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Presse release | »Wir erleben eine stille Revolution«

Interview mit Pun Ngai (jungle world, 6.12.2006)

Dank extrem niedriger Löhne, katastrophaler Arbeitsbedingungen und einem autoritären staatlichen Regime ist China zur globalen Fabrik aufgestiegen. In Niederlassungen ausländischer Konzerne und in heimischen Unternehmen werden Konsumgüter aller Art für den Weltmarkt hergestellt.

Pun Ngai lehrt Soziologie an der Universität Hongkong, ist Vorsitzende des Chinese Women Working Network und Verfasserin des Buches »Made in China – Women Factory Workers in a Global Workplace«. Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der IG Metall und der Organisation Weed war sie in der vorigen Woche auf einer Vortragsreise in Deutsch­land. Mit ihr sprach Deniz Yücel.


Sie sprechen von einer »neuen Arbeiterklasse« in China. Wodurch ist sie gekennzeichnet, und worin unterscheidet sie sich von der vorigen?

Die Situation der alten Arbeiterklasse, sozusagen der sozialistischen, war allein durch den Staat bestimmt. Die Arbeiter genossen einen privilegierten Status und soziale Leistungen. Die neue Arbeiterklasse hingegen steht in einem unmittelbaren Verhältnis zum Kapital, wobei es sich zumeist um ausländisches Kapital handelt.

Diese neue Arbeiterklasse lebt ständig im Fluss, sie besitzt keine dauerhafte Identität, keinen dauerhaften Status. Die Arbeiter und Arbeiterinnen – in manchen Städten sind 80 Prozent aller Wanderarbeiter Frauen – werden dazu gezwungen, sich von einem Ort zum nächsten zu bewegen. Während ihrer Beschäftigung in einem Betrieb sind sie in Wohnheimen auf dem Fabrikgelände untergebracht. Dieses »Wohnheim-Arbeitsregime«, wie ich es nenne, gewährleistet den permanen­ten Zugriff auf die Arbeitskraft und deren ma­xi­male Ausbeutung. Die Leute arbeiten 12 bis 14 Stunden am Tag, oft gibt es keinen Ruhetag.

Im Alter von etwa 25 Jahren gelten die Arbeiterinnen als verbraucht. Sie verlieren ihre Aufenthaltsgenehmigung für die Städte und werden in ihre Dörfer zurückgeschickt. Der gesamte Produktions- und Reproduktionsprozess wird vom Kapital organisiert und kon­trolliert. Und es gibt keine Institution, die die Interessen der Arbeiter vertritt.

Wie hoch ist die Zahl der Wanderarbeiter?

Schätzungsweise 200 Millionen, von denen die Hälfte in den industriellen Zentren arbei­tet. Die chinesische Gesellschaft erlebt eine gewaltige Transformation, in deren Mittelpunkt die Wanderarbeiter stehen. In der Stadt Shenzhen zum Beispiel, einer Sonderwirtschaftszone, machen sie bis zu 90 Prozent der Bevölkerung aus.

Ist Ihre Kritik nicht zu einseitig? Der chine­sische Staat ist doch an vielen Weltmarkt­fabriken durch Joint Ventures beteiligt.

Der Staat gestattet die Arbeitsmigration, um den Anforderungen des globalen Kapitals und der nationalen Entwicklung gerecht zu werden. Zugleich behindert er die Formierung einer organisierten Arbei­ter­klasse. Die örtlichen Verwaltungen stellen keine Wohnungen, Schulen oder andere soziale Einrichtungen für ihre temporären Einwohner zur Verfügung. In den Städten besitzen die Wanderarbeiter nicht dieselben Rechte wie die anderen Bürger, ihre Familienangehörigen können nur nachzie­hen, wenn sie sich ebenfalls als Wanderarbeiter verdingen.

Gibt es denn Widerstand?

In den industriellen Zentren fast täglich spontane Streiks, obwohl es wegen der dauernden Fluktuation schwierig ist, dass sich die Arbeiter organisieren. Aber die Menschen kämpfen auch in ihren Heimat­dörfern weiter, wenn sie dorthin zurückkehren, protestieren gegen die korrupten Verwaltungen etc. Wir nennen dies die »stille Revolution«, weil in den Medien nicht darüber berichtet wird.

Verändert das Leben in den Städten auch die individuellen Lebensentwürfe?

