentwicklungen, wie sie den bisherigen Sozialismusversuch kennzeichneten, vermeiden bzw. wenn sie auftreten möglichst frühzeitig korrigieren.
(3) Weiterführung der Diskussionen über mögliche Einstiegsprojekte in eine die Grenzen des Kapitalismus überschreitende alternative Gesellschaft. Solche Einstiegsprojekte könnten u.a. sein: der Ausbau und die Erweiterung des Sektors öffentlich geförderter Beschäftigung, Schritte zur Erweiterung des öffentlichen Eigentums, u.a. auf für den notwendigen ökologischen Umbau besonders sensiblen Gebieten (z.B. Energieübertragung), Förderung der Ansätze einer Solidarischen Ökonomie.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik enthält im Artikel 15 Möglichkeiten für die Überführung von Schlüsselbereichen der Wirtschaft in öffentliches Eigentum: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«
Projekte einer Solidarischen Ökonomie könnten in Zukunft, insbesondere in Ländern der Dritten Welt, eine wichtige Rolle im Überlebenskampf spielen, insbesondere als Selbsthilfeprojekte für Menschen in prekären Verhältnissen. Dabei gilt es, ihren ambivalenten Charakter zu beachten. Sie sind einerseits zum großen Teil Formen der Selbstverwaltung, der partizipativen Teilnahme aller Mitglieder an der Regelung der Probleme, des solidarischen Wirtschaftens nach gemeinwirtschaftlichen Prinzipien, der Erhaltung und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Andrerseits sind sie durch den Druck der Massenarbeitslosigkeit als Bestandteile des informellen Sektors häufig auch durch prekäre, wenig emanzipatorische Arbeitsverhältnisse und kaum existenzsichernde Einkommen gekennzeichnet. Die Entfaltung ihrer transformatorischen Potenziale hängt in hohem Grade davon ab, wie es gelingt, sie mit alternativer Wirtschaftspolitik in den Staaten und den regionalen Wirtschaftsblöcken zu verbinden. Die Entwicklung der solidarischer Ökonomie stößt auf zunehmendes öffentliches Interesse, ist aber auch teilweise mit Illusionen über ihre zukünftige gesellschaftliche Rolle und mit einer Flucht aus dem politischen Feld verbunden. (...)
(4) Die Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse durch politische und soziale Bewegungen und Aktionen, die von Menschen getragen werden, die sich zunehmend selbstbestimmt und solidarisch den neoliberalen Entwicklungstrends entgegenstellen und sich für zukunftsfähige Alternativen einsetzen. Vor allem im Kampf gegen die neoliberale Globalisierung und die von ihr abgeleiteten Sachzwänge, durch die gesammelten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse sowie eine verstärkte politische und ökonomische Bildung und Aufklärung über die Grundzusammenhänge des gegenwärtigen Finanzmarkt-Kapitalismus können die sich für sozialistische Alternativen einsetzenden Akteure in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt und auch neue Akteure gewonnen werden.
Eine Bewegung für eine sozialistische Alternative muss die Veränderungen im Typ der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer aufgreifen, auf der einen Seite die stärkere Entfaltung von Subjektivität, Individualität und autonomem Handeln, auf der anderen Seite Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, des ökonomischen Drucks auf die abhängig Beschäftigten und die Zunahme von Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Um ein Mindestmaß an Sicherheit, insbesondere für die Zeit nach der Erwerbstätigkeit zu erreichen, fühlen sich zunehmend mehr Menschen gezwungen, einen Teil ihres Einkommens in Geldanlagen und Vermögenstitel zu verwandeln. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die Interessen und das Bewusstsein von Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmern (die Sicherheit von Vermögensanlagen und der davon abgeleiteten Einkommen spielt eine größere Rolle), die von einer linken, alternativen Politik beachtet werden müssen.