Natürlich. Je mehr Menschen in den Städten leben, desto mehr verändern sich ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche. Die Wanderarbeiter versuchen, sich zu re­gulären Arbeitern zu entwickeln, denen es möglich ist, an einem bestimmten Ort zu leben und zu arbeiten. Zugleich entwi­ckeln sie sich zu modernen Konsumenten. Auch wenn sie nur umgerechnet zwischen 60 und 80 Euro verdienen und einen Teil ihrer Einkünfte an ihre Familien schicken, bleibt ihnen genug, um sich auf den Straßenmärkten eine Jeans für ein, zwei Euro oder einen Lippenstift für ein paar Cent zu kaufen, um sich mit diesen Dingen ihren Traum von Modernität zu erfüllen. Denn die Globalisierung bedeutet für China den Traum von der Moderne. Gerade die jüngere Generation, die in der Reformperiode geboren wurde, interessiert sich hauptsächlich für den Konsum.

Sie haben selbst zu Forschungs­zwe­cken in Shenzhen gelebt und ein halbes Jahr in einer Elektronikfabrik gearbeitet. Was hat Sie am meisten ­beeindruckt?

Am meisten erschreckt hat mich die Geschichte einer Frau, die jede Nacht im Schlaf lauthals schrie, immer zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens. Sie selbst wusste davon nichts.

Auch wenn ich keine Psychologin, son­dern Soziologin bin, habe ich zu begreifen versucht, warum diese Frau, die in der Fabrik die Produktionsmenge kontrollierte, Nacht für Nacht schrie. In mei­nem Buch beschreibe ich ihre Angst als ein dreifaches Trauma. Diese Frau woll­te in der Stadt leben. Dann wurde ihr ge­sagt, dass sie zu alt sei und die Fabrik sie nicht weiterbeschäftigen werde. Zudem hatte sie eine Affäre mit einem Manager, der sie als Mätresse behalten wollte, was sie aber ablehnte und dadurch unter noch größeren Druck geriet. Diese Frau hatte mit drei Problemen zu kämpfen: der Kampf darum, dort zu leben, wo sie es wollte. Der Kampf gegen ihren Arbeitgeber, der sie entlassen wollte. Der Kampf gegen eine patriarchale Gesellschaft in Gestalt ihres Chefs.

Ist Ihr Buch in China erhältlich? Und kann das Chinese Working Women Network unbehindert arbeiten?

Ich habe das Buch ins Chinesische übersetzt, und dieses Jahr wird es in Hongkong veröffentlicht werden. Das Chinese Working Women Network ist in Hongkong registriert, obwohl wir unsere Projekte auch auf dem chinesischen Festland durchführen. Die ersten acht Jahre nach der Wiederangliederung Hongkongs an China hatten wir mit dem Netzwerk kaum Probleme. In den letzten beiden Jahren hat sich dies allerdings geändert. Seit auf dem Festland mehr Aktivisten tätig sind, bekommt die Regierung Angst vor Unruhen und Arbeitskämpfen.

Deutschen Gewerkschaftern gilt China als Bedrohung für die hiesigen Löhne und Arbeitsbedingungen.

Sicher definiert China durch die dortigen Arbeitsbedingungen und Löhne beim globalen race to the bottom das bottom. Deshalb sollten deutsche und chinesische Arbeiterorganisationen enger zusammenarbeiten. Wenn die Arbeitsbedingungen in China ein wenig verbessert werden, werden sie es letztlich auch in Deutschland. Das Problem ist, dass die chinesischen Arbeiter nicht organisiert sind. Sie müssen sich organisieren und für höhere Löhne und mehr Rechte kämp­fen.

Gegen den Protest vieler ausländischer Konzerne beschloss die chinesische Regierung im Sommer ein neues Arbeitsrecht. Was halten Sie davon?

Schon das vorige Arbeitsgesetz aus dem Jahr 1995 begrenzte den Arbeitstag auf acht Stunden. Theoretisch könnte ein Ar­beiter klagen, wenn gegen diese Bestimmung verstoßen wird. Das Problem ist aber, dass die großen internationalen Kon­zerne die Arbeitsverträge unter Verschluss halten. Nachdem die Arbeiter sie unterschrieben haben, werden ihnen die Verträge abgenommen, ohne dass ihnen eine Kopie ausgehändigt wird. In anderen Bereichen, vor allem in der Bauwirtschaft und bei Haushaltsangestellten, werden erst gar keine Arbeitsverträge ausgestellt. Obwohl es also theoretisch möglich wäre, haben die Arbeiter keine Handhabe, ihre Rechte einzuklagen.


Weitere Informationen: www.pcglobal.